# taz.de -- Prozess gegen „Letzte Generation“: Verständnis, dennoch Strafe | |
> In München stehen Klimaaktivisten vor Gericht. Der Richter teilt ihre | |
> Motive, verurteilt die Straßenblockierer aber trotzdem. | |
Bild: Richter Alexander Fichtl sitzt zu Beginn des Prozesses gegen drei Klimaak… | |
MÜNCHEN taz | Manchmal mahlen sie auch ganz schnell, die Mühlen der Justiz. | |
Es ist noch keine vier Wochen her, dass sich 16 Mitglieder der Bewegung | |
[1][Letzte Generation] am Münchner Platz Stachus auf der Straße | |
festklebten, schon stehen drei von ihnen vor Gericht, zwei Männer im Alter | |
von 23 und 31 Jahren sowie eine 25-jährige Frau. | |
So hat man sie sich allerdings nicht vorgestellt, die Klima-RAF. Adrett | |
gekleidet, freundlich lächelnd sitzen sie im Gerichtssaal, eher Typ nette | |
Nachbarskinder. Sie sei nie mutig gewesen, mehr eine Mitläuferin, die stets | |
darauf bedacht gewesen sei, zu machen, was man von ihr erwartet, erzählt | |
die Angeklagte Charlotte S., die zwischen ihren beiden Mitangeklagten | |
sitzt. Und Joel S. neben ihr wendet sich höflich an seine Zuhörer: | |
„Verehrtes Gericht, Herr Staatsanwalt …“ Von wegen Krawallos, die ohne | |
Rücksicht auf Verluste Unruhe stiften wollen. | |
Im Eilverfahren wird ihr Fall nun vor dem Amtsgericht München verhandelt. | |
Ein Eilverfahren, so erklärt ein Gerichtssprecher, kann von der | |
Staatsanwaltschaft beantragt werden, wenn die Sache aufgrund des einfachen | |
Sachverhalts oