| # taz.de -- Ein Jahr Ampel-Kanzler: „Etwas lauter bitte, Olaf“ | |
| > Auch nach einem Jahr im Amt bleibt Olaf Scholz für viele schwer greifbar. | |
| > Das öffentliche Urteil ist verhalten, Koalitionspartner aber sind | |
| > zufrieden. | |
| Bild: Regieren, um wieder gewählt zu werden: Olaf Scholz am Kabinettstisch, am… | |
| Wer bei mir Führung bestellt, muss wissen, dass er sie dann auch bekommt“, | |
| hat Olaf Scholz der taz mal in einem Interview gesagt. Und hinzugefügt: | |
| „Das geht natürlich nicht im Alleingang.“ Das war im November 2009 nach | |
| seiner Wiederwahl zum Vorsitzenden der Hamburger SPD. Scholz’ Drohung hatte | |
| damals einen Adressaten – die von Intrigen ruinierte Hamburger | |
| Sozialdemokratie. Scholz war der Mann, der aufräumen musste. Nüchtern, | |
| pragmatisch, auch autoritär. | |
| 12 Jahre später, am 8. Dezember 2021, wählte der Bundestag Scholz zum | |
| Kanzler. Der Satz wird seitdem viel zitiert, Scholz wird an ihm gemessen. | |
| Er soll das Land durch die Zeitenwende führen, als Kanzler der ersten | |
| Dreierkoalition auf Bundesebene mit SPD, Grünen und FDP. Er soll den | |
| Aufbruch wagen und in der Krise den Status quo sichern. Eine Gratwanderung. | |
| Wie macht er das? | |
| Wir haben mit Kolleg:innen aus der Ampelkoalition und mit Menschen | |
| gesprochen, die ihn lange auf seinem politischen Weg begleitet haben. | |
| Entstanden ist das Bild eines Mannes, der für alles einen Plan zu haben | |
| scheint, aber nicht allen verrät, welchen. Der trotz Dauerpräsenz in der | |
| Öffentlichkeit schwer greifbar bleibt. Der arrogant auftreten kann, der | |
| aber auch zuhört und Fragen stellt. Der stur sein kann bis zur | |
| Halsstarrigkeit. | |
| „Er ähnelt in manchem Wolfgang Schäuble. Herr Schäuble weiß auch alles | |
| immer ganz genau“, sagt jemand, der mit Scholz am Kabinettstisch sitzt. | |
| ## Erst Stamokap, dann Law and Order | |
| Scholz kann jedenfalls ebenso herablassend wie Schäuble sein. Als eine | |
| Journalistin den Kanzler im Sommer fragt, ob er konkretisieren könne, wie | |
| die deutschen Sicherheitsgarantien für die Ukraine aussehen, sagt Scholz | |
| nur: „Ja, könnte ich.“ Schweigt. „Das war’s.“ | |
| Wie Schäuble blickt Scholz auf eine lange Dienstzeit als Politiker zurück: | |
| Vom ultralinken Stamokap-Flügel der SPD kommend, hat er sich zum | |
| Law-and-Order-Innensenator und Ersten Bürgermeister in Hamburg entwickelt, | |
| hat erfolglos versucht, SPD-Vorsitzender zu werden, und es dennoch zum | |
| vierten SPD-Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik gebracht. | |
| Vom Menschen Scholz ist wenig bekannt. Er hat zwei jüngere Brüder – der | |
| eine Arzt, der andere in der IT-Branche –, lernte seine Frau Britta Ernst | |
| in den 80ern bei den Jusos kennen. Sie sei die Liebe seines Lebens. Er | |
| kocht gern Königsberger Klopse, rudert und joggt in seiner Freizeit. Er | |
| versteht sich ganz gut mit Markus Söder, der ihn mal zurechtgewiesen hat, | |
| er solle nicht so schlumpfig grinsen. Überhaupt mag Scholz Schlümpfe, weil | |
| sie klein, verschmitzt und clever sind und am Ende immer gewinnen. | |
| Das alles hat Scholz der Bunten sechs Wochen vor der Bundestagswahl gesagt. | |
| Als SPD-Kanzlerkandidat gehört so ein Interview wohl zum Pflichtprogramm. | |
| Jedenfalls hat er nach der Wahl nie wieder ein ähnliches gegeben und | |
| reagiert auch sonst auf persönliche Fragen ablehnend. Beim Bürgertreffen im | |
| Sommer, ein Jahr später in Magdeburg, möchte die Moderatorin wissen, was | |
