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# taz.de -- Migrationspolitik in Deutschland: Zeitenwende in Zeitlupe
> Die Ampel wollte Seehofers harten Kurs beenden. Doch lange geschah wenig.
> Jetzt kommen einige neue Gesetze. Wie fortschrittlich sind sie?
Bild: Anastasia Orchenita aus der Ukraine mit ihren beiden Kindern in einer Not…
Berlin taz | Die Erwartungen waren groß, als die Ampel vor genau einem Jahr
ihren Koalitionsvertrag vorstellte. Sie versprach einen „Neuanfang“ in der
Migrations- und Integrationspolitik nach 16 Jahren unionsgeführter
Regierung. Besonders die gerade in Regierungsverantwortung gekommenen
Grünen machten diese Erzählung stark. Auch die SPD hatte ein Interesse
daran, den Ruf loszuwerden, vier Legislaturperioden lang Erfüllungsgehilfin
restriktiver Migrationspolitik gewesen zu sein.
So zeichnete die Ampel Deutschland als „modernes Einwanderungsland“, an
dessen Realitäten Politik und Rechtslage nun angepasst werden sollten: mehr
Möglichkeiten regulärer Migration und eine Abkehr vom scharfen Kurs der
Vorgängerregierung. Rund 80 Vorhaben dazu finden sich im
Koalitionsvertrag.
Doch nicht nur die enorme Zahl zusätzlich aufgenommener [1][Flüchtlinge aus
der Ukraine], sondern auch der Krieg an sich, die anhaltende Pandemie,
Inflation und Energiekrise stellten sie dabei vor Herausforderungen, die so
nicht absehbar waren. Lange geschah kaum etwas. Nun hat die Bundesregierung
das Tempo angezogen und zuletzt gleich mehrere Gesetzentwürfe auf den Weg
gebracht, weitere Gesetzespakete werden vorbereitet.
Zu den wichtigsten zählt das im Oktober erstmals im Bundestag debattierte
„[2][Migrationspaket]“. Sein Kernelement: das Chancenaufenthaltsrecht, das
langjährig Geduldeten eine Perspektive bieten soll. Davon gibt es derzeit
rund 135.000. Doch nur wer am Stichtag, dem 1. Januar 2022, seit fünf
Jahren in Deutschland war, soll für ein Jahr eine Aufenthaltserlaubnis auf
Probe bekommen.
In dieser Zeit sollen die Voraussetzungen für ein Bleiberecht erfüllt
werden – etwa die Sicherung des Lebensunterhalts, Sprachkenntnisse oder der
Identitätsnachweis. Die Hürden dafür sind jedoch hoch. Pro Asyl verweist
darauf, dass die Bundesregierung selbst davon ausgeht, dass nur etwa 34.000
Menschen von der einmaligen Regelung profitieren werden. Insgesamt gibt es
aber 247.000 Geduldete. 75 Prozent bleiben also „in der prekären
aufenthaltsrechtlichen Duldungssituation stecken“, so Pro Asyl. An sich
hält die Organisation das Chancenaufenthaltsrecht jedoch für keine
schlechte Idee.
## „Asylprozess“-Gesetz macht es Geflüchteten schwerer
Ganz anders das anstehende „[3][Asylprozess“-Gesetz:] Vordergründig solle
dies Verfahren beschleunigen – tatsächlich werde es dazu führen, dass es
Geflüchtete noch schwerer haben, ihre Rechte einzuklagen, so Pro Asyl.
Viele der enthaltenen restriktiven Vorschläge seien „vom
Bundesinnenministerium auch schon unter Regie der Union gemacht“.
