# taz.de -- Ein Jahr Ampel-Kanzler: „Etwas lauter bitte, Olaf“ | |
> Auch nach einem Jahr im Amt bleibt Olaf Scholz für viele schwer greifbar. | |
> Das öffentliche Urteil ist verhalten, Koalitionspartner aber sind | |
> zufrieden. | |
Bild: Regieren, um wieder gewählt zu werden: Olaf Scholz am Kabinettstisch, am… | |
Wer bei mir Führung bestellt, muss wissen, dass er sie dann auch bekommt“, | |
hat Olaf Scholz der taz mal in einem Interview gesagt. Und hinzugefügt: | |
„Das geht natürlich nicht im Alleingang.“ Das war im November 2009 nach | |
seiner Wiederwahl zum Vorsitzenden der Hamburger SPD. Scholz’ Drohung hatte | |
damals einen Adressaten – die von Intrigen ruinierte Hamburger | |
Sozialdemokratie. Scholz war der Mann, der aufräumen musste. Nüchtern, | |
pragmatisch, auch autoritär. | |
12 Jahre später, am 8. Dezember 2021, wählte der Bundestag Scholz zum | |
Kanzler. Der Satz wird seitdem viel zitiert, Scholz wird an ihm gemessen. | |
Er soll das Land durch die Zeitenwende führen, als Kanzler der ersten | |
Dreierkoalition auf Bundesebene mit SPD, Grünen und FDP. Er soll den | |
Aufbruch wagen und in der Krise den Status quo sichern. Eine Gratwanderung. | |
Wie macht er das? | |
Wir haben mit Kolleg:innen aus der Ampelkoalition und mit Menschen | |
gesprochen, die ihn lange auf seinem politischen Weg begleitet haben. | |
Entstanden ist das Bild eines Mannes, der für alles einen Plan zu haben | |
scheint, aber nicht allen verrät, welchen. Der trotz Dauerpräsenz in der | |
Öffentlichkeit schwer greifbar bleibt. Der arrogant auftreten kann, der | |
aber auch zuhört und Fragen stellt. Der stur sein kann bis zur | |
Halsstarrigkeit. | |
„Er ähnelt in manchem Wolfgang Schäuble. Herr Schäuble weiß auch alles | |
immer ganz genau“, sagt jemand, der mit Scholz am Kabinettstisch sitzt. | |
## Erst Stamokap, dann Law and Order | |
Scholz kann jedenfalls ebenso herablassend wie Schäuble sein. Als eine | |
Journalistin den Kanzler im Sommer fragt, ob er konkretisieren könne, wie | |
die deutschen Sicherheitsgarantien für die Ukraine aussehen, sagt Scholz | |
nur: „Ja, könnte ich.“ Schweigt. „Das war’s.“ | |
Wie Schäuble blickt Scholz auf eine lange Dienstzeit als Politiker zurück: | |
Vom ultralinken Stamokap-Flügel der SPD kommend, hat er sich zum | |
Law-and-Order-Innensenator und Ersten Bürgermeister in Hamburg entwickelt, | |
hat erfolglos versucht, SPD-Vorsitzender zu werden, und es dennoch zum | |
vierten SPD-Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik gebracht. | |
Vom Menschen Scholz ist wenig bekannt. Er hat zwei jüngere Brüder – der | |
eine Arzt, der andere in der IT-Branche –, lernte seine Frau Britta Ernst | |
in den 80ern bei den Jusos kennen. Sie sei die Liebe seines Lebens. Er | |
kocht gern Königsberger Klopse, rudert und joggt in seiner Freizeit. Er | |
versteht sich ganz gut mit Markus Söder, der ihn mal zurechtgewiesen hat, | |
er solle nicht so schlumpfig grinsen. Überhaupt mag Scholz Schlümpfe, weil | |
sie klein, verschmitzt und clever sind und am Ende immer gewinnen. | |
Das alles hat Scholz der Bunten sechs Wochen vor der Bundestagswahl gesagt. | |
Als SPD-Kanzlerkandidat gehört so ein Interview wohl zum Pflichtprogramm. | |
Jedenfalls hat er nach der Wahl nie wieder ein ähnliches gegeben und | |
