# taz.de -- SPD-Fraktionschef über Ukrainekrieg: „Wir dürfen uns nicht dami… | |
> Diplomatie werde in Deutschland reflexhaft unter Verdacht gestellt, | |
> kritisiert Rolf Mützenich. Ein Gespräch über eigene Fehler und Hoffnung | |
> für die Ukraine | |
Bild: Rolf Mützenich, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion | |
wochentaz: Herr Mützenich, war 2022 das schlimmste Jahr, das Sie je erlebt | |
haben? | |
Rolf Mützenich: Ja, der Beginn und der Verlauf des größten Landkriegs in | |
Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war für mich eine folgenschwere | |
Ernüchterung. Ich hatte nicht vermutet, dass sich Menschen das hier noch | |
gegenseitig antun. | |
Haben Sie befürchtet, dass der Krieg zu einer direkten Konfrontation | |
zwischen Russland und der Nato eskaliert? | |
Das tue ich jeden Tag. Das sehe ich nicht nur im Rückblick, das fürchte ich | |
auch für die Zukunft. Wir wissen nicht, wie Präsident Putin den Fortgang | |
dieses Krieges plant. Die Kämpfe um das größte [1][Atomkraftwerk der | |
Ukraine] etwa bergen enorme Eskalationsrisiken. Es gehört zur Eigendynamik | |
von Kriegen, dass die Kontrolle über Konflikte entgleiten kann. | |
Die frühere CDU-Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat am | |
24. Februar gesagt: „Ich bin so wütend auf uns, weil wir historisch versagt | |
haben. Wir haben nach Georgien, Krim, Donbass nichts vorbereitet, was Putin | |
wirklich abgeschreckt hätte.“ Hat sie recht? | |
Nein. Es gab und gibt atomare Abschreckung. Zur Nukleardoktrin der USA | |
gehört der Ersteinsatz von Atomwaffen. Die atomare Abschreckung, hohe | |
Rüstungsausgaben oder die einseitige Kündigung von Verträgen der | |
Rüstungskontrolle haben Putin nicht abgeschreckt, den Krieg zu beginnen. | |
Hat Deutschland nichts falsch gemacht? Die deutsche Abhängigkeit von | |
russischem Gas ist seit der Annexion der Krim 2014 noch gestiegen. | |
Ich sehe im Rückblick natürlich Fehler, auch bei der Energiepolitik. Aber | |
zu einer konstruktiven Debatte gehört mehr. Nach dem Ende des Kalten | |
Krieges waren manche geradezu besoffen von dem vermeintlichen Sieg des | |
Westens. Und glaubten, auf Regeln, die während des Kalten Krieges | |
geherrscht haben, verzichten zu können. | |
Sie sprechen von den Kriegen in Afghanistan, Irak, Libyen? | |
Ja, diese Kriege – und generell gab und gibt es zu wenig Mühe auch in | |
westlichen Staaten, die Interessen anderer Länder mit zu bedenken. Den | |
Preis dafür zahlen wir heute. Es gibt eine Reihe von Regierungen, die sich | |
in der [2][UN-Generalversammlung bei der Abstimmung] enthalten haben, | |
obwohl sie den Angriffskrieg Russlands verurteilen. Deren Motive betreffen | |
auch das Verhalten des Westens in der Vergangenheit. | |
Sie haben im Bundestag eine Karte in die Luft gehalten, die zeigte, dass | |
Staaten, welche die Hälfte der Weltbevölkerung vertreten, sich in der | |
UN-Versammlung enthalten haben. Darunter China, Indien, Pakistan, | |
Südafrika, Senegal. Was folgt daraus? | |
Es wäre falsch gewesen, diese Länder für diese Enthaltung öffentlich massiv | |
anzugreifen oder moralisch zu verurteilen. Der Bundeskanzler hat die | |
richtige Konsequenz gezogen und einige dieser aufstrebenden Staaten zum | |
G7-Gipfel eingeladen. Scholz hat versucht, die Perspektive dieser Länder zu | |
verstehen und sie für eine konstruktive Haltung im Krieg gegen die Ukraine | |
zu gewinnen. Diese Politik hat Früchte getragen. Das war beim G20-Gipfel in | |
Indonesien und auch beim Besuch in Peking zu beobachten. | |
War das nur Gipfelsymbolik oder ein wirklicher Erfolg? | |
Man kann in der internationalen Politik nicht wie in einem Laborversuch | |
Ergebnisse fixieren. Es geht um Prozesse. Ich finde es beachtlich, dass | |
Bundeskanzler [3][Scholz in Peking] drei Stunden mit Präsident Xi in | |
verschiedenen Formaten gesprochen hat und dass am Ende die Verurteilung des | |
Einsatzes von Nuklearwaffen im Mittelpunkt der chinesischen Äußerungen | |
standen. Das Gleiche hat sich in Indonesien beim G20-Gipfel wiederholt, der | |
die Drohung mit Atomwaffen für unzulässig erklärt hat. Präsident Putin ist | |
isoliert. Das ist ein ermutigendes Zeichen. Der Bundeskanzler hat diesen | |
Kurs seit März innerhalb der Bundesregierung verfolgt. Man kann geradezu | |
von einer Scholz-Doktrin sprechen. | |
Im Januar, fünf Wochen vor dem russischen Angriff, haben Sie der taz | |
gesagt: „Wir brauchen perspektivisch eine europäische Friedensordnung unter | |
Einschluss Russlands, auch wenn dies derzeit noch illusorisch erscheint.“ | |
War dieser Satz ein Fehler? | |
Nein, aber unter den Gegebenheiten aussichtslos. Mir war damals schon klar, | |
dass dies eine sehr langfristige Perspektive ist. Egon Bahr hat mit Blick | |
auf die internationale Ordnung und die Landkarte festgestellt: Die USA sind | |
