# taz.de -- Wer ist die Letzte Generation?: Ungehorsam, aber zivil | |
> Die Aktionen der Letzten Generation bekommen gerade viel Aufmerksamkeit. | |
> Wer engagiert sich da – und ist die Gruppe jetzt hierarchisch | |
> organisiert? | |
Lange hatte Lisa Reiche geglaubt: Wenn endlich richtig viele Menschen für | |
mehr Klimaschutz protestieren, dann ändert die Regierung ihre Politik. Dann | |
wird endlich etwas gegen diese Katastrophe getan. Am 20. September 2019, | |
einem Freitag, verliert sie diesen Glauben. | |
Zusammen mit ihren Freundinnen nimmt sie an diesem Tag an der | |
Klimastreik-Demo von Fridays for Future teil, die durch Berlin-Mitte zieht. | |
Sie tanzt zu den Bässen, die von den Lautsprecherwagen dröhnen, und lacht, | |
wenn sie auf einem der Schilder einen witzigen Spruch entdeckt. | |
17 Jahre ist Lisa Reiche damals. Sie freut sich, dass so viele Menschen in | |
ihrem Alter auf dieser Demonstration sind, und so viele, die noch jünger | |
sind als sie. Am Abend scrollt sie auf ihrem Handy durch die Nachrichten: | |
Mehr als 250.000 Menschen allein in Berlin auf der Straße, über 1,4 | |
Millionen in ganz Deutschland. Sie hat das Gefühl, Teil von etwas Großem zu | |
sein. Es ist ein gutes Gefühl. | |
Doch als sie weiter scrollt, erfährt sie auch: Während die Demonstration | |
durch die Straßen zog, verabschiedete der Koalitionsausschuss ein | |
Eckpunktepapier für die deutschen Klimaziele bis 2030. Und egal, welchen | |
Kommentar sie liest, alle sind sich einig: Die beschlossenen Maßnahmen sind | |
nicht ausreichend, zu zaghaft, zu spät. | |
## Geldstrafen werden oft privat getragen | |
„Ich habe mich damals so ohnmächtig gefühlt, so hilflos“, sagt sie heute, | |
wenn sie sich an diesen Tag erinnert. | |
Jetzt, gut drei Jahre später, fühle sie sich nicht mehr ohnmächtig. Sie ist | |
nicht mehr bei Fridays for Future aktiv, sondern Teil der Gruppe, die sich | |
Letzte Generation nennt. Eine Gruppe, die momentan mit ihren Aktionen nicht | |
nur mehr Aufmerksamkeit bekommt als jede andere der Klimabewegung, sondern | |
die auch extrem schnell wächst: Anfang des Jahres bestand die Organisation | |
nach eigenen Angaben aus gerade einmal 30 Aktivist:innen, heute seien es | |
mehr als 700 bundesweit, fast 140 allein in Berlin. | |
Dabei wirkt es nicht besonders attraktiv, bei der Letzten Generation | |
mitzumachen: Früh aufstehen, sich im Berufsverkehr mitten auf die Straße | |
setzen, die Hand mit Sekundenkleber am Asphalt festkleben, sobald die | |
Polizei kommt. Sich beschimpfen lassen, wegtragen lassen, in | |
Polizeigewahrsam gebracht werden, manchmal für Tage, in Bayern auch für | |
Wochen. [1][Am vergangenen Donnerstag blockierten die Aktivst:innen die | |
Start- und Landebahn des Münchner Flughafens], störten auch am Berliner | |
Flughafen den Betrieb. Die Empörung war wieder groß. | |
Die Geldstrafen müssen die Aktivist:innen häufig privat tragen, anders | |
als bei anderen Gruppen, wo dafür Unterstützung organisiert wird. | |
Dazu kommt: Die Letzte Generation ist hierarchischer organisiert, als man | |
es sonst aus sozialen Bewegungen kennt, in denen Basisdemokratie eigentlich | |
groß geschrieben wird. Welche konkreten Forderungen erhoben werden, wann wo | |
welche Aktionen gemacht werden und wie diese medial vermittelt werden, | |
bestimmt das sogenannte Strategieteam, eine Kerngruppe aus einer Handvoll | |
Menschen, auf deren Zusammensetzung der Rest der Gruppe keinen Einfluss | |
hat. | |
Und die Gruppe polarisiert stark: Aus allen Ecken hagelt es Kritik. Da ist | |
ein rechter Mob, der sich unter dem Hashtag „Letzte Degeneration“ über | |
Aussehen und Verhalten der Klima-Aktivist:innen lustig macht und die vielen | |
