Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ein Jahr Ampel-Koalition: Die Kalküle des Kanzlers
> Die Ampel hat auf den Angriffskrieg Wladimir Putins klug reagiert. Ihre
> Europapolitik ist jedoch ein Rückfall in rüden nationalen Egoismus.
Bild: Ein Jahr Ampel-Koaliton im Bund – alles nicht so bunt hier
Man kann ein Jahr Ampel-Regierung, ihre Erfolge und Fehler, in drei Bildern
fixieren. Zweimal sehen wir Olaf Scholz, einmal Emmanuel Macron. Diese
Szenen markieren mal Entschlossenheit und Weitblick, mal Kurzsichtigkeit
und Egoismus. Den ersten Auftritt hat der Kanzler drei Tage nach Putins
Überfall auf die Ukraine. Die [1][Zeitenwende-Rede] von Scholz war ein
Coup. Selbst die SPD-Fraktion stand überrumpelt vor vollendeten Tatsachen.
Die Ansage war: Deutschland unterstützt die umfassendsten Sanktionen, die
es je gab, liefert Waffen an Kiew und bricht mit dem Verbot, Waffen in
Kriegsgebiete zu liefern. Und: Die Bundeswehr wird mit 100 Milliarden Euro
aufgerüstet. Das war ein geschickter Schachzug. Noch drei Wochen zuvor
hatte die SPD [2][Nord Stream 2] sowie die Sonderbeziehungen zu Moskau
eisern verteidigt. Paris und Washington bemängelten schon lange den
schmalen deutschen Militäretat.
Außenpolitisch verschaffte die Zeitenwende-Rede das, was die Ampel
unbedingt brauchte – Luft. Innenpolitisch deklarierten Scholz und FDP-Chef
Christian Lindner die 100 Milliarden als Nebenhaushalt. Das war ein
Taschenspielertrick – aber effektiv. Mit der wackeligen Behauptung, dieses
Sondervermögen müsse unbedingt im Grundgesetz verankert werden, wozu es
eine Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag brauchte, hievte man die Union mit
ins Boot und rettete zudem den Frieden in der Koalition.
Die Aufrüstung der Bundeswehr aus den laufenden Haushalten zu zahlen, hätte
zu einem Ringkampf mit Finanzminister Lindner geführt, dem die
Schuldenbremse heilig ist. Die Gelder für Sozialreformen und
Klimainvestitionen wären knapp geworden, die SPD-Linken rebellisch und die
Grünen schlecht gelaunt. Das Urteil wird kritischer ausfallen, wenn die
Reform des Beschaffungswesens misslingt und das Geld versickert.
## Effektive Machtpolitik
Doch ohne die trickreiche Zeitenwende wäre die Regierung außen- und
innenpolitisch bewegungsunfähig gewesen und vermutlich früh gescheitert.
Die Zeitenwende ist ein Beispiel für effektive Machtpolitik. Sie zeigt, wie
man sich aus einer defensiven, bedrängten Lage befreien kann: mit einem
Überraschungsmoment und Risikobereitschaft, mit Tempo und einer gehörigen
Prise Arroganz.
Ebenso überraschend wie die trommelwirbelhafte Zeitenwende war, was dann
geschah: nicht so viel. Scholz hielt keine zackigen Kriegsreden, war
[3][bei Waffenlieferungen vorsichti]g und betrieb das schlagzeilenarme
Geschäft, „blockfreie“ Länder zu umwerben, die weder zum Westen noch zu d…
autoritären Achse Moskau–Peking gehören. Die Botschaft war: So viele
Sanktionen und Diplomatie wie möglich, so viel Militär und Waffen wie
nötig. Alle Aufrufe, mehr schwere Waffen zu liefern, ließ der Kanzler an
sich abperlen.