reagiert auch sonst auf persönliche Fragen ablehnend. Beim Bürgertreffen im | |
Sommer, ein Jahr später in Magdeburg, möchte die Moderatorin wissen, was | |
der Kanzler als Kind werden wollte. Den meisten PolitikerInnen würde jetzt | |
schon etwas einfallen, das sie in freundlichem Licht zeigt. Scholz sagt: | |
„Ich bin 64 Jahre. Ich weiß es nicht mehr.“ | |
Angela Merkel machte ihre Biografie lange fast unsichtbar, weil sie | |
glaubte, als ostdeutsche Frau Widerstand zu mobilisieren. Auch Scholz wirkt | |
ungreifbar. Aber aus einem anderen Grund. Er fremdelt mit Menschen. Ihm | |
fliegen die Sympathien auch nicht zu. Er hat nicht die Fähigkeit, Fremdes | |
durch Offenherzigkeit in Vertrautes, Distanzen in Nähe zu verwandeln. Sein | |
Humor ist mitunter schrullig, viele verstehen ihn nicht. Lars Haider, | |
Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, hat 2021 eine Biografie über den | |
Kanzler geschrieben. Sein Eindruck: „Scholz ist ein zutiefst schüchterner, | |
sehr zurückhaltender Mensch.“ | |
## Machtpolitischer Malus | |
Das ist machtpolitisch ein Malus. Denn mit Charmeoffensiven kann man | |
Vertrauen erneuern, Konflikte besänftigen. Das ist nicht Scholz’ Stärke. | |
Die Hamburger Grünen sind gebrannte Kinder. Die Scholz-SPD schrammte 2015 | |
knapp an der absoluten Mehrheit vorbei und brauchte die Grünen als | |
Juniorpartner, um das Rathaus zu halten. Die Zweite Bürgermeisterin der | |
Grünen, Katharina Fegebank, erinnert sich an Scholz als „harten | |
Verhandler“. „Er hat den Anspruch, der Platzhirsch zu sein, Gespräche auch | |
dominieren zu wollen und relativ wenig Spielraum zu lassen“, sagte Fegebank | |
2021 der Deutschen Presseagentur. Charmant klingt das nicht. | |
Doch in der Ampel herrschen heute andere Verhältnisse. Die SPD gewann die | |
Bundestagswahl nicht mit 46, sondern mit 26 Prozent. Die Grünen sind | |
Konkurrent und Partner zugleich, die FDP hat erstmals seit Jahrzehnten | |
wieder ins linke Lager gewechselt und will umsorgt sein. | |
Christian Dürr ist seit einem Jahr Fraktionschef der FDP im Bundestag. Als | |
solchem steht ihm ein geräumiges Büro zu, das selbst mit Fahnenhalter samt | |
Europafahne nicht überladen wirkt. Nach Scholz’ Führungsstil gefragt, | |
antwortet Dürr wie aus der Pistole geschossen: „Gut.“ Pause. Dürr beugt | |
sich vor, bekräftigt: „Er macht das menschlich echt gut.“ Man könne sich | |
auf sein Wort verlassen. | |
Das Lob für den Kanzler mutet seltsam an. Schließlich ist die FDP die | |
Partei, die bislang überhaupt nicht von der Koalition profitiert. Vier | |
Landtagswahlen gingen seit dem Regierungsantritt schief. Und dennoch ist | |
Dürr enthusiastisch. Er redet sich fast in Ekstase: Der Kanzler habe echt | |
„Bock“, etwas zu wagen, sei anders als Merkel ein Reformer, habe „Drive�… | |
## Keine Frage nach der Vermögenssteuer | |
Die Grünen sind dem Kanzler gegenüber skeptischer. Katharina Dröge, ist | |
eine von zwei Grünen-Fraktionsvorsitzenden. Augenhöhe, ja doch, sagt sie. | |
„Das kann man so sagen. Eine harte Koch-Kellner-Regierung wie in Hamburg | |
haben wir hier nicht, würden wir auch nicht mitmachen.“ | |
Aber für den Geschmack der Grünen lässt Scholz der FDP viel zu viel Raum, | |
gerade in finanzpolitischen Fragen stehe er zu oft an Christian Lindners | |
Seite. | |