In den Gesetzespaketen finden sich viele Elemente, die zweifellos eine
Verbesserung darstellen. Etwa, dass künftig alle Asylbewerber*innen
sofort Zugang zu Integrationskursen haben oder die Identität beeidet werden
kann, wenn kein Pass zu beschaffen ist. Gleichzeitig haben Teile der
Ampelkoalitionäre versucht, für Liberalisierungen immer auch
Verschärfungen auszuhandeln. So soll unter anderem als Teil der
angekündigten „Rückführungsoffensive“ die Abschiebehaft ausgeweitet werd…
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will auch das
[4][Fachkräfte-Einwanderungsgesetz] reformieren. Weniger Bürokratie soll
Verfahren beschleunigen. Heute warten Einreisewillige teils ein Jahr auf
einen Termin bei der Botschaft. Eine leichtere Anerkennung von
Berufsabschlüssen und eine „Chancenkarte“ sollen den Aufenthalt zur
Jobsuche in Deutschland erleichtern. Heil rüttelt so am ewigen deutschen
Beharren, Berufsabschlüsse von Arbeitsmigrant*innen müssten deutschen
Abschlüssen „gleichwertig“ sein: In Zukunft sollen auch all jene kommen
dürfen, die einschlägige Berufserfahrung mitbringen.
Mit Reem Alabali-Radovan (SPD) hat die Bundesregierung nicht nur eine
Integrationsstaatsministerin, sondern erstmals auch eine Beauftragte für
Antirassismus. Und mit dem Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler wurde der erste
Antiziganismusbeauftragte einer Bundesregierung benannt.
Noch aus steht unter anderem das lange von
Migrant*innenorganisationen geforderte Partizipationsgesetz und
die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, das ermöglichen soll, mehr als
eine Staatsbürgerschaft zu haben. Ebenso stehen Vorhaben für Menschen mit
unsicherem Aufenthalt aus – etwa die Abschaffung der unter Seehofer
eingeführten „Duldung light“ oder die Überarbeitung von Meldepflichten im
Gesundheitswesen.
## Leid an den Außengrenzen beenden
Das „Leid an den Außengrenzen beenden“ ist laut Koalitionsvertrag eines der
Ampel-Ziele. Eine entscheidende Rolle bei diesem Leid spielt die
Kooperation mit der libyschen Küstenwache. 16.733 Menschen hat sie von
Januar bis September auf dem Mittelmeer eingefangen und zurückgebracht.
Alle kamen wieder in Folterlager.
Viele halten den Aufbau der Küstenwache Libyens durch die EU für den
menschenrechtlich schlimmsten Baustein der EU-Grenzabschottung. Auch die
Grünen klangen vor der Wahl oft so. Im Juli aber erklärte das Auswärtige
Amt: „Der Verantwortungsbereich Libyens umfasst die libysche Such- und
Rettungszone“. Diese Zone war durch Italien überhaupt erst geschaffen
worden. Die Ampel erkannte die Küstenwache somit an.
Diejenigen, die ihr entkommen, werden teils von NGO-Schiffen gerettet. Seit
Jahren wird diesen zum Teil wochenlang der Zugang zu europäischen Häfen
verweigert. Die Ampel hatte das Problem erkannt. Doch für die laut
Koalitionsvertrag angestrebte „Weiterentwicklung des Malta-Mechanismus“,
mit dem den Mittelmeeranrainerstaaten gerettete Schiffbrüchige abgenommen
werden sollen, kam im Rest der EU wenig Begeisterung auf.
Im Juni hatte der EU-Rat daher ersatzweise den sogenannten
Solidaritätsmechanismus beschlossen. Der sieht vor, dass Staaten auf
freiwilliger Basis Zusagen für die Aufnahme von Flüchtenden aus der
Mittelmeerregion machen. Bis Mitte 2023 sollen so 10.000 Menschen
umgesiedelt werden. 3.500 nach Deutschland – eine Größenordnung, die in den
Außengrenzen-Staaten kaum das Gefühl echter Lastenteilung auslösen dürfte.
Allein in diesem Jahr kamen bisher etwa 137.000 Menschen über das Meer nach
Italien, Griechenland, Zypern und Spanien.
Allerdings ist die Bereitschaft, freiwillig Geflüchtete zusätzlich zu den
Ukrainer:innen und den in diesem Jahr rund 140.000 weiteren angekommenen
Asylsuchenden aufzunehmen, bei Kommunen und den Ländern nur mäßig
ausgeprägt. Und die Union müht sich nach Kräften, dies politisch
auszuschlachten.
## Keine Partnerschaften für Seenotrettung
Im Koalitionsvertrag hatte sich die Ampel auch eine „staatlich koordinierte
und europäisch getragene Seenotrettung im Mittelmeer“ zum Ziel gesetzt.
