# taz.de -- Präventivgewahrsam für Klimaaktivisten: Die bayerische Art | |
> Bayern greift hart durch: Wer sich hier auf die Straße klebt, landet oft | |
> direkt im Knast. Möglich macht es ein noch immer umstrittenes Gesetz. | |
Bild: Trotz Präventivhaftandrohung: Blockade der Letzten Generation in Münche… | |
MÜNCHEN taz | Es ist eine klebrige Angelegenheit. Immer wieder haben sich | |
in der jüngeren Vergangenheit Klimaaktivisten in Bayern auf vielbefahrenen | |
Straßen festgeklebt oder öffentlichkeitswirksame Attacken auf Kunstwerke | |
verübt. Darin unterscheidet sich der Freistaat nun nicht sonderlich von | |
anderen Bundesländern, doch der Umgang mit den zumeist jungen | |
Demonstrantinnen und Demonstranten ist ein anderer. | |
Montag vorvergangener Woche am Stachus. Eigentlich heißt der Platz mitten | |
in der Stadt – auf halben Weg zwischen Marienplatz und Hauptbahnhof – | |
Karlsplatz, aber weil hier mal im 18. Jahrhundert ein Mathias Eustachius | |
Föderl, den alle nur Eustach nannten, ein Wirtshaus hatte, nennen heute den | |
Platz alle nur Stachus. Man ist halt traditionsbewusst in München. Es ist | |
Vormittag. Die Arbeitswoche beginnt. Der Verkehr rauscht auf dem | |
Altstadtring am Stachus vorbei. Noch. | |
Doch dann zwingen fünf Aktivisten der Bewegung Letzte Generation die | |
Autofahrer anzuhalten, drei von ihnen kleben sich vor den Fahrzeugen mit je | |
einer Hand auf der Fahrbahn fest. Die Polizei ist kurz darauf vor Ort, doch | |
bis sie die Hände gelöst und die Straße freigegeben hat, vergehen | |
anderthalb Stunden. Die Aktivisten, darunter auch die 18-jährige Maria | |
Braun, erwartet nun nicht nur ein Strafbefehl wegen Nötigung im | |
Straßenverkehr und Verstößen gegen das Versammlungsgesetz, sie werden | |
gleich festgenommen und in die Münchner Haftanstalt Stadelheim gebracht. | |
Präventivgewahrsam nennt sich die Maßnahme, sprich: Hiermit soll lediglich | |
verhindert werden, dass sich eine mühsam von der Straße entfernte | |
Demonstrantin am nächsten Tag gleich wieder wo festklebt. | |
30 Tage lang können Menschen in Bayern weggesperrt werden, um vermutete | |
Straftaten oder schwere Ordnungswidrigkeiten zu verhindern. Die Haft kann | |
danach sogar noch einmalig um weitere 30 Tage verlängert werden. | |
## Söder beruft sich auf den Volkswillen | |
Ein Schicksal, das die fünf durchaus einkalkuliert hatten. Denn nur wenige | |
Tage zuvor hatten zwölf Gleichgesinnte an derselben Stelle mehr oder | |
weniger die gleiche Aktion durchgeführt und waren dafür für 30 Tage in | |
Polizeigewahrsam geschickt worden. Maria Braun lässt sich denn kurz vor der | |
eigenen Festnahme auch mit den Worten zitieren: „Ich werde mich auch von | |
Drohungen mit 30 Tagen Gefängnis nicht einschüchtern lassen. Mein Leben und | |
das Leben meiner ganzen Generation steht auf dem Spiel.“ Andere, so fordert | |
die junge Frau, sollten nun ihren Platz auf der Straße einnehmen. | |
Im Fall der Schülerin werden es dann zwar nur sechs Tage Haft sein, aber | |
insgesamt sind es über 30 Aktivisten, die die bayerische Polizei in den | |
vergangenen Wochen in Präventivgewahrsam genommen hat – zum Teil für 30 | |
Tage. Einer von ihnen, ein 47-jähriger Umweltingenieur, trat vor mehr als | |