Rückfrage bei Christian Dürr. Hat Scholz in den Koalitionsrunden schon mal | |
die Vermögenssteuer erwähnt? Steht schließlich so im SPD-Wahlprogramm. Ist | |
in diesen Zeiten, in den der Staat 300 Milliarden an Schulden für die | |
Krisenbekämpfung aufnimmt, auch keine ganz abwegige Idee. „Nein, daran | |
erinnere ich mich nicht. Schließlich haben wir uns als Koalition darauf | |
geeinigt, die Steuern nicht zu erhöhen“, sagt Dürr. | |
Möglicherweise ist Scholz’ Zurückhaltung aber auch ein Signal an die | |
gebeutelte FDP: Ich respektiere Eure Grenzen. | |
„Olaf Scholz hatte schon immer eine sehr gute Art, die Dinge | |
zusammenzuführen“, sagt Sarah Ryglewski. Die Abgeordnete ist im Kanzleramt | |
Staatsministerin für Bund-Länder-Koordination und Nachhaltigkeit. Scholz | |
holte die SPD-Linke 2019 zunächst ins Finanzministerium, zwei Jahre später | |
folgte sie ihm ins Kanzleramt. Von Top-Down und Kontrollwahn, der Scholz | |
aus Hamburger Zeiten nachgesagt wird, kann Ryglewski nicht berichten. Im | |
Gegenteil: Scholz lasse seinen Leuten viele Freiräume – so lange alles | |
funktioniere. | |
## Das große Ganze im Blick | |
Näher kennengelernt hat sie Olaf 2017, als sie Mitglied der | |
Antragskommission wurde, die Scholz damals schon seit über einem Jahrzehnt | |
leitete. Die Kommission hat eine Schlüsselrolle für eine Programmpartei wie | |
die SPD, vor Parteitagen sichtet sie Hunderte von Anträgen, vom Unterbezirk | |
Wandsbeck bis zum Landesverband NRW, und entscheidet, was am Ende | |
abgestimmt wird. „Er hatte immer Verständnis dafür, dass jeder | |
Landesverband seinen Punkt braucht, und hatte dabei das große Ganze im | |
Blick“, lobt Ryglewski ihren Chef. | |
Die Erfahrungen aus der Antragskommission überträgt Scholz auf die | |
Ampelkoalition – jede der drei sehr unterschiedlichen Parteien braucht mal | |
einen Punkt, mit dem sie glänzen kann. Die FDP kann sich für den Tankrabatt | |
und den Abbau der kalten Progression auf die Schultern klopfen, die SPD | |
feiert den Abschied von Hartz IV und die Grünen das 49-Euro-Ticket und den | |
Ausbau der Erneuerbaren Energien. Gleich zu Beginn hat seiner Amtszeit hat | |
Scholz dem Spiegel gesagt: „Man muss als Koalition mit dem Anspruch | |
antreten, bei den nächsten Wahlen wiedergewählt zu werden.“ | |
Frank Stauss, Politikerberater, der für SPD erfolgreiche Wahlkämpfe | |
inszeniert hat, sagt, Scholz führe als Kanzler „nicht plakativ, nicht | |
lautstark, nicht auf Effekt gerichtet“. Ebenso wie er auch als Arbeits- und | |
Finanzminister und Vizekanzler gearbeitet habe. „Er ist Realist und kann | |
genau einschätzen, was politisch geht und was nicht.“ | |
Macht durch Moderation hieß schon bei Merkel das Schlüsselwort. Scholz | |
ergänzt diesen Stil durch offenere Kommunikation. Er hat allen | |
Minister:innen gleich zu Beginn der Amtszeit das Du angeboten. Jeden | |
Mittwoch morgens um 9 Uhr trifft sich das Kabinett. Es gibt keine | |
Tagesordnung. Die MinisterInnen dürfen sich bei der zweistündigen Debatte | |
nicht von StaatssekretärInnen vertreten lassen. Mit Ausnahme von | |
Außenministerin Annalena Baerbock, die viel reist. | |
Diese Runde – vor der amtlichen Kabinettssitzung um 11 Uhr – hat etwas von | |
einer Schulstunde. Der Kanzler redet leise. Meist fordert der grüne | |