## Die USA liefern die meisten Waffen
Im Rückblick erscheint dieser Streit unbedeutender, als viele glaubten. Das
Gros der Waffen kommt aus den USA. Deutschland liefert Waffen, weniger als
Großbritannien und viel mehr als Frankreich und Italien. Als Scholz im
Spätsommer bei einem Fototermin seine Hand vertraulich auf einen Panzer
legte, war das eine Art Schlussbild.
Das Kalkül des Kanzlers folgte einem innenpolitischen und einem
außenpolitischen Motiv. Die Mehrheit der Deutschen ist nicht stramm für
mehr Waffenlieferungen. Fast 70 Prozent der Deutschen sind gegen eine
militärische Führungsrolle in Europa. Gegenüber dem Grünen Anton Hofreiter
und CDU-Chef Friedrich Merz wirkte Scholz bedächtig und für Skeptiker
vertrauenerweckend.
Hätte die Ampel unisono so geredet wie die FDP-Politikerin [4][Marie-Agnes
Strack-Zimmermann], wäre eine Repräsentationslücke entstanden. Der Streit
der Ampel über Waffenlieferungen, der als Schwäche erschien, war im Grunde
das Gegenteil: ein wirksames Mittel, den Widerstand gegen die Zumutungen
der Sanktionen und das deutsche Engagement für die Ukraine einzuhegen.
Die militärische Zurückhaltung hatte auch eine außenpolitische Botschaft:
Berlin meidet Alleingänge und spielt weiter die Rolle als Soft Power. Der
24. Februar hat Europa verwandelt. Die russische Bedrohung wird Osteuropa
mehr an den Westen binden. Deutschland wird für Osteuropa wichtiger – und
umgekehrt. Das kann die Tektonik der EU verändern. Berlin wächst durch die
Mittellage Macht zu – eine Rolle, die im 20. Jahrhundert eine Bedingung der
deutsche Katastrophengeschichte war.
## Besondere Besonnenheit erforderlich
Deutschlands Rolle – zu klein, um Europa zu beherrschen, und zu groß, um
ein Spieler unter anderen zu sein – erfordert besondere Besonnenheit. Die
Vorsicht bei Waffenlieferungen, die [5][in Osteuropa hart kritisiert]
wurde, sollte auch den Anschein vermeiden, dass Deutschland Europa
wirtschaftlich, politisch, auch noch militärisch dominieren kann.
Aber das ist nicht das ganze Tableau. Das dritte Bild zeigt [6][Emmanuel
Macron im Oktober] auf dem EU-Gipfel in Brüssel. Freundlich lächelnd
kritisiert er, dass sich Deutschland in Europa isoliere. Das sei nicht gut.
Die EU müsse erhalten bleiben „und Deutschland dazugehören“. Es passiert
nicht oft, dass der französische Präsident – indirekt, aber doch deutlich �…
vor einem EU-Austritt Deutschlands warnt. Dexit? Wie das?
Im Koalitionsvertrag der Ampel kommt Europa fast auf jeder Seite vor. „Als
größter Mitgliedstaat werden wir unsere besondere Verantwortung in einem
dienenden Verständnis für die EU als Ganzes wahrnehmen“, heißt es dort
feierlich. Die Realität sieht anders aus. Scholz hat im
deutsch-französischen Verhältnis für einen Temperatursturz gesorgt. In
seiner [7][Europa-Rede in Prag] wurde die Beziehung zu Paris mit keinem
Wort erwähnt.
Manche EU-Staaten – auch Frankreich – wollen Schulden machen, um die Krise
abzufedern. Scholz trat als Wiedergänger von Altkanzlerin Angela Merkel
auf: Monsieur Non. Dann flog der Kanzler ohne Macron nach China. In der EU
hörten viele die Botschaft: Deutschland first, Europa second. Die Liste ist
noch länger.