einer Woche in Hungerstreik. Es ist das Vorgehen der bayerischen Polizei, | |
das eine Diskussion wieder aufkochen lässt, die hierzulande schon seit fünf | |
Jahren am Köcheln ist. 30 Tage Haft für eine Verkehrsstörung? | |
Nun hat ein beherztes Zugreifen in Bayern eine lange Tradition. Man | |
erinnert sich etwa an den Polizeikessel während des Weltwirtschaftsgipfels | |
in München 1992: Damals waren zu laute Demonstranten stundenlang von der | |
Polizei eingekesselt und dann zum Teil recht unsanft festgenommen worden. | |
Viele verbrachten die Nacht in der Zelle – unrechtmäßig, wie ein Gericht | |
später feststellte. Max Streibl, damaliger Ministerpräsident, verstand die | |
Aufregung nicht: „Wenn einer glaubt, er muss sich mit Bayern unbedingt | |
anlegen und er muss stören – dass wir dabei auch dann manchmal etwas härter | |
hinlangen oder durchgreifen, das ist auch bayerische Art.“ | |
Dieses etwas folkloristische Verständnis von Recht und Ordnung würde heute | |
vielleicht selbst in CSU-Kreisen nicht mehr ganz so unverblümt artikuliert | |
werden, findet sich aber nach wie vor in der vielbeschworenen DNA der | |
Partei, die seit 65 Jahren Bayern regiert. Bei Streibl-Nachfolger Markus | |
Söder klingt das dann etwa – wie hier in einem Interview mit der Augsburger | |
Allgemeinen – so: „Ein Rechtsstaat muss eine klare Linie haben, wenn es um | |
Leib und Leben geht oder um Eigentum und Sachbeschädigung. Wer Kunstwerke | |
verunstaltet oder Rettungsfahrzeuge blockiert und damit indirekt Leben | |
gefährdet, überschreitet eine Grenze.“ Söder fordert härtere Strafen – … | |
Haftstrafen – gegen die Aktivisten und sieht das bayerische Vorgehen durch | |
den Volkswillen legitimiert: „Die große Mehrheit der Deutschen hält | |
Straßenblockaden für falsch.“ | |
## „Ich finde es nervig, dass nur noch über die Form des Protests geredet | |
wird“ | |
Gleichzeitig gibt es aber auch Verständnis für die Aktivisten. Von | |
unterschiedlichster Seite, zum Beispiel auch Kirchenvertretern. „Ich | |
bewundere diese Leute unendlich für ihren Mut und ihre Selbstlosigkeit“, | |
sagt etwa der [1][Nürnberger Jesuitenpater Jörg Alt]. Und der | |
[2][bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm] setzt noch eins | |
drauf: „Ich glaube, dass es wichtig ist, die Dringlichkeit des Themas wo | |
immer möglich und mit welchen Mitteln auch immer möglich sichtbar und | |
deutlich zu machen.“ Mit welchen Mitteln auch immer? Den Bischof hat man | |
bislang zwar noch nirgends kleben sehen, aber in der verbalen Radikalität | |
übertrifft er die meisten Angehörigen der Bewegung Die Letzte Generation | |
noch, die stets auf die Gewaltfreiheit ihrer Aktionen verweisen. | |
Auch [3][Katharina Schulze] hat Verständnis für die Aktivisten – obwohl sie | |
deren Klebereien für kontraproduktiv hält. „In der Zielsetzung ‚Mehr | |
Klimaschutz‘ bin ich ganz d’accord“, sagt die Fraktionsvorsitzende der | |
Grünen im Bayerischen Landtag, „ich glaube aber nicht, dass diese Form des | |
Protests der Sache dient.“ Kreativer Protest sei zwar gut und wichtig, um | |
Druck auf die Parlamente zu machen, aber dafür gebe es im Rahmen des | |
Erlaubten genügend Möglichkeiten. Letztlich müsse es in einer Demokratie | |