Kommentare teilt, in denen in Medien von BILD bis FAZ gefordert wird, die | |
„kriminellen Klima-Kleber“ zu verbieten. Da ist auch der grüne | |
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, der die „[2][Radikalisierung der | |
Wenigen]“ verurteilt, oder SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, der den | |
„[3][Absolutismus“ der Gruppe] kritisiert. Selbst in der Umwelt- und | |
Klimabewegung wird heftig über die Letzte Generation gestritten: Nutzen sie | |
der Sache, oder schaden sie ihr? | |
An einem Donnerstagabend im Dezember sitzt Lisa Reiche auf einer Bühne in | |
einem Raum mit rosa Wänden, sie trägt einen grünen Kapuzenpullover und die | |
rötlich gefärbten Haare offen. Reiche hält hier, in einem | |
Nachbarschaftszentrum in Prenzlauer Berg, einen der vielen Vorträge, die | |
die Letzte Generation in ganz Deutschland anbietet. | |
22 Menschen sind gekommen. Das Alter der Besucher:innen reicht von 16 | |
bis Mitte 60, auch sonst ist es eine sehr gemischte Gruppe. Ein Mann mit | |
langen Haaren und Vollbart, der sich in breitem Bayerisch über die Grünen | |
aufregt. Eine junge, schüchtern wirkende Frau, die mit leiser Stimme von | |
ihrer Angst vor der Klimakatastrophe erzählt. Ein Student Mitte 20, dem die | |
Forderungen der Letzten Generation alle nicht weit genug gehen. | |
Die Vorträge sind wichtig für die Gruppe, darüber gewinnt sie neue | |
Mitglieder: Wer möchte, kann am Ende seine Kontaktdaten abgeben und wird zu | |
einem Aktionstraining eingeladen. Wer dort teilgenommen hat, kann bei den | |
Straßenblockaden mitmachen. | |
Gut 20 Minuten spricht Reiche über das Ausmaß der Klimakatastrophe und über | |
die schrecklichen Szenarien, die der Welt drohen. Man merkt, dass sie | |
diesen Vortrag nicht selbst geschrieben hat, manchmal stolpert sie bei | |
schwierigen Stellen, später wird sie die Hände vor dem Gesicht | |
zusammenschlagen und lachen, voll peinlich, die Fehler. | |
Aber für den Verlauf des Abends ist das nicht wichtig. Wichtig ist, dass | |
das Publikum nach dem Vortrag in Kleingruppen aufgeteilt wird, in denen | |
zwei Fragen diskutiert werden: Was fühle ich, nachdem ich das gehört habe? | |
Und: Wie kann ich mich einbringen? | |
Mehr als anderthalb Stunden diskutieren die Besucher:innen miteinander. | |
Sie erzählen sich gegenseitig, wie es ihnen mit der Klimakrise geht, reden | |
über Angst, Verzweiflung, Hoffnung, dazu wird eine Dose mit selbst | |
gebackenen Keksen herumgereicht. Es werden Fragen zur Letzten Generation | |
gestellt, kritische Fragen auch, die Reiche und mehrere andere Mitglieder | |
beantworten. Sie betonen, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, bei | |
der Gruppe mitzumachen. Man muss sich nicht auf die Straße kleben, man kann | |
auch für andere kochen. Am Ende geben fast alle Anwesenden die ausgefüllten | |
Bögen mit ihren Kontaktdaten ab. | |
Lisa Reiche holt gerade ihr Abi nach, sie hat zuerst eine Ausbildung | |
gemacht, wohnt jetzt in einem Hausprojekt und arbeitet als | |
Einzelfallhelferin für Kinder mit Beeinträchtigungen. Sie ist ein Mensch, | |
der starke Empathie für die Schwachen aufbringt, seien es kleine Kinder | |
oder die Bewohner:innen der Teile der Welt, die am stärksten unter den | |
Klimafolgen leiden. | |
Wenn sie über ihre Gefühle spricht, wird ihre Stimme etwas lauter. Sie | |
erzählt davon, wie schrecklich sie sich mit ihren Privilegien fühlt. Die | |
Letzte Generation hilft ihr gegen dieses Gefühl. „Ich hab total Hoffnung, | |
dass es doch noch klappt“, sagt sie. „Weil wir es schaffen, dass alle | |
darüber reden, und weil immer mehr Leute bei uns mitmachen wollen.“ | |