Landwirtschaftsminister Cem Özdemir als erster in der Runde „Etwas lauter, | |
Olaf“. Scholz redet dann etwas lauter, um seine Stimme bald wieder | |
herunterzupegeln. Wie ein Lehrer, der für Konzentration im Klassenzimmer | |
sorgen will. | |
## Stress erkennen und befrieden | |
Scholz hört sich reihum an, was die Ampel-Ministerinnen auf dem Herzen | |
haben, wo Krach droht. Konflikte, etwa zwischen Umwelt und | |
Verkehrsministerium, sollen auf den Tisch. Das Ziel: Stress früh erkennen | |
und befrieden. Der Kanzler frage viel nach, ordne ein, kommentiere und | |
mahne mal eine Entscheidung an. Er macht, so Kulturstaatsministerin Claudia | |
Roth „sanfte, aber klare Ansagen“. Und tritt dabei, so Roth, „nie autorit… | |
auf“. | |
Roth ist mittlerweile seit über zwei Dekaden im Parlament. Sie kennt die | |
Zeiten noch, als die SPD den Koch und die Grünen den Kellner spielten | |
sollten. „Das ist anders geworden“, sagt sie. Scholz, den sie fast ebenso | |
lange im politischen Geschäft kennt, sei „sehr rational“ und „unfassbar | |
resistent gegen Angriffe“. | |
Das Kabinett ist zufrieden mit dem neuen Format, der sozialdemokratische | |
Teil euphorischer als der Rest. Ein Wundermittel ist es aber nicht. Wenn | |
sich richtig harte Konflikte anbahnen, komme das um 9 Uhr nicht immer zur | |
Sprache, so eine Ministerin. | |
Doch im Laufe dieses Jahres wird auch deutlich, wie begrenzt Scholz’ | |
Steuerungsmöglichkeiten und wie groß die Fliehkräfte in der Ampel sind. | |
Da ist der erste Versuch, die hohen Gaspreise in den Griff zu bekommen. Die | |
Lösung aus dem von Robert Habeck geführten Wirtschaftsministerium: eine | |
Gasumlage, um die Extrakosten der Großversorger abzupuffern. Auch im | |
Kanzleramt ist man von dieser Lösung überzeugt. Scholz unterbricht extra | |
seinen Sommerurlaub im Allgäu und verkündet für seine Verhältnisse gut | |
gebräunt Ende Juli, dass der Bund beim Großversorger Uniper einsteige, dass | |
aber auch die Verbraucher:innen ihren Teil beitragen müssen. Das | |
könnten bis zu 300 Euro für eine vierköpfige Familie im Jahr sein. Andere | |
Länder deckeln die Energiepreise längst. | |
## Erratischer „Doppel-Wumms“ | |
Zwei Monate später, am 29. September, wird Scholz – wesentlich fahler im | |
Gesicht nach überstandener Corona-Erkrankung – aus der Wohnung im | |
Kanzleramt das Aus der Gasumlage verkünden. Stattdessen kommt der | |
„Doppel-Wumms“. Für jemanden, der stets behauptet, eigentlich alles schon | |
immer vorausgesehen zu haben, wirkt die Scholz’sche Krisenpolitik manchmal | |
erstaunlich erratisch. | |
Er kann aber auch autoritär. Als es im Oktober um den Weiterbetrieb von | |
drei Atomkraftwerken geht, können sich Grüne und FDP nicht einigen. Scholz | |
zückt die Richtlinienkompetenz. In einem knappen Brief weist er die | |
zuständigen Minister:innen an, alles in die Wege zu leiten, damit drei | |
Meiler bis längstens Mitte April am Netz bleiben können. | |
Viele Kommentator:innen legen ihm diesen Griff zum schärfsten | |
Machtmittel eines Kanzlers als Schwäche aus. Nach nicht mal einem Jahr | |
Kanzlerschaft. Merkel hatte in 16 Jahren nur einmal damit gedroht. | |
Doch Scholz wirkt im Nachgang zufrieden mit sich. Er habe da mal einen | |
Brief geschrieben, erzählt er bei Gelegenheit, wenn die Mikrofone aus sind. | |