| der Kanzler als Kind werden wollte. Den meisten PolitikerInnen würde jetzt | |
| schon etwas einfallen, das sie in freundlichem Licht zeigt. Scholz sagt: | |
| „Ich bin 64 Jahre. Ich weiß es nicht mehr.“ | |
| Angela Merkel machte ihre Biografie lange fast unsichtbar, weil sie | |
| glaubte, als ostdeutsche Frau Widerstand zu mobilisieren. Auch Scholz wirkt | |
| ungreifbar. Aber aus einem anderen Grund. Er fremdelt mit Menschen. Ihm | |
| fliegen die Sympathien auch nicht zu. Er hat nicht die Fähigkeit, Fremdes | |
| durch Offenherzigkeit in Vertrautes, Distanzen in Nähe zu verwandeln. Sein | |
| Humor ist mitunter schrullig, viele verstehen ihn nicht. Lars Haider, | |
| Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, hat 2021 eine Biografie über den | |
| Kanzler geschrieben. Sein Eindruck: „Scholz ist ein zutiefst schüchterner, | |
| sehr zurückhaltender Mensch.“ | |
| ## Machtpolitischer Malus | |
| Das ist machtpolitisch ein Malus. Denn mit Charmeoffensiven kann man | |
| Vertrauen erneuern, Konflikte besänftigen. Das ist nicht Scholz’ Stärke. | |
| Die Hamburger Grünen sind gebrannte Kinder. Die Scholz-SPD schrammte 2015 | |
| knapp an der absoluten Mehrheit vorbei und brauchte die Grünen als | |
| Juniorpartner, um das Rathaus zu halten. Die Zweite Bürgermeisterin der | |
| Grünen, Katharina Fegebank, erinnert sich an Scholz als „harten | |
| Verhandler“. „Er hat den Anspruch, der Platzhirsch zu sein, Gespräche auch | |
| dominieren zu wollen und relativ wenig Spielraum zu lassen“, sagte Fegebank | |
| 2021 der Deutschen Presseagentur. Charmant klingt das nicht. | |
| Doch in der Ampel herrschen heute andere Verhältnisse. Die SPD gewann die | |
| Bundestagswahl nicht mit 46, sondern mit 26 Prozent. Die Grünen sind | |
| Konkurrent und Partner zugleich, die FDP hat erstmals seit Jahrzehnten | |
| wieder ins linke Lager gewechselt und will umsorgt sein. | |
| Christian Dürr ist seit einem Jahr Fraktionschef der FDP im Bundestag. Als | |
| solchem steht ihm ein geräumiges Büro zu, das selbst mit Fahnenhalter samt | |
| Europafahne nicht überladen wirkt. Nach Scholz’ Führungsstil gefragt, | |
| antwortet Dürr wie aus der Pistole geschossen: „Gut.“ Pause. Dürr beugt | |
| sich vor, bekräftigt: „Er macht das menschlich echt gut.“ Man könne sich | |
| auf sein Wort verlassen. | |
| Das Lob für den Kanzler mutet seltsam an. Schließlich ist die FDP die | |
| Partei, die bislang überhaupt nicht von der Koalition profitiert. Vier | |
| Landtagswahlen gingen seit dem Regierungsantritt schief. Und dennoch ist | |
| Dürr enthusiastisch. Er redet sich fast in Ekstase: Der Kanzler habe echt | |
| „Bock“, etwas zu wagen, sei anders als Merkel ein Reformer, habe „Drive�… | |
| ## Keine Frage nach der Vermögenssteuer | |
| Die Grünen sind dem Kanzler gegenüber skeptischer. Katharina Dröge, ist | |
| eine von zwei Grünen-Fraktionsvorsitzenden. Augenhöhe, ja doch, sagt sie. | |
| „Das kann man so sagen. Eine harte Koch-Kellner-Regierung wie in Hamburg | |
| haben wir hier nicht, würden wir auch nicht mitmachen.“ | |
| Aber für den Geschmack der Grünen lässt Scholz der FDP viel zu viel Raum, | |
| gerade in finanzpolitischen Fragen stehe er zu oft an Christian Lindners | |
| Seite. | |
| Rückfrage bei Christian Dürr. Hat Scholz in den Koalitionsrunden schon mal | |
| die Vermögenssteuer erwähnt? Steht schließlich so im SPD-Wahlprogramm. Ist | |
| in diesen Zeiten, in den der Staat 300 Milliarden an Schulden für die | |
| Krisenbekämpfung aufnimmt, auch keine ganz abwegige Idee. „Nein, daran | |
| erinnere ich mich nicht. Schließlich haben wir uns als Koalition darauf | |