## Vorrang für nationale Wirtschaft
Das sind keine diplomatischen Ungeschicklichkeiten, die in Krisen halt
passieren. Berlin setzt in der EU brachial eigene wirtschaftliche
Interessen durch. Das Kalkül des Kanzlers, erst die deutsche Industrie,
dann der Rest, erkennt man in Rom und Paris, in Warschau und Tallinn. Der
Tropfen, der das Fass schließlich zum Überlaufen brachte, war der
[8][„Doppel-Wumms“], mit dem Scholz ohne jede Absprache in Brüssel und
Paris die heimische Wählerschaft und Industrie beglückte.
Das 200-Milliarden-Paket sollte ein Befreiungsschlag sein – aus einer
Falle, die die Ampel selbst mitgebaut hatte. Seit dem 24. Februar war
absehbar, dass das russische Gas versiegen würde. Die Ampel vergeudete viel
Zeit mit der Gasumlage, um acht Monate später hektisch im nationalen
Alleingang einen teuren Gaspreisdeckel zu präsentieren. Die Wut in Europa
auf Berlin ist nachvollziehbar. Die EU-Kommission schlug im März gemeinsame
Gasankäufe vor, Berlin winkte ab.
Und gegen Deutschland, die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, geht in
der EU nichts. Der solvente Exportweltmeister Deutschland konnte sich
dieses Nein leisten, weil er alle Konkurrenten auf der Jagd nach Gas
überbieten kann. Dabei war Deutschland mit seiner extremen Abhängigkeit von
russischem Gas ein wesentlicher Treiber der Krise. Das allein wäre ein
ausreichender Grund gewesen, in der EU nicht so egoman aufzutreten.
All das ist kein Zufall, sondern Ergebnis des Wirtschaftsmodells
Deutschland. Der Politikwissenschaftler Martin Höpner schreibt in [9][einer
scharfen Kritik des deutschen Exportnationalismus]: „Eine gute Außenpolitik
bedeutete für Deutschland: billige Energieversorgung sicherstellen
(Russland); die Märkte für die deutschen Ausfuhren erschließen und
offenhalten (China); dafür sorgen, dass das Ausland ohne Murren die eigenen
Leistungsbilanz- und Sparüberschüsse absorbiert (weltweit).“
## Enttäuschende Europapolitik
Dieses Modell ist wegen Russland und China nun in einer doppelten Krise. Um
so vehementer scheint man die Exportweltmeisterschaft zu verteidigen. Dafür
braucht die deutsche Industrie billiges Gas – und die Ampel zahlt.
Wahrscheinlich stand keine deutsche Regierung seit Kohl 1989/90 unter
derartigem Entscheidungsdruck wie die Ampel. Trotzdem: Die Europapolitik
ist die größte Enttäuschung des ersten Ampeljahres. Auch weil man anderes
erwarten konnte.
Die betont EU-freundlichen Grünen halten mit dem Außen – und
Wirtschaftsministerium Schlüsselpositionen. Scholz hat als Finanzminister
in Koproduktion mit Frankreich 2021 das viel gelobte 750-Milliarden-Euro
Paket geschnürt, das man als Schritt zu einer EU-Finanzpolitik verstehen
konnte. Doch für die Ampel gilt nun: Not kennt kein Gebot. In der Krise
fällt Deutschland in schlechten Merkelismus zurück.
Merkel hat die EU oft benutzt, um kurzfristig deutsche
Wirtschaftsinteressen durchzusetzen. Scholz bringt die deutsche Macht in
der EU genauso rücksichtslos zur Geltung. Diese Arroganz kann sich rächen.
Erinnert sei an die Hochnäsigkeit, mit der Deutschland 2011 Flüchtlinge auf
dem Mittelmeer zu einem italienischen Problem erklärte – und im
Flüchtlingsherbst 2015 bitter über den [10][Mangel an Solidarität in der
EU] klagte.
Die Inszenierung der Zeitenwende war ein gekonnt improvisierter Reflex, der
Verantwortungsbereitschaft signalisierte. Die Vorsicht bei
Waffenlieferungen, die Skrupel beim Militärischen waren auch Gesten
deutscher Machtbeschränkung. Das Management der Energiekrise wirkt wie das
Gegenteil – hektisch, planlos und mit einer nationalistischen Textur. Dabei
hat der russische Angriffskrieg doch gezeigt, wie fragil die globale
Ordnung ist.