Seit Anfang des Jahres ist Lisa Reiche bei der Letzten Generation dabei. | |
Wenn sie Schulferien hat, klebt sie sich mit auf die Straße, aber sie will | |
vor allem ansprechbar sein für die vielen Neuen, die in die Gruppe kommen. | |
Um die „Bienen“, wie intern die Menschen genannt werden, die an den | |
Aktionen teilnehmen und dafür teils Wochen oder Monate in eine andere Stadt | |
ziehen, kümmern sich die „Gärtnerinnen und Gärtner“, die selbst nicht an | |
Blockaden teilnehmen wollen: Kochen, psychologische Unterstützung | |
organisieren, auch mal eine Auszeit. Fast jeden Abend gibt es in Berlin die | |
Möglichkeit, gemeinsam zu essen, über die letzte Aktion und die nächsten | |
Planungen zu sprechen, aber vor allem, sagt Reiche, darüber, wie man sich | |
fühlt. | |
Gefühle – schlechtes Gewissen, Scham, Angst, Wut, Mitgefühl – sind für | |
viele ein wichtiger Motor, das wird auch in Gesprächen mit weiteren | |
Aktivist:innen deutlich. Viele von ihnen waren vorher bei Fridays for | |
Future oder Extinction Rebellion aktiv, viele haben bereits heftige | |
politische Enttäuschungen hinter sich, obwohl sie noch so jung sind. | |
Theo Schnarr gehört da schon zu den Älteren. Er ist 31 Jahre alt, Doktorand | |
der Biochemie an der Uni Greifswald. Schnarr ist groß, Handballer, er trägt | |
einen Vollbart und spricht mit ruhiger Stimme. „Meine Frau und ich, wir | |
haben bisher ein richtig braves Leben geführt“, sagt er. „Schule, dann das | |
Biochemiestudium, guter Abschluss, jetzt die Doktorarbeit.“ | |
Als Naturwissenschaftler hat er sich schon früh mit dem Klimawandel | |
beschäftigt, aber mit Aktivismus hatte er bis zur Letzten Generation keine | |
Berührungspunkte. Im März ging Schnarr zu einem Vortrag der Gruppe in | |
Greifswald. Vier Wochen später klebt er sich bei den Aktionen der Gruppe in | |
Frankfurt am Main auf die Straße, kommt in Polizeigewahrsam, mehrmals, | |
einmal fünf Tage am Stück. | |
„Nachdem wir den Vortrag gehört hatten, haben meine Frau und ich uns | |
intensiv mit zivilem Ungehorsam auseinandergesetzt“, sagt Schnarr. Sie | |
hätten sich mit den theoretischen Konzepten dahinter beschäftigt, Bücher | |
gelesen, historische Beispiele mit dem verglichen, was die Letzte | |
Generation heute macht. Am Ende seien sie beide zu dem Schluss gekommen, | |
dass die Aktionen der Letzten Generation gerechtfertigt seien, | |
unterstützenswert. Mit seiner Mutter, die im öffentlichen Dienst arbeitet, | |
habe er durchgesprochen, was ein Eintrag im polizeilichen Führungszeugnis | |
für seine beruflichen Aussichten bedeuten könnte. „Aber ich finde es nicht | |
schlimm, wenn ich bei einem Bewerbungsgespräch darauf angesprochen werde, | |
denn ich kann ja gut begründen, warum ich an diesen Aktionen teilnehme.“ | |
Früher, erzählt Schnarr, habe er in seinem Freundeskreis versucht, für das | |
Thema Klimawandel und den eigenen Konsum zu sensibilisieren. „Ich war immer | |
der, der vorgeschlagen hat, beim Grillen auf Fleisch zu verzichten.“ | |
Unzählige Witze habe er sich darüber anhören müssen. Er sagt das ganz | |
nüchtern, ohne Groll, aber mit einer klaren Bilanz: Weiter kam er so nicht. | |
Er, der fast sein ganzes Leben von einer großen Koalition regiert wurde, | |
habe schon gehofft, dass sich mit der Ampelregierung etwas ändere, sagt | |
Schnarr. „Es gibt ja auch ein paar Verbesserungen in anderen Bereichen, | |
aber die Realität der Klimasituation wird einfach nicht anerkannt. Über die | |
Klimaziele wird geredet, als wären das Fußballergebnisse: Tja, nicht | |
geklappt, schade, aber kann man nicht ändern.“ | |
Nur, sind die Aktionen der Letzten Generation die richtige Form, um das zu | |
ändern? Wie sehen das jene, die sich schon länger mit Klimaprotesten | |
beschäftigen? | |
[4][Christoph Bautz] ist ein wichtiger Mann in der deutschen Protestszene, | |
ein Kampagnenprofi. Er baute Attac Deutschland mit auf und gründete 2004 | |
die Nichtregierungsorganisation Campact, die politische Kampagnen zu | |
verschiedenen Themen vorantreibt. Was meint er: Helfen die Aktionen der | |
Letzten Generation oder schaden sie, weil sie so viel Wut und Unverständnis | |
verursachen, sogar bei Menschen, die Klimaschutz eigentlich wichtig finden? | |
Bautz erzählt dazu eine Anekdote: Zur Bundestagswahl 2021 hatte Campact | |
mehr als 5 Millionen Türhänger zum Thema Klimapolitik produziert, die sie | |
vorher an Fokusgruppen testeten. Selbst bei Teilnehmer:innen „aus dem | |
rot-grünen Milieu“ habe es ein klares Ergebnis gegeben: Alle | |
Formulierungen, die die Klimakrise realistisch beschrieben, seien als „zu | |
alarmistisch“ eingestuft worden. „Die Leute waren zwar für moderaten | |
Klimaschutz. Aber wir haben gemerkt: Die Dramatik der Situation ist selbst | |
in diesem Milieu noch nicht angekommen.“ | |
Vor der Letzten Generation habe die Klimabewegung ein Problem gehabt, sagt | |
Bautz: „Da gab es jahrelang ein Mehr vom Selben.“ Fridays for Future habe | |
noch mehr Demonstrationen organisiert, Ende Gelände noch mehr Kohlegruben | |
besetzt. „Aber leider nutzt sich das medial mit der Zeit ab, die | |
Aufmerksamkeit schwindet.“ Erst die Letzte Generation habe es geschafft, | |
wieder wirklich große Aufmerksamkeit für Klimaschutzforderungen zu | |
erzielen. | |
Weder an den inhaltlichen Forderungen noch daran, dass sich die Letzte | |
Generation für zivilen Ungehorsam als Aktionsform entschieden hat, habe er | |
Kritik, sagt Bautz. Ihn beschäftige das Thema Vermittelbarkeit, die Frage, | |
wo die Konfliktlinie gezogen wird: „Wenn sich die Letzte Generation im | |
Berufsverkehr auf die Straße klebt, dann gibt es einen Konflikt mit weiten | |
Teilen der Bevölkerung.“ Sich etwa vor das Verkehrsministerium oder die | |
Parteizentrale der Grünen zu kleben, sagt Bautz, sei aus seiner Sicht der | |
bessere Weg: „Das macht klar, dass der Konflikt nicht innerhalb der | |
Bevölkerung verläuft, sondern zwischen Bevölkerung und Regierung.“ | |
Während die Letzte Generation in der Klimabewegung am Anfang eher belächelt | |
wurde, haben die heftigen Angriffe auf die Gruppe einen | |
Solidarisierungseffekt erzeugt. Christoph Bautz verurteilt diese Angriffe | |
scharf, spricht von „Kampagnencharakter“ und davon, dass es darum gehe, die | |
gesamte Bewegung zu diskreditieren. | |
Bei Greenpeace sieht man das ähnlich. Greenpeace-Geschäftsführer [5][Martin | |
Kaiser] sagt über die Angriffe auf die Letzte Generation: „Das ist eine | |
Ablenkungsdebatte, die geführt wird, um nicht über die eigenen Versäumnisse | |
sprechen zu müssen.“ Er teile die Anliegen der Letzten Generation: „Was mir | |
fehlt, ist eine Reaktion der Ampelregierung, die sagt: Ja, die Gruppe hat | |
einen Punkt, wir müssen jetzt dringend handeln, bevor es zu spät ist.“ | |
Doch auch Kaiser macht einen Unterschied deutlich: „Greenpeace war und ist | |
bekannt für spektakuläre und wirkungsvolle Aktionen des zivilen | |
Ungehorsams, die immer am Ort des Geschehens stattfinden.“ Im Berliner | |
Regierungsviertel demonstrieren, das Verkehrsministerium blockieren, die | |
Kohlegrube besetzen: So läuft Protest normalerweise. Die Letzte Generation | |
verfolgt eine andere Strategie, weil sie eine andere Vorstellung davon hat, | |
wie Veränderung funktioniert. | |
„Uns geht es darum, permanent den Druck oben zu halten, konstruktive | |
gesellschaftliche Spannung zu erzeugen“, sagt Carla Rochel, eine der | |
Sprecher:innen der Organisation. Dass die Forderungen der Gruppe – ein | |
Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung, Tempolimit, 9-Euro-Ticket – viel | |
weniger radikal sind als die Aktionsform, ist eine bewusste Strategie. | |
Der Gedanke: Je stärker die Störung ist, die die Gruppe erzeugt, und je | |
umsetzbarer ihre Forderungen sind, desto weniger verständlich ist es für | |
die Bevölkerung, warum die Regierung die Forderungen nicht einfach erfüllt. | |
Die Gruppe habe auch andere Protestformen ausprobiert, als sich im | |
Berufsverkehr auf die Straße zu kleben, sagt Rochel. „Im Frühling haben wir | |
Protestaktionen an Pipelines gemacht – es hat kaum jemanden interessiert.“ | |
Ähnlich sieht es Theo Schnarr: „Mir macht das keinen Spaß, da auf der | |
Straße zu sitzen und mich beschimpfen zu lassen, geschlagen zu werden“, | |
sagt er. „Aber die Aufmerksamkeit, die wir jetzt bekommen, die für | |
Veränderung notwendige gesellschaftliche Spannung, würden wir niemals | |
kriegen, wenn wir uns stattdessen vor ein Ministerium setzen.“ | |
Aber ist jede Aufmerksamkeit gute Aufmerksamkeit? | |
„Natürlich fühlt es sich skurril an, gefühlt das zwanzigste Interview dazu | |
zu geben, welche Art von Sekundenkleber wir benutzen“, sagt [6][Carla | |
Rochel]. „Aber es ist ja nun auch nicht so, dass die, die sich jetzt über | |
unsere Aktionsformen empören, vorher die ganze Zeit über die Klimakrise | |
geredet hätten.“ Dass in deutschen Wohnzimmern gerade so viel über die | |
Letzte Generation diskutiert wird, findet sie gut: „Wenn es darum geht, ob | |
das, was wir machen, legitim ist, geht es ja immer auch darum, ob das | |
Ausmaß der Klimakrise diesen Protest rechtfertigt. Dann wird endlich über | |
dieses Ausmaß gesprochen.“ | |
Die aktuelle Debatte über die Letzte Generation zeigt auch, wie schnell das | |
öffentliche Gedächtnis vergisst. Messerscharf wird gerade in vielen | |
Artikeln eine Linie gezogen: Das ist guter Protest, das ist schlechter | |
Protest. | |
Die Letzte Generation steht auf der Seite des schlechten Protests, andere | |
Gruppen werden in das andere Feld einsortiert, etwa Fridays for Future. Wie | |
erbittert noch vor wenigen Jahren, als die Organisation neu war, darüber | |
diskutiert wurde, ob es legitim ist, dass Schüler:innen für das Klima | |
die Schule schwänzen: Vergessen. So wie vergessen ist, welchen Anfeindungen | |
die Anti-AKW-Bewegung jahrzehntelang ausgesetzt war. | |
Straßenblockaden als Protestform sind nicht neu, neu ist die Intensität und | |
Ausdauer, mit der die Letzte Generation sie betreibt. Bei der Wahl der | |
Blockadeorte zielen sie darauf ab, so viel Störung wie möglich zu erzeugen. | |
Betrachtet man das Verhältnis der Anzahl der Aktivist:innen, die dafür | |
benötigt werden, und die Aufmerksamkeit, die sie bekommen, ist das Ergebnis | |
ein extrem effizienter Ressourceneinsatz. | |
Diese Effizienz hat ihren Preis: Wer bei der Letzten Generation mitmacht, | |
hat wenig Mitspracherecht. Jeden Sonntag, erzählen die Aktivist:innen, gibt | |
es eine Videokonferenz, an der alle Aktivist:innen teilnehmen können | |
und in der das Strategieteam vorstellt, was als Nächstes geplant ist. Der | |
Rest der Gruppe kann dazu Fragen stellen und Feedback geben, aber was mit | |
diesem Feedback passiert, entscheidet das Strategieteam. | |
„Ich bin froh, dass es Menschen gibt, die sich den ganzen Tag Zeit nehmen, | |
um über die nächsten Schritte zu beraten“, sagt Lisa Reiche. „Es gibt imm… | |
die Frage: Setzt du auf Effektivität oder auf möglichst flache | |
Hierarchien?“, sagt Theo Schnarr. Ihm ist Effektivität gerade wichtiger. | |