| geeinigt, die Steuern nicht zu erhöhen“, sagt Dürr. | |
| Möglicherweise ist Scholz’ Zurückhaltung aber auch ein Signal an die | |
| gebeutelte FDP: Ich respektiere Eure Grenzen. | |
| „Olaf Scholz hatte schon immer eine sehr gute Art, die Dinge | |
| zusammenzuführen“, sagt Sarah Ryglewski. Die Abgeordnete ist im Kanzleramt | |
| Staatsministerin für Bund-Länder-Koordination und Nachhaltigkeit. Scholz | |
| holte die SPD-Linke 2019 zunächst ins Finanzministerium, zwei Jahre später | |
| folgte sie ihm ins Kanzleramt. Von Top-Down und Kontrollwahn, der Scholz | |
| aus Hamburger Zeiten nachgesagt wird, kann Ryglewski nicht berichten. Im | |
| Gegenteil: Scholz lasse seinen Leuten viele Freiräume – so lange alles | |
| funktioniere. | |
| ## Das große Ganze im Blick | |
| Näher kennengelernt hat sie Olaf 2017, als sie Mitglied der | |
| Antragskommission wurde, die Scholz damals schon seit über einem Jahrzehnt | |
| leitete. Die Kommission hat eine Schlüsselrolle für eine Programmpartei wie | |
| die SPD, vor Parteitagen sichtet sie Hunderte von Anträgen, vom Unterbezirk | |
| Wandsbeck bis zum Landesverband NRW, und entscheidet, was am Ende | |
| abgestimmt wird. „Er hatte immer Verständnis dafür, dass jeder | |
| Landesverband seinen Punkt braucht, und hatte dabei das große Ganze im | |
| Blick“, lobt Ryglewski ihren Chef. | |
| Die Erfahrungen aus der Antragskommission überträgt Scholz auf die | |
| Ampelkoalition – jede der drei sehr unterschiedlichen Parteien braucht mal | |
| einen Punkt, mit dem sie glänzen kann. Die FDP kann sich für den Tankrabatt | |
| und den Abbau der kalten Progression auf die Schultern klopfen, die SPD | |
| feiert den Abschied von Hartz IV und die Grünen das 49-Euro-Ticket und den | |
| Ausbau der Erneuerbaren Energien. Gleich zu Beginn hat seiner Amtszeit hat | |
| Scholz dem Spiegel gesagt: „Man muss als Koalition mit dem Anspruch | |
| antreten, bei den nächsten Wahlen wiedergewählt zu werden.“ | |
| Frank Stauss, Politikerberater, der für SPD erfolgreiche Wahlkämpfe | |
| inszeniert hat, sagt, Scholz führe als Kanzler „nicht plakativ, nicht | |
| lautstark, nicht auf Effekt gerichtet“. Ebenso wie er auch als Arbeits- und | |
| Finanzminister und Vizekanzler gearbeitet habe. „Er ist Realist und kann | |
| genau einschätzen, was politisch geht und was nicht.“ | |
| Macht durch Moderation hieß schon bei Merkel das Schlüsselwort. Scholz | |
| ergänzt diesen Stil durch offenere Kommunikation. Er hat allen | |
| Minister:innen gleich zu Beginn der Amtszeit das Du angeboten. Jeden | |
| Mittwoch morgens um 9 Uhr trifft sich das Kabinett. Es gibt keine | |
| Tagesordnung. Die MinisterInnen dürfen sich bei der zweistündigen Debatte | |
| nicht von StaatssekretärInnen vertreten lassen. Mit Ausnahme von | |
| Außenministerin Annalena Baerbock, die viel reist. | |
| Diese Runde – vor der amtlichen Kabinettssitzung um 11 Uhr – hat etwas von | |
| einer Schulstunde. Der Kanzler redet leise. Meist fordert der grüne | |
| Landwirtschaftsminister Cem Özdemir als erster in der Runde „Etwas lauter, | |
| Olaf“. Scholz redet dann etwas lauter, um seine Stimme bald wieder | |
| herunterzupegeln. Wie ein Lehrer, der für Konzentration im Klassenzimmer | |
| sorgen will. | |
| ## Stress erkennen und befrieden | |
| Scholz hört sich reihum an, was die Ampel-Ministerinnen auf dem Herzen | |
| haben, wo Krach droht. Konflikte, etwa zwischen Umwelt und | |
| Verkehrsministerium, sollen auf den Tisch. Das Ziel: Stress früh erkennen | |
| und befrieden. Der Kanzler frage viel nach, ordne ein, kommentiere und | |