Doch für eine solche gibt es derzeit keine Partnerstaaten. Dafür bekommen
private Seenotretter Geld: Bis 2026 sollen 8 Millionen Euro an den Verein
„United for Rescue“ fließen, der Rettungsschiffe deutscher NGOs
mitfinanziert.
Kurz vor dem Amtsantritt der Ampel hatten in Afghanistan die Taliban die
Macht übernommen. In den vergangenen 15 Monaten haben etwa 38.100
Ortskräfte und besonders gefährdete Afghan:innen Aufnahmezusagen
bekommen. Ungefähr zwei Drittel davon sind eingereist. Ende Oktober
beschloss die Ampel ein neues Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan, es
soll pro Monat künftig ungefähr 1.000 Menschen eine Einreise ermöglichen.
Doch für viele kommt das Programm zu spät. Die NGO Mission Lifeline
schätzte Mitte November, dass etwa 30.000 Ortskräfte der Bundesregierung
plus Familien noch in Afghanistan sind.
„Ich hatte keine hohen Erwartungen an die Migrationspolitik der
selbsternannten Fortschrittskoalition, aber trotzdem wurde ich massiv
enttäuscht“, sagt die Linken-Abgeordnete Clara Bünger. „Immer wieder zeigt
sich das gleiche Muster: Auf schöne Worte folgt – nichts, was der
Bezeichnung eines Paradigmenwechsels würdig wäre.“ So entspreche der
Entwurf für das Chancenaufenthaltsrecht bei Weitem nicht den Versprechungen
aus dem Koalitionsvertrag. Hinzu komme, dass er seit Monaten verschleppt
worden sei.
## Nach wie vor brutale Pushbacks
„Die traurige Konsequenz ist, dass regelmäßig Menschen abgeschoben werden,
die eigentlich vom Chancenaufenthaltsrecht profitieren könnten“, sagt
Bünger. Nach wie vor würden Flüchtende an den Außengrenzen „[5][brutal
gepushbackt oder in menschenunwürdige Lager gezwungen]“. Mit der Zustimmung
zur Screening-Verordnung auf EU-Ebene habe die Bundesregierung sogar „für
eine weitere Verschlimmerung der Zustände an den Außengrenzen grünes Licht
gegeben“.
Im Inland verurteile die Bundesregierung zwar die zunehmenden Angriffe auf
Flüchtlingsunterkünfte, gieße aber „zugleich noch Öl ins Feuer, wenn etwa
die Bundesinnenministerin vor ‚illegaler Migration‘ warnt und sich für eine
noch schärfere Abschottung der Balkanroute ausspricht“, sagt Bünger. „Die…
Seehofer-Rhetorik ist im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährlich und muss
beendet werden!“
Auf Seiten der Grünen hat der EU-Abgeordnete Erik Marquardt den
Koalitionsvertrag zu Migrationsthemen mitverhandelt. „Es ist gut, dass man
endlich losgelaufen ist, aber es ist noch ein weiter Weg zur Ziellinie“,
sagt er. Die zusätzliche Flüchtlingsaufnahme durch den Ukrainekrieg habe
eine riesige Kraftanstrengung erfordert. „Das hat sicherlich einiges
verzögert, das darf nicht dazu führen, dass wir halbgare Sachen machen.“
Die Finanzierung der Seenotrettung sei unter den bisher umgesetzten
Vorhaben eins der wichtigsten politischen Zeichen, um den „Nebel der
rechtspopulistischen Debatte wegzufegen“, sagt er. Und: Es dürfe nicht
vergessen werden, dass die Migrationspolitik „europäisch gedacht werden
muss“, sagt der Grünenpolitiker. Die Bundesregierung müsse „da viel stär…
eine Führungsrolle einnehmen, sonst können wir unsere Ziele nicht
erreichen“.
23 Nov 2022
## LINKS
[1] /Aufnahme-von-Gefluechteten/!5890266
[2] /Erstes-Migrationspaket-der-Ampel/!5862607
[3] /Fluechtlinge-an-den-EU-Aussengrenzen/!5863045
[4] /Gesetz-zur-Arbeitsmigration/!5664073
[5] /Pushbacks-auf-dem-Mittelmeer/!5851450
## AUTOREN
Dinah Riese
Christian Jakob
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