# taz.de -- Porträt Anton Hofreiter: Er erfindet sich neu | |
> Vor einem Jahr war der Grüne Hofreiter der große Verlierer der neuen | |
> Ampelkoalition. Dann begann der Krieg in der Ukraine. | |
Bild: Forderte früh Waffen für die Ukraine: Anton Hofreiter | |
Als Anton Hofreiter zum Jahresende Bilanz zieht, trifft er eine erfreuliche | |
und eine niederschmetternde Feststellung. Die erfreuliche zuerst: „Mir als | |
Person geht es gut.“ | |
Hätte anders kommen können. Vor zwölf Monaten war Hofreiter die tragische | |
Figur der Ampel. Jetzt aber, an seinem vorletzten Arbeitstag des Jahres, | |
als er im Bundestag zum Gespräch empfängt, macht er einen aufgeräumten | |
Eindruck. Alleine stehen lassen will er den Satz trotzdem nicht. | |
Er fügt ein „aber“ an und es folgt der niederschmetternde Teil: „Die | |
Weltlage ist nicht schön und man kann die Sorge haben, dass das nächste | |
Jahr noch schlimmer wird.“ Damit ist er schon wieder bei seinem neuen | |
großen Thema: Er befürchtet, dass Russland keines seiner Kriegsziele | |
aufgegeben hat, einen neuen Angriff auf Kiew plant und zuschlägt, sobald | |
die neuen Rekruten ausgebildet sind – falls nicht vorher genug [1][Waffen | |
an die Ukraine geliefert werden]. | |
Man sollte immer mit dem Schlimmsten rechnen: Das, sagt Hofreiter, hat er | |
in diesem Jahr gelernt. Nicht noch mal soll ihn etwas so überraschen wie | |
der russische Angriff am 24. Februar, den er so großflächig, an drei | |
Fronten, nicht erwartet hatte; der im Großen die Weltlage und das Leben von | |
Millionen Ukrainer*innen durcheinandergewirbelt hat, im Kleinen aber | |
auch seine Pläne. | |
## Bis zum 24. Februar | |
Im Januar sieht es für den Oberbayern nach einem ruhigen Jahr aus. Er ist | |
neu in seinem Job als Vorsitzender des Europa-Ausschusses, der in der | |
Hierarchie des Bundestags nicht weit oben steht. Ein beschauliches 2022: | |
Vielleicht wäre das für Hofreiter auch nicht schlecht nach acht Jahren als | |
Fraktionschef und der Enttäuschung bei der Regierungsbildung. | |
Verkehrsminister oder Landwirtschaftsminister, beide Ämter waren nach der | |
Bundestagswahl in Reichweite – bevor Robert Habeck in letzter Minute | |
[2][den Realo Cem Özdemir als Minister durchsetzte]. Für Hofreiter ging es | |
statt nach oben in die dritte Reihe. | |
Bis zum 24. Februar. „Die anderen Sachen waren erst mal völlig | |
weggeblasen“, sagt er über die Zeit nach Kriegsbeginn. Innerhalb weniger | |
Wochen entsteht in der Öffentlichkeit ein neues Bild von Anton Hofreiter. | |
Schnell ist der 52-Jährige ein Symbol, der Inbegriff der neuen Grünen, die | |
von allen Parteien am leidenschaftlichsten für Militärhilfe werben. | |
Es ist eine Rolle, die Hofreiter für die Medien wieder interessant macht. | |
Auf die Aufmerksamkeit, die ihm als Fraktionschef sicher war, muss er jetzt | |
nicht verzichten. Als Maßstab kann man die Nachrichtenagentur dpa nehmen: | |
In 190 ihrer Meldungen kommt Hofreiter in diesem Jahr vor, nur 30 weniger | |
als im Vorjahr. | |
Man sollte aber nicht glauben, dass ihn das Verlangen nach Aufmerksamkeit | |
so eifrig nach Panzern rufen lässt. Zumindest ist es das nicht allein. Es | |
ist kein Zufall, dass es bei den Grünen kaum Kontroversen über die | |
Waffenlieferungen gibt. Die Partei hat sich über Jahrzehnte ans | |
Militärische rangerobbt, Hofreiter war die ganze Zeit dabei. | |