| mahne mal eine Entscheidung an. Er macht, so Kulturstaatsministerin Claudia | |
| Roth „sanfte, aber klare Ansagen“. Und tritt dabei, so Roth, „nie autorit… | |
| auf“. | |
| Roth ist mittlerweile seit über zwei Dekaden im Parlament. Sie kennt die | |
| Zeiten noch, als die SPD den Koch und die Grünen den Kellner spielten | |
| sollten. „Das ist anders geworden“, sagt sie. Scholz, den sie fast ebenso | |
| lange im politischen Geschäft kennt, sei „sehr rational“ und „unfassbar | |
| resistent gegen Angriffe“. | |
| Das Kabinett ist zufrieden mit dem neuen Format, der sozialdemokratische | |
| Teil euphorischer als der Rest. Ein Wundermittel ist es aber nicht. Wenn | |
| sich richtig harte Konflikte anbahnen, komme das um 9 Uhr nicht immer zur | |
| Sprache, so eine Ministerin. | |
| Doch im Laufe dieses Jahres wird auch deutlich, wie begrenzt Scholz’ | |
| Steuerungsmöglichkeiten und wie groß die Fliehkräfte in der Ampel sind. | |
| Da ist der erste Versuch, die hohen Gaspreise in den Griff zu bekommen. Die | |
| Lösung aus dem von Robert Habeck geführten Wirtschaftsministerium: eine | |
| Gasumlage, um die Extrakosten der Großversorger abzupuffern. Auch im | |
| Kanzleramt ist man von dieser Lösung überzeugt. Scholz unterbricht extra | |
| seinen Sommerurlaub im Allgäu und verkündet für seine Verhältnisse gut | |
| gebräunt Ende Juli, dass der Bund beim Großversorger Uniper einsteige, dass | |
| aber auch die Verbraucher:innen ihren Teil beitragen müssen. Das | |
| könnten bis zu 300 Euro für eine vierköpfige Familie im Jahr sein. Andere | |
| Länder deckeln die Energiepreise längst. | |
| ## Erratischer „Doppel-Wumms“ | |
| Zwei Monate später, am 29. September, wird Scholz – wesentlich fahler im | |
| Gesicht nach überstandener Corona-Erkrankung – aus der Wohnung im | |
| Kanzleramt das Aus der Gasumlage verkünden. Stattdessen kommt der | |
| „Doppel-Wumms“. Für jemanden, der stets behauptet, eigentlich alles schon | |
| immer vorausgesehen zu haben, wirkt die Scholz’sche Krisenpolitik manchmal | |
| erstaunlich erratisch. | |
| Er kann aber auch autoritär. Als es im Oktober um den Weiterbetrieb von | |
| drei Atomkraftwerken geht, können sich Grüne und FDP nicht einigen. Scholz | |
| zückt die Richtlinienkompetenz. In einem knappen Brief weist er die | |
| zuständigen Minister:innen an, alles in die Wege zu leiten, damit drei | |
| Meiler bis längstens Mitte April am Netz bleiben können. | |
| Viele Kommentator:innen legen ihm diesen Griff zum schärfsten | |
| Machtmittel eines Kanzlers als Schwäche aus. Nach nicht mal einem Jahr | |
| Kanzlerschaft. Merkel hatte in 16 Jahren nur einmal damit gedroht. | |
| Doch Scholz wirkt im Nachgang zufrieden mit sich. Er habe da mal einen | |
| Brief geschrieben, erzählt er bei Gelegenheit, wenn die Mikrofone aus sind. | |
| Selbst wenn er breitbeinig auftritt, tut er das leise. | |
| Was Scholz selbst über eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke dachte, | |
| sei lange nicht klar gewesen, monieren manche Grüne. Warum? Weil in | |
| Niedersachsen gerade Wahlkampf war, vermutet man in Parteikreisen. Und für | |
| die SPD, die Stephan Weil als Ministerpräsidenten durchkriegen wollte, | |
| passte die Rolle der Erwachsenen, die im Streit zwischen Halbwüchsigen | |
| vermittelt. Manchen Grünen ärgert diese Selbstinszenierung der SPD. Scholz | |
| lasse Dinge manchmal gern laufen, weil es ihm machtpolitisch in den Kram | |
| passe, heißt es. | |
| ## Entscheidung in Rekordzeit | |
| Christian Dürr verteidigt den Kanzler in der Causa. „Die Verlängerung der | |