doch darum gehen, mit Argumenten im Diskurs Mehrheiten hinter der eigenen | |
Position zu versammeln. „Ich finde es auch nervig, dass jetzt wieder nur | |
endlos über die Form dieses Protests geredet wird und nicht über das | |
eigentliche Thema: Wie schützen wir das Klima?“ | |
Das andere aber ist der jetzige Umgang des Staates mit den Aktivisten: Dass | |
jetzt Menschen auf Grundlage des Polizeiaufgabengesetzes (PAG) für bis zu | |
zwei Monaten weggesperrt werden, dafür hat Schulze kein Verständnis. Das | |
Gesetz wurde vor fünf Jahren auf den Weg gebracht und ist das Instrument, | |
mit welchem neuerdings gegen die Klimaaktivisten vorgegangen wird. „Es | |
zeigt sich jetzt, dass die Tausenden von Menschen, die 2018 in Bayern gegen | |
das PAG auf die Straße gegangen sind, das richtige Grundgefühl hatten.“ Ein | |
breites Bündnis von FDP bis Marxistisch-Leninistische Partei hatte damals | |
gegen das Gesetz demonstriert. | |
## Verstoß gegen Artikel 102 der bayerischen Verfassung? | |
Immerhin war das Gesetz nach diesen Protesten und der Überprüfung durch | |
eine Kommission an manchen Stellen wieder entschärft worden. Für den | |
Präventivgewahrsam hieß das, dass die sogenannte Unendlichkeitshaft | |
zurückgenommen wurde. Ursprünglich hätten Menschen, die nach Ansicht der | |
Polizei eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit planen, für drei Monate | |
inhaftiert werden können, und diese Präventivhaft hätte dann beliebig oft | |
um weitere drei Monate verlängert werden können. | |
Aber auch mit der derzeitigen Präventivhaft von bis zu zwei Monaten, die | |
schon für drohende Ordnungswidrigkeiten verhängt werden dürfe, stehe Bayern | |
allein auf weiter Flur, kritisiert Schulze. In keinem anderen Bundesland | |
gebe es vergleichbare Regelungen. Dass jetzt auch noch [4][Berlins | |
sozialdemokratische Innensenatorin Iris Spranger fordert, sich an Bayern | |
ein Beispiel zu nehmen und die Präventivhaft zu verlängern], hält die | |
Grünen-Politikerin für „Quatsch“. | |
Auch unter Juristen ist das Gesetz umstritten. So strengte eine Gruppe von | |
Jurastudentinnen und -studenten um die Lehrbeauftragten Isabel Feichtner, | |
Markus Krajewski und Martin Heidebach schon 2018 eine Popularklage vor dem | |
obersten bayerischen Gericht an. Die Popularklage ist eine bayerische | |
Einzigartigkeit: Hier hat jeder Bürger das Recht gegen ein Gesetz zu | |
klagen, wenn er der Ansicht ist, dass es nicht mit der Verfassung vereinbar | |
ist. Eine persönliche Betroffenheit muss er nicht nachweisen. | |
62 Seiten umfasst [5][das Schriftstück, in dem die Verfasser darlegen, | |
wieso das Gesetz ihrer Beurteilung nach gegen die Bayerische Verfassung | |
verstößt]. Da geht es um den Begriff der „drohenden Gefahr“, | |
Überwachungsbefugnisse, aber eben auch um die umstrittene Präventivhaft. | |
Diese verletze Artikel 102 der Verfassung, der die Freiheit der Person | |
garantiere. | |
## „Der Gedanke des Gesetzes wird auf diese Weise pervertiert“ | |
Wie das Instrument der Präventivhaft jetzt angewandt wird, vergrößert die | |
ohnehin schon große Skepsis der PAG-Kritiker noch einmal. „Ich finde das, | |