für Deutschland unverzichtbar, Russland ist unverrückbar. Das ist noch | |
immer richtig. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, für immer mit Russland | |
im Krieg zu leben. Aber die Voraussetzung ist jetzt eine andere. In Moskau | |
regiert weiterhin ein Kriegsverbrecher. | |
Muss Putin in Den Haag angeklagt werden? | |
Die internationale Strafgerichtsbarkeit wird gegen Präsident Putin nicht so | |
vorgehen können, wie ich es mir wünsche. Ich kenne die Zwänge und | |
Voraussetzungen einer solchen Strafverfolgung. Umso wichtiger ist, dass wir | |
die Strafgerichtsbarkeit stärken und den Angriffskrieg zu einer | |
international akzeptierten Straftat machen. | |
Sie haben im Mai gesagt, dass ein schneller Waffenstillstand nötig ist. Die | |
Ukraine hat im September große Gebiete zurückerobert. War Ihre Forderung | |
falsch? | |
Nein. Wer die Zivilbevölkerung schützen und die Verheerungen dieses Krieges | |
stoppen will, muss einen Waffenstillstand für ein erstrebenswertes Ziel | |
halten. Ich verstehe natürlich, dass die Ukraine Gebiete zurückerobern | |
will, und ich unterstütze die Integrität der Ukraine uneingeschränkt. | |
Dennoch müssen die Voraussetzungen für einen Waffenstillstand erarbeitet | |
werden. | |
Frank-Walter Steinmeier lehnt einen baldigen Waffenstillstand ab, weil | |
damit „der russische Landraub abgesegnet“ würde. Das folgt der Logik: Erst | |
wenn die Ukraine mehr Gebiete zurück erobert hat, ist ein Waffenstillstand | |
sinnvoll. | |
Meine Auffassung ist: Wir werden weiterhin für die Integrität der Ukraine | |
eintreten und dieses Ziel auch mit Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung | |
unterstützen. Aber ich hoffe, dass die Kriegsparteien sich gleichzeitig | |
über Maßnahmen verständigen, um diesen Krieg weniger grausam zu machen. Ich | |
hoffe, dass die zahllosen toten russischen Soldaten in Russland ein | |
Umdenken auslösen. Ich wünsche mir zudem, dass in Russland die Einsicht | |
wächst, dass dieser Krieg ein Verbrechen und ein kolossaler Fehler ist. Gut | |
wäre es, wenn lokale Waffenruhen verabredet würden, später könnte es dann | |
zu einem landesweiten Waffenstillstand kommen. Kriege werden selten auf dem | |
Schlachtfeld entschieden. | |
Putin hat indirekt Verhandlungsbereitschaft signalisiert. Ist es sinnvoll, | |
in Gesprächen auszuloten, ob das mehr als Propaganda ist? | |
Zwei Antworten. Diplomatie gilt in Deutschland derzeit als eine Art | |
Nichtbegriff und wird reflexhaft abgelehnt. Dabei wird übersehen, dass | |
Diplomatie nicht bedeutet, mit Putin bedingungslos oder gar über die Köpfe | |
der Ukraine hinweg zu verhandeln. Diplomatie heißt auszuloten, ob es | |
Möglichkeiten für Verhandlungen geben kann und die Voraussetzungen dafür zu | |
schaffen. In den USA wird über diese Fragen selbstverständlich debattiert. | |
Präsident Biden hält die Kontakte nach Moskau und hat nicht den Willen, sie | |
abzubrechen. In Deutschland scheint dagegen Diplomatie unter | |
Generalverdacht zu stehen. Zweitens: Deutschland kommt dabei derzeit keine | |
entscheidende Rolle zu. Deswegen ist es klug, dass der Bundeskanzler auf | |
Länder einwirkt, die stärkeren Einfluss auf Russland haben könnten. | |
Agieren die USA in diesem Konflikt rational? | |
Wir können mehr als erleichtert sein, dass wir es mit Präsident Biden zu | |
tun haben. Die Regierung Biden achtet darauf, nicht direkter | |
Kriegsteilnehmer zu werden, und wägt bei Waffenlieferungen an Kiew und dem | |
Versuch, Kontakt mit Moskau zu halten, ab. Die USA verfolgen natürlich auch | |
nationale Interessen. Der Hauptfokus liegt dabei auf dem Wettbewerb mit | |
China. Der Ukrainekrieg wird in Washington in diesen Rahmen eingeordnet. | |
Als die Rakete in Polen einschlug … | |
… hat sich gezeigt, wie froh wir sein können, dass Präsident Biden besonnen | |
reagiert hat. Er hat seine Erkenntnis, dass es sich nicht um eine russische | |
Rakete handelte, sofort mit der Öffentlichkeit geteilt. In Deutschland | |
hingegen gab es Politiker, die vorschnell andere Schlussfolgerungen in die | |
Öffentlichkeit posaunten … | |
… wie die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. | |
Das war schon überraschend und unverantwortlich. | |
Die Ukraine hat sich militärisch effektiv verteidigt. Ist das die größte | |
Überraschung dieses Krieges? | |
Mich überrascht, wie groß der Widerstandswille der gesamten Ukraine ist. | |
Dass die Ukraine nach der Besetzung der Krim ihre Streitkräfte neu | |
aufgestellt und ausgerüstet hat, konnte man wissen. Auch dass manche | |
Verlautbarungen über die Stärke russischer Streitkräfte übertrieben waren. | |
Was hoffen Sie für 2023? | |
Dass dieser Krieg so schnell wie möglich endet. | |
25 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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