| Laufzeit hat Scholz doch in Rekordzeit entschieden“, sagt Dürr. Jedenfalls | |
| im Vergleich zu Merkel, die alle Konflikte ausgesessen habe. | |
| Doch aussitzen, das geht nicht mehr. Denn die eine Krise, die weitere nach | |
| sich zieht, bestimmt seit dem 24. Februar das politische Handeln. Eine | |
| „Zeitenwende“ wird Scholz dazu sagen, am Sonntag nach dem russischen | |
| Überfall im eilig zusammengetretenen Bundestag. | |
| Das restliche Europa schließt sich fester zusammen, blickt zunehmend | |
| fordernder auf Deutschland. Die größte Volkswirtschaft soll eine | |
| Führungsrolle übernehmen, auch militärisch. | |
| Scholz fremdelt anfangs mit dieser neuen Rolle. Es wirkt, als müsse er erst | |
| Tritt fassen auf internationalem Parkett, als sei ihm die Bürde der neuen | |
| Verantwortung unheimlich. Als er Mitte Februar zum Antrittsbesuch in Kyjiw | |
| die Gangway des Regierungsfliegers Schritt für Schritt herabsteigt, auf den | |
| ausgerollten roten Teppich zu und sich, Halt suchend, am Revers seines | |
| Mantels greifend, hat Scholz eine Reihe von Ideen im Gepäck, wie man das | |
| nie umgesetzte Minsker Abkommen wiederbeleben kann. Aber kein Angebot für | |
| Waffenlieferungen, obwohl Russland seine Truppen rund um die Ukraine | |
| bereits zusammengezogen hat und Ukrainer:innen in Scharen das Land | |
| verlassen. Doch auf der anschließenden Pressekonferenz im Kyjiwer | |
| Regierungspalast redet Scholz von Deeskalation, weicht der Frage nach | |
| Waffen aus und verweist auf die finanzielle Unterstützung für die Ukraine. | |
| Scholz ist damals gut gestimmt nach dem Gespräch mit dem ukrainische | |
| Präsidenten Wolodomir Selenski. Er glaubt, dass es doch noch eine | |
| Verhandlungslösung geben kann. Einen Tag später fliegt er nach Russland und | |
| wird von Wladimir Putin auf die Frage, ob nach seinem Abflug russische | |
| Kampfbomber hinter ihm aufsteigen würden, nur Schweigen ernten. | |
| ## Mehr als rostige Haubitzen | |
| Aus dem Kanzleramt hieß es bis dahin immer, Deutschland habe nicht mehr zu | |
| bieten als ein paar „rostige Haubitzen“ aus NVA-Beständen. Das erweist sich | |
| im Nachhinein als falsch. Inzwischen verschießen die Ukrainer mit deutschen | |
| Panzerhaubitzen täglich 300 Granaten, wird Kyjiw auch mit dem aus | |
| Deutschland gelieferten supermodernen Flugabwehrsystem Iris-T verteidigt | |
| und deutsche Gepard-Panzer schützen kritische Infrastruktur. Die Ukrainer | |
| haben sich mehrfach bedankt. Aber warum hat Scholz dann anfangs den | |
| Anschein erweckt, er wolle eigentlich gar keine Waffen liefern und | |
| zumindest immer neue Gründe vorgebracht, warum das eigentlich nicht möglich | |
| sei – keine Munition, keine Ersatzteile, zu lange Ausbildungszeiten? | |
| Aus drei Gründen. Am Montag nach seiner „Zeitenwende“-Rede im Bundestag war | |
| Scholz eher nachdenklich als euphorisch. Man müsse jetzt an die Hälfte der | |
| Bevölkerung denken, die Angst vor einer Ausweitung des Krieges habe. Wenn | |
| der Krieg lange dauert, braucht man langfristige Unterstützung der | |
| WählerInnen. Also Vorsicht, um einer möglichen Protestbewegung wenig | |
| Angriffsflächen zu geben. Außerdem zweifelt Scholz, ob Europa, selbst wenn | |
| es nun danach ruft, ein militärisch starkes Deutschland wirklich will. | |
| Er wartet fast zwei Monate, bis Ende April, ehe er im Spiegel seinen Kurs | |
| erklärt. Ein Fehler. | |
| Scholz ist in den 80er Jahren politisch in der Friedensbewegung groß | |
| geworden. Er ist zwar kein Pazifist und Fan von Helmut Schmidt, dem | |