„Wir tun alles für eine gute Feedback-Kultur“, sagt Carla Rochel, die zum | |
Strategieteam gehört. „Aber wir haben leider bei anderen Organisationen | |
gesehen, dass Basisdemokratie zu viel Zeit braucht, die wir nicht haben.“ | |
Die Strategie der Letzten Generation ist avantgardistisch, auch wenn sie | |
Forderungen hat, hinter denen Mehrheiten stehen. Es geht um Druck. Es geht | |
nicht darum, Mehrheiten zu gewinnen, weil die Gruppe überzeugt ist, dass es | |
diese längst gibt. Was ihre konkreten Forderungen angeht – 9-Euro-Ticket, | |
Tempolimit – stimmt das. In Bezug auf die tiefgreifenden Veränderungen, die | |
notwendig wären, um die Klimakrise zu bekämpfen, ist es mit den Mehrheiten | |
nicht ganz so einfach. | |
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, politischen Erfolg zu bemessen. Dass | |
die Demonstrationen von Fridays for Future oder die Massenaktionen von Ende | |
Gelände nichts bewirken, wie es bei der Letzten Generation heißt, greift zu | |
kurz. Klar ist: Gerade schafft es die Letzte Generation besser, Spannung zu | |
erzeugen. Sie ist erfolgreich, das macht sie attraktiv. | |
Das sehen auch andere: „Uns ist wichtig, an basisdemokratischen Strukturen | |
festzuhalten und auf die Systemfrage aufmerksam zu machen, aber natürlich | |
diskutieren wir über unsere Aktionsformen, wenn wir sehen, mit wie wenig | |
Menschen es der Letzten Generation gerade gelingt, so viel Aufmerksamkeit | |
zu bekommen“, sagt eine Sprecherin von Ende Gelände der taz. Auch bei | |
Fridays For Future heißt es, dass in der Gruppe über Aktionsformen | |
diskutiert werde. | |
Bisher galt: Wer politisch etwas verändern möchte, braucht einen langen | |
Atem. Wenn nächstes Jahr die drei letzten deutschen Atomkraftwerke | |
abgeschaltet werden, sind mehr als 50 Jahre seit den ersten | |
Anti-AKW-Protesten vergangen. Was die Letzte Generation gerade versucht, | |
ist, eine Abkürzung zu finden. Wenn das nicht klappt, hat sie ein Problem: | |
Kaum vorstellbar, dass sie die aktuelle Intensität ihrer Blockaden über | |
Jahre aufrecht erhalten kann. | |
Und selbst wenn das gelänge, kämen auch hier die erbarmungslosen | |
Mechanismen öffentlicher Aufmerksamkeit zum Tragen, für die ein Mehr vom | |
Selben nicht funktioniert. Vielleicht findet das Strategieteam auch auf | |
diese Herausforderung eine Antwort. Vielleicht hat es sich bis dahin längst | |
gespalten. Vielleicht hat sich die Gruppe weiter radikalisiert. | |
Doch das sind Zukunftsfragen. Für Lisa Reiche und Theo Schnarr sind gerade | |
andere Themen wichtig. Reiche will nächstes Jahr ihr Abi machen, gerade | |
überlegt sie, ob sie danach anfängt zu studieren oder jeden Tag bei der | |
Letzten Generation mitmacht. Sie tendiert zu Zweiterem. | |
Und Theo Schnarr fragt sich, ob er für die Aktionen der Gruppe auch richtig | |
ins Gefängnis gehen würde. Davor habe er Bammel, sagt er. Aber er habe auch | |
das Gefühl, sich in so einer Situation auf seine sozialen Beziehungen | |
verlassen zu können. Es klingt, als sei dieser Schritt für ihn nicht | |
ausgeschlossen. | |
10 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Letzte-Generation-in-Muenchen-und-Berlin/!5902038 | |
[2] https://www.berliner-zeitung.de/news/habeck-protest-der-letzten-generation-… | |
[3] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/kevin-kuehnert-verurteilt-absolu… | |
[4] https://www.campact.de/campact/ueber-campact/vorstand/ | |
[5] https://twitter.com/martinkaisergp?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7… | |
[6] https://mobile.twitter.com/rochel_carla | |
## AUTOREN | |
Malene Gürgen | |
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