Als Vorsitzender des Kreisverbands München-Land nahm er 1999 am Parteitag | |
zum Kosovokrieg teil. Er stimmte für den Antrag des Vorstands, der es der | |
Bundeswehr erlaubte, weitere Angriffe zu fliegen. Später erlebte er in den | |
langen Oppositionsjahren in Berlin, wie die Grünen Kriterien für | |
Militäreinsätze erarbeiteten, denen sie zustimmen würden. | |
Das ist der Hintergrund, vor dem man Anton Hofreiters Neuerfindung | |
betrachten muss. Allerdings: Als besonders stürmisch fiel Hofreiter in all | |
diesen Debatten nie auf, auch intern nicht. Was kam also dieses Jahr dazu? | |
Vieles hat mit seinem Ausschuss zu tun. Wer im Bundestag für die | |
Europapolitik zuständig ist, hat naturgemäß viel mit Vertreter*innen | |
anderer EU-Staaten zu tun. „Es weitet den Blick“, sagt Hofreiter über den | |
Austausch mit ihnen. „Dann fällt einem auf, dass Deutschland ein ähnliches | |
Problem hat wie die USA: Wegen der eigenen Größe und Bedeutung | |
berücksichtigt man die internationalen Debatten zu wenig und die nationalen | |
zu stark.“ | |
Manches hat man dann früher auf dem Schirm als andere. Der russische | |
Truppenaufmarsch beschäftigt Fachpolitiker*innen schon Wochen vor dem | |
Krieg. Am Abend des 23. Februar ist klar, dass es ernst wird. Hofreiter | |
erzählt, dass er sich den Wecker damals extra früh stellt. Um 5 Uhr liest | |
er in den Eilmeldungen, dass der Angriff massiver ausfällt, als er beim | |
Schlafengehen erwartet hat. Als sich wenige Stunden später die | |
Grünen-Fraktion zu einer Videokonferenz trifft, fordert er schon Waffen. So | |
weit sind noch nicht alle Abgeordneten. Ab jetzt ist Hofreiter oft vorne | |
dran. | |
Auch mit den Reisen. Als einer der ersten Bundespolitiker fährt er im April | |
in die Ukraine. Im November folgt eine zweite Reise. In Kiew steht ein | |
Abendessen mit befreiten Kriegsgefangenen auf dem Programm. Einer erzählt, | |
wie er im Gefecht einen Arm verlor, in die Hände der Russen geriet und | |
gefoltert wurde. „Ich habe danach nichts mehr runterbekommen“, sagt | |
Hofreiter. | |
Natürlich nimmt er von solchen Reisen auch mit, welche Waffen sich die | |
Ukrainer wünschen. In Deutschland hat er sich Expert*innen gesucht, die | |
er bei militärischen Fachfragen anruft. Hofreiter stürzt sich gern in | |
Fakten – früher bei der Biodiversität, jetzt eben bei den Panzern. | |
Eigentlich eine gute Angewohnheit. Es kann aber befremdlich wirken, wenn | |
Hofreiter jetzt Waffengattungen runterrattert, statt bedrohte Tierarten. | |
Er lerne so was nicht gern, beteuert Hofreiter. „Man sollte das als | |
Ausschussvorsitzender nicht wissen müssen“, sagt er. „Traurigerweise muss | |
man es aber doch, weil einem aus der Regierung immer wieder Argumente | |
vorgehalten werden, die sich als falsch herausstellen, wenn man sie | |
überprüft.“ | |
Man kommt dann schnell zu Olaf Scholz, mit dem sich Hofreiter in diesem | |
Jahr kein einziges Mal persönlich getroffen hat, der aber doch zu seinem | |
Antagonisten wurde. Sein Verhältnis zum Kanzler stand von Anfang an unter | |
einem schlechten Stern. 2019 verhandelten Winfried Kretschmann und | |
Hofreiter vor einer Bundesratssitzung mal mit Scholz über den CO2-Preis. | |
Die FAZ schrieb, der damalige Finanzminister habe ein Konzept der beiden | |
demonstrativ in den Müll geschmissen. Hofreiters Erinnerung weicht nur im | |