| Erfinder der Nachrüstung. Aber er hat wie viele Boomer ein distanziertes | |
| Verhältnis zum Militär. | |
| Ende August besucht der Kanzler einen Truppenübungsplatz. Er dankt der | |
| Rüstungsindustrie und den ukrainischen Soldaten, die die Bundeswehr hier | |
| an Gepard-Panzern ausbildet. Etwas ratlos steht er beim Fototermin vor dem | |
| wuchtigen Kriegsgerät. Er faltet die Hände und sucht eine Position, die | |
| ihn, den Kanzler und das Gefährt, in einen Zusammenhang bringen. | |
| Schließlich stützt er leicht den linken Ellenbogen auf das Metall, lässt | |
| die rechte Hand in die Hosentasche gleiten und senkt die linke Hand auf den | |
| Panzer. Das Handauflegen ist eine Geste der Vertrautheit, der | |
| Inbesitznahme. Wie ein Familienvater, der den neuen VW Golf nach Hause | |
| bringt. Als die Fotos gemacht sind, nickt der Kanzler knapp und nimmt die | |
| Hand vom Panzer. Das Fremdeln der zivilen Republik vor dem Militärischen | |
| ist noch spürbar. | |
| ## Ruhe in hektischen Zeiten | |
| „Es wäre wohl besser gewesen, wenn wir der Ukraine noch früher und noch | |
| entschiedener geholfen hätten. Besser für die Ukrainer:innen“, sagt | |
| Katharina Dröge Anfang November. Sie hat die Heizung im Büro runtergedreht | |
| und ein Tuch umgelegt. Der neue ukrainische Botschafter war gerade zum | |
| Antrittsbesuch da. Hat erzählt, dass Russland am Vortag 70 Raketen auf sein | |
| Land abgeschossen habe. 19 konnte die ukrainische Armee auch dank deutscher | |
| Abwehrtechnik abfangen. Der Rest sei eingeschlagen. Aber auch Dröge findet, | |
| dass Scholz international souverän auftritt. Sie lobt seine Ruhe, die er in | |
| diesen hektischen Zeiten ausstrahlt. | |
| „Mit Waffenlieferungen an die Ukraine hätten wir noch schneller sein | |
| können“, findet auch FDP-Fraktionschef Dürr. Allerdings habe Scholz auch | |
| diesen oft unterschätzten Satz gesagt: Was wir machen, müssen wir auch | |
| durchhalten. „Das war mutig vom Bundeskanzler“, sagt Dürr und stutzt: | |
| „Jetzt habe ich ihn ja schon wieder gelobt.“ | |
| Tatsächlich ist die militärische Hilfe für die Ukraine zwar spät | |
| angelaufen, dafür stetig. Gerade hat Deutschland weitere Haubitzen | |
| geliefert. | |
| Über 100 Länder hat Scholz im ersten Amtsjahr besucht. Anfangs tauschte er | |
| sich noch eng mit Merkel aus, inzwischen telefonieren sie nicht mehr so | |
| häufig miteinander. In der Ampelkoalition ziehen die vier | |
| Fraktionsvorsitzenden Anfang Dezember eine passable Bilanz. Die Grüne | |
| Co-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann spricht von einer | |
| Arbeitskoalition. Dürr besteht darauf, dass man dennoch mehr Fortschritt | |
| wage. | |
| Ob Fortschritt tatsächlich gelingt, wird sich zeigen. Im nächsten Jahr wird | |
| die Ampel Farbe bekennen müssen, wie Deutschland seine Klimaziele konkret | |
| einhalten will. Schon jetzt laufen sich FDP und Grüne warm für künftige | |
| Auseinandersetzungen. Gerade im Verkehrssektor bewegt sich bislang nichts. | |
| Die Grünen erwarten von Scholz, dass er sich hier positioniert. | |
| Merkel hat Deutschland 16 Jahre geführt, solide, unaufgeregt, am Ende im | |
| Vorruhestand. Konflikte kleisterte sie mit Kompromissen zu. Die | |
| Digitalisierung blieb liegen, die Energiewende, die Dekarbonisierung der | |
| Wirtschaft. Die Ampelkoalition muss Deutschland aus dieser Lethargie | |
| herausführen. Im Alleingang schafft Scholz das nicht. | |
| 14 Dec 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Lehmann | |
| Stefan Reinecke | |
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