Und wie wichtig eine stabile EU ist, die global machtvoll für eine auf
Recht basierte Weltordnung eintritt. So wirkt die Idee, dass Deutschland
die neue Führungsmacht in der EU werden soll, für die SPD-Chef Lars
Klingbeil wirbt, bestenfalls naiv, schlimmstenfalls gefährlich. Vielleicht
ist sie nur Ausdruck der Verwirrung der SPD, die, nachdem sie sich
profitable Deals mit Putin als Wandel durch Handel schöngeredet hat,
verzweifelt nach neuen Ideen sucht.
Wenn die Ampel in Europa führen will, sollte sie das dialektisch angehen:
Führen heißt dienen. Macht heißt in diesem Fall Machtverzicht. Wenn
Deutschland der EU nutzen will, muss es seine aggressive ökonomische
Politik aufgeben, die Interessen der deutschen Industrie kleiner und
praktische Solidarität größer schreiben. Und damit wirklichen Fortschritt
wagen.
4 Dec 2022
## LINKS
[1] /Aufruestung-in-Deutschland/!5838517
[2] /Umstrittene-Pipeline-Nord-Stream-2/!5816965
[3] /Scholz-und-Waffenlieferungen/!5854797
[4] /Waffenlieferungen-an-die-Ukraine/!5829064
[5] /Botschafter-der-Ukraine-in-Deutschland/!5847679
[6] /Zwist-vor-EU-Gipfel/!5889759
[7] /Europa-Rede-von-Bundeskanzler-Scholz/!5877472
[8] /Entlastungspaket-der-Bundesregierung/!5882339
[9] https://www.merkur-zeitschrift.de/2022/12/01/europa-kolumne-ein-lehrstueck-…
[10] /Kommentar-Neue-Willkommenskultur/!5226893
## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
Schwerpunkt Emmanuel Macron
Ampel-Koalition
Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
GNS
Militärausgaben
Olaf Scholz
Sozialdemokraten
Emmanuel Macron
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Klimawandel
Rolf Mützenich
Einwanderung
Olaf Scholz
Gas
## ARTIKEL ZUM THEMA
SPD-Fraktionschef über Ukrainekrieg: „Wir dürfen uns nicht damit abfinden“
Diplomatie werde in Deutschland reflexhaft unter Verdacht gestellt,
kritisiert Rolf Mützenich. Ein Gespräch über eigene Fehler und Hoffnung für
die Ukraine
CO2-Abgabe für Einfuhren: EU einigt sich auf Klimazoll
EU-Staaten haben sich auf einen CO2-Zoll für importierte Produkte wie
Zement und Stahl geeinigt. Das könnte zu Konflikten mit Handelspartnern
führen.
Bilanz nach einem Jahr Ampel: Auf Harmonie getrimmt
Nach einem Jahr Ampel ziehen die Fraktionschef*innen Bilanz. Der Ton
ist pragmatischer geworden. Dennoch sind sich alle einig: Läuft super.
Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes: Schon wieder Ärger in der Ampel
SPD und Grüne wollen eine einfachere Einbürgerung. Die FDP schießt quer,
der Kanzler wirbt für den Doppelpass.
Haushaltsdebatte im Bundestag: Scholz verteidigt seinen Kurs
Der Bundestag diskutiert den Haushalt. Unions-Fraktionschef Merz greift den
Kanzler scharf an, der hält dagegen. Die Generaldebatte im Livestream.
Milliardenpaket gegen die Gaskrise: Falsches Signal an Europa
Der „Doppelwumms“ ist nötig, darf aber nicht auf Deutschland beschränkt
bleiben. Die Bundesregierung muss sich für eine europäische Lösung
einsetzen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.