Detail ab: Das Papier sei unterm Tisch gelandet. | |
Dabei haben die beiden Männer eines gemeinsam: Immer mit dem Schlimmsten zu | |
rechnen, ist in der Ukraine-Politik auch zu einer Prämisse des Kanzlers | |
geworden. | |
Bei Scholz ist das Schlimmste ein Atomschlag der Russen. Er will das nicht | |
provozieren. Damit begründet der Kanzler, warum er der Ukraine keine | |
Kampfpanzer gewährt. Bei Hofreiter dagegen ist ein Atomschlag kaum | |
vorstellbar, zu gravierend wären die Folgen für Russland selbst. Das | |
Schlimmste ist für ihn ein russischer Sieg und ein neuer Krieg an anderer | |
Stelle. Folgt man dem Gedanken, dürfte man bei Kampfpanzern noch nicht mal | |
aufhören. Es sind zwei konträre Perspektiven, und aus jeder wirkt die | |
andere brandgefährlich. | |
In einem Punkt nimmt sich Hofreiter inzwischen zurück. Er mosert zwar | |
gelegentlich weiter über den Kanzler und dessen EU-Politik. „Wenn man in | |
Europa unterwegs ist, merkt man, dass es da einfach an Gespür für die | |
anderen Länder mangelt“, sagt er zum Beispiel. Er geht Scholz aber seltener | |
so frontal an wie noch im April. „Das Problem ist im Kanzleramt“, sagt er | |
damals in einem RTL-Interview. | |
Spitzen-Grüne lassen in den Tagen danach kaum eine Gelegenheit aus, sich | |
von Hofreiter zu distanzieren. Er hat gegen einen Grundsatz verstoßen, mit | |
dem die Grünen gut gefahren waren und den sie jetzt gerne auf die Koalition | |
ausdehnen würden: Konflikte intern austragen, nach außen geschlossen | |
auftreten. Nur hat Anton Hofreiter darauf keine Lust mehr. Als | |
Fraktionschef musste er lange genug Rücksicht nehmen. Minister durfte er | |
trotzdem nicht werden. Also redet er jetzt offener – was die Partei nicht | |
mehr gewohnt ist. „Wenige reden noch gut über ihn“, schreibt der Spiegel im | |
Sommer. | |
Am Jahresende hat sich das gelegt. Die Grünen haben in der Zwischenzeit | |
festgestellt, dass in der Ampel gar nicht alle so nett über sie reden, wie | |
sie über die Ampel. Hofreiter ist nicht mehr der Einzige, der gelegentlich | |
zurückschlägt. Auf der anderen Seite hat er eben einen halben Gang | |
zurückgeschaltet. Er sagt nicht, dass er es übertrieben hat. Er sagt, dass | |
im Bundestag das Maximum erreicht sei, seitdem die Abgeordneten Ende April | |
für die Lieferung schwerer Waffen stimmten. | |
Auf jeden Fall ist er heute nicht der Paria der Grünen. Trifft man als | |
Reporter auf den Fluren des Bundestags zufällig den Grünen-Vorsitzenden | |
Omid Nouripour, wenn man gerade auf dem Weg zum Gespräch mit Hofreiter ist, | |
weiß der bei der Ankunft ein paar Minuten später schon, was man den | |
Parteichef gefragt hat („Wird der noch mal was?“) und was der Parteichef | |
geantwortet hat (leider vertraulich). | |
Die Frage ist nicht abwegig. 2023 müssen die Grünen ihre | |
Spitzenkandidat*innen für die Europawahl bestimmen. 2024 dürfen sie | |
vielleicht einen EU-Kommissar bestimmen. Hat Hofreiter Interesse? Hätte er | |
den nötigen Rückhalt? Hofreiter will nicht den Eindruck erwecken, dass ihn | |
solche Fragen sonderlich beschäftigen. Zu seinen Chancen sagt er nur: „Man | |
wird schauen, was die Zeit bringt.“ Auch das vergangene Jahr sei ja anders | |
verlaufen, als man dachte. | |
30 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
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