Selbst wenn er breitbeinig auftritt, tut er das leise. | |
Was Scholz selbst über eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke dachte, | |
sei lange nicht klar gewesen, monieren manche Grüne. Warum? Weil in | |
Niedersachsen gerade Wahlkampf war, vermutet man in Parteikreisen. Und für | |
die SPD, die Stephan Weil als Ministerpräsidenten durchkriegen wollte, | |
passte die Rolle der Erwachsenen, die im Streit zwischen Halbwüchsigen | |
vermittelt. Manchen Grünen ärgert diese Selbstinszenierung der SPD. Scholz | |
lasse Dinge manchmal gern laufen, weil es ihm machtpolitisch in den Kram | |
passe, heißt es. | |
## Entscheidung in Rekordzeit | |
Christian Dürr verteidigt den Kanzler in der Causa. „Die Verlängerung der | |
Laufzeit hat Scholz doch in Rekordzeit entschieden“, sagt Dürr. Jedenfalls | |
im Vergleich zu Merkel, die alle Konflikte ausgesessen habe. | |
Doch aussitzen, das geht nicht mehr. Denn die eine Krise, die weitere nach | |
sich zieht, bestimmt seit dem 24. Februar das politische Handeln. Eine | |
„Zeitenwende“ wird Scholz dazu sagen, am Sonntag nach dem russischen | |
Überfall im eilig zusammengetretenen Bundestag. | |
Das restliche Europa schließt sich fester zusammen, blickt zunehmend | |
fordernder auf Deutschland. Die größte Volkswirtschaft soll eine | |
Führungsrolle übernehmen, auch militärisch. | |
Scholz fremdelt anfangs mit dieser neuen Rolle. Es wirkt, als müsse er erst | |
Tritt fassen auf internationalem Parkett, als sei ihm die Bürde der neuen | |
Verantwortung unheimlich. Als er Mitte Februar zum Antrittsbesuch in Kyjiw | |
die Gangway des Regierungsfliegers Schritt für Schritt herabsteigt, auf den | |
ausgerollten roten Teppich zu und sich, Halt suchend, am Revers seines | |
Mantels greifend, hat Scholz eine Reihe von Ideen im Gepäck, wie man das | |
nie umgesetzte Minsker Abkommen wiederbeleben kann. Aber kein Angebot für | |
Waffenlieferungen, obwohl Russland seine Truppen rund um die Ukraine | |
bereits zusammengezogen hat und Ukrainer:innen in Scharen das Land | |
verlassen. Doch auf der anschließenden Pressekonferenz im Kyjiwer | |
Regierungspalast redet Scholz von Deeskalation, weicht der Frage nach | |
Waffen aus und verweist auf die finanzielle Unterstützung für die Ukraine. | |
Scholz ist damals gut gestimmt nach dem Gespräch mit dem ukrainische | |
Präsidenten Wolodomir Selenski. Er glaubt, dass es doch noch eine | |
Verhandlungslösung geben kann. Einen Tag später fliegt er nach Russland und | |
wird von Wladimir Putin auf die Frage, ob nach seinem Abflug russische | |
Kampfbomber hinter ihm aufsteigen würden, nur Schweigen ernten. | |
## Mehr als rostige Haubitzen | |
Aus dem Kanzleramt hieß es bis dahin immer, Deutschland habe nicht mehr zu | |
bieten als ein paar „rostige Haubitzen“ aus NVA-Beständen. Das erweist sich | |
im Nachhinein als falsch. Inzwischen verschießen die Ukrainer mit deutschen | |
Panzerhaubitzen täglich 300 Granaten, wird Kyjiw auch mit dem aus | |
Deutschland gelieferten supermodernen Flugabwehrsystem Iris-T verteidigt | |
und deutsche Gepard-Panzer schützen kritische Infrastruktur. Die Ukrainer | |
haben sich mehrfach bedankt. Aber warum hat Scholz dann anfangs den | |
Anschein erweckt, er wolle eigentlich gar keine Waffen liefern und | |