vorsichtig formuliert, extrem problematisch“, sagt Krajewski, der den | |
Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der | |
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg innehat. | |
Dabei lehnt Krajewski eine Präventivhaft nicht grundsätzlich ab. „Ich gebe | |
meinen Studentinnen und Studenten da immer ein Beispiel: Wenn ein Mann mit | |
dem Messer vor der Wohnung seiner Ex-Frau steht und sagt: ‚Ich bring dich | |
um!‘, dann muss ihn die Polizei natürlich erst mal aus dem Weg schaffen.“ | |
Da sei eine Präventivhaft von 48 Stunden, wie in den meisten Bundesländern | |
üblich, völlig angemessen. In der Zeit könne dann beurteilt werden, wie man | |
weiter verfahre und für die Sicherheit der Frau sorge. | |
Aber 30 Tage? Und das für eine gewaltfreie Protestaktion? „Der Gedanke des | |
Gesetzes wird auf diese Weise pervertiert.“ Terroranschläge, Amokläufe und | |
Stalking – das waren die Beispiele, [6][mit denen Ministerpräsident Söder | |
bei der Einführung des Gesetzes dessen Notwendigkeit begründete]. | |
Stattdessen kommt es nun zur Anwendung gegen Klimaaktivisten. | |
Dabei, so Krajewski, „ist ja noch nicht einmal geklärt, dass das, was die | |
Aktivisten da machen, überhaupt eine Straftat oder eine schwerwiegende | |
Ordnungswidrigkeit ist.“ Mit der Präventivhaft, die ja nur der Verhinderung | |
solcher Taten dienen könne, nehme die Polizei die Antwort auf diese Frage | |
einfach mal vorweg. | |
## Innenminister Herrmann droht „Klima-Chaoten“ | |
Im Raum steht natürlich der Vorwurf der Nötigung. Das sei aber ein sehr | |
spezieller Straftatbestand, erklärt der Jurist. Anders als bei anderen | |
Straftaten müsse bei der Frage, ob eine Nötigung vorliege, auch das Motiv | |
des Täters berücksichtigt werden. Und da diese Aktionsformen völlig neu | |
seien, müssten hier auch erst einmal entsprechende Urteile abgewartet | |
werden. | |
Abwarten jedoch ist nicht das, was der bayerischen Staatsregierung derzeit | |
vorschwebt. „Der Rechtsstaat darf sich nicht von den Klima-Chaoten an der | |
Nase herumführen lassen“, stellt Innenminister Joachim Herrmann klar. „Wenn | |
die Täter dann auch noch selbst ankündigen, zeitnah weitere Aktionen | |
durchzuführen, müssen sie mit einer Gewahrsamnahme rechnen, um | |
Wiederholungstaten zu verhindern.“ | |
Es ist wieder ein Montagvormittag, als sich diese Woche erneut Aktivisten | |
in München auf der Straße festkleben, diesmal auf der Luitpoldbrücke, | |
direkt unter den Augen des Friedensengels. Sie seien vorläufig in Gewahrsam | |
genommen worden, teilt die Polizei wenige Stunden später mit. Nach dem | |
Polizeikessel von 1992 hatte Streibl erklärt: „Jeder muss wissen, wenn er | |
nach Bayern kommt, dass er es eben mit Bayern zu tun hat.“ | |
22 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.joergalt.de/ | |
[2] https://www.ekd.de/Bedford-Strohm-Heinrich-11078.htm | |
[3] /Katharina-Schulze/!t5481789 | |
[4] /Vorbeugehaft-fuer-Klima-Aktivisten/!5896129 | |
[5] https://www.rph1.rw.fau.de/files/2018/05/Popularklage-Endg%C3%BCltige-Fassu… | |
[6] https://www.bayernkurier.de/inland/33006-das-ziel-ist-opfer-zu-verhindern/ | |
## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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