zumindest immer neue Gründe vorgebracht, warum das eigentlich nicht möglich | |
sei – keine Munition, keine Ersatzteile, zu lange Ausbildungszeiten? | |
Aus drei Gründen. Am Montag nach seiner „Zeitenwende“-Rede im Bundestag war | |
Scholz eher nachdenklich als euphorisch. Man müsse jetzt an die Hälfte der | |
Bevölkerung denken, die Angst vor einer Ausweitung des Krieges habe. Wenn | |
der Krieg lange dauert, braucht man langfristige Unterstützung der | |
WählerInnen. Also Vorsicht, um einer möglichen Protestbewegung wenig | |
Angriffsflächen zu geben. Außerdem zweifelt Scholz, ob Europa, selbst wenn | |
es nun danach ruft, ein militärisch starkes Deutschland wirklich will. | |
Er wartet fast zwei Monate, bis Ende April, ehe er im Spiegel seinen Kurs | |
erklärt. Ein Fehler. | |
Scholz ist in den 80er Jahren politisch in der Friedensbewegung groß | |
geworden. Er ist zwar kein Pazifist und Fan von Helmut Schmidt, dem | |
Erfinder der Nachrüstung. Aber er hat wie viele Boomer ein distanziertes | |
Verhältnis zum Militär. | |
Ende August besucht der Kanzler einen Truppenübungsplatz. Er dankt der | |
Rüstungsindustrie und den ukrainischen Soldaten, die die Bundeswehr hier | |
an Gepard-Panzern ausbildet. Etwas ratlos steht er beim Fototermin vor dem | |
wuchtigen Kriegsgerät. Er faltet die Hände und sucht eine Position, die | |
ihn, den Kanzler und das Gefährt, in einen Zusammenhang bringen. | |
Schließlich stützt er leicht den linken Ellenbogen auf das Metall, lässt | |
die rechte Hand in die Hosentasche gleiten und senkt die linke Hand auf den | |
Panzer. Das Handauflegen ist eine Geste der Vertrautheit, der | |
Inbesitznahme. Wie ein Familienvater, der den neuen VW Golf nach Hause | |
bringt. Als die Fotos gemacht sind, nickt der Kanzler knapp und nimmt die | |
Hand vom Panzer. Das Fremdeln der zivilen Republik vor dem Militärischen | |
ist noch spürbar. | |
## Ruhe in hektischen Zeiten | |
„Es wäre wohl besser gewesen, wenn wir der Ukraine noch früher und noch | |
entschiedener geholfen hätten. Besser für die Ukrainer:innen“, sagt | |
Katharina Dröge Anfang November. Sie hat die Heizung im Büro runtergedreht | |
und ein Tuch umgelegt. Der neue ukrainische Botschafter war gerade zum | |
Antrittsbesuch da. Hat erzählt, dass Russland am Vortag 70 Raketen auf sein | |
Land abgeschossen habe. 19 konnte die ukrainische Armee auch dank deutscher | |
Abwehrtechnik abfangen. Der Rest sei eingeschlagen. Aber auch Dröge findet, | |
dass Scholz international souverän auftritt. Sie lobt seine Ruhe, die er in | |
diesen hektischen Zeiten ausstrahlt. | |
„Mit Waffenlieferungen an die Ukraine hätten wir noch schneller sein | |
können“, findet auch FDP-Fraktionschef Dürr. Allerdings habe Scholz auch | |
diesen oft unterschätzten Satz gesagt: Was wir machen, müssen wir auch | |
durchhalten. „Das war mutig vom Bundeskanzler“, sagt Dürr und stutzt: | |
„Jetzt habe ich ihn ja schon wieder gelobt.“ | |
Tatsächlich ist die militärische Hilfe für die Ukraine zwar spät | |
angelaufen, dafür stetig. Gerade hat Deutschland weitere Haubitzen | |
geliefert. | |
Über 100 Länder hat Scholz im ersten Amtsjahr besucht. Anfangs tauschte er | |
sich noch eng mit Merkel aus, inzwischen telefonieren sie nicht mehr so | |
häufig miteinander. In der Ampelkoalition ziehen die vier | |
Fraktionsvorsitzenden Anfang Dezember eine passable Bilanz. Die Grüne | |
Co-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann spricht von einer | |
Arbeitskoalition. Dürr besteht darauf, dass man dennoch mehr Fortschritt | |
wage. | |
Ob Fortschritt tatsächlich gelingt, wird sich zeigen. Im nächsten Jahr wird | |
die Ampel Farbe bekennen müssen, wie Deutschland seine Klimaziele konkret | |
einhalten will. Schon jetzt laufen sich FDP und Grüne warm für künftige | |
Auseinandersetzungen. Gerade im Verkehrssektor bewegt sich bislang nichts. | |
Die Grünen erwarten von Scholz, dass er sich hier positioniert. | |
Merkel hat Deutschland 16 Jahre geführt, solide, unaufgeregt, am Ende im | |
Vorruhestand. Konflikte kleisterte sie mit Kompromissen zu. Die | |
Digitalisierung blieb liegen, die Energiewende, die Dekarbonisierung der | |
Wirtschaft. Die Ampelkoalition muss Deutschland aus dieser Lethargie | |
herausführen. Im Alleingang schafft Scholz das nicht. | |
14 Dec 2022 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
Stefan Reinecke | |
## TAGS | |
Ampel-Koalition | |
Olaf Scholz | |
Bundesrepublik Deutschland | |
Ampel-Koalition | |
GNS | |
IG | |
Schwerpunkt Pressefreiheit | |
Panzer | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Pazifismus | |
Energiekrise | |
Energiekrise | |
Saskia Esken | |
Rolf Mützenich | |
Migration | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Linda Zervakis auf der Republica: Im Dienste ihres Kanzlers | |
Olaf Scholz trat 2022 auf der „Republica“ auf. Eine taz-Recherche zeigt: | |
Die vermeintlich unabhängige Interviewerin hatte er selbst engagiert. | |
Panzer für die Ukraine: Geländegewinne im Inneren | |
Frankreichs Präsident Macron inszeniert sich mit Panzerlieferungen. Davon | |
profitieren auch jene, die Kanzler Scholz hierzulande Zögerlichkeit | |
vorwerfen. | |
Porträt Anton Hofreiter: Er erfindet sich neu | |
Vor einem Jahr war der Grüne Hofreiter der große Verlierer der neuen | |
Ampelkoalition. Dann begann der Krieg in der Ukraine. | |
Zukunft des Pazifismus: Die deutsche Friedensliebe | |
War das pazifistische Selbstbild der Deutschen nur eine nostalgische | |
Kulisse? Pazifisten überzeugen kaum noch. Ein neuer Antimilitarismus ist | |
gefragt. | |
Gesetzesvorhaben der Ampel-Koalition: An der Länderkammer vorbei | |
Die Unions-Mehrheit im Bundesrat zwingt die Ampel zu Tricks. Die | |
Gaspreisbremse hat sie so formuliert, dass die Länder nicht zustimmen | |
müssen. | |
Dividendenzahlung bei Gaspreisbremse: Ampelfraktionen ziehen Deckel ein | |
Die Gaspreisbremse kostet Milliarden. Profitierende Unternehmen sollen | |
weniger Boni zahlen oder Leute entlassen dürfen. | |
Jahresbilanz der SPD-Chefs: Erfolge im Stakkato | |
Saskia Esken und Lars Klingbeil bilanzieren ihr erstes Jahr als | |
SPD-Vorsitzende. Der Rückblick fällt positiv aus – auch dank klarer | |
Aufgabenteilung. | |
Bilanz nach einem Jahr Ampel: Auf Harmonie getrimmt | |
Nach einem Jahr Ampel ziehen die Fraktionschef*innen Bilanz. Der Ton | |
ist pragmatischer geworden. Dennoch sind sich alle einig: Läuft super. | |
Migrationspolitik in Deutschland: Zeitenwende in Zeitlupe | |
Die Ampel wollte Seehofers harten Kurs beenden. Doch lange geschah wenig. | |
Jetzt kommen einige neue Gesetze. Wie fortschrittlich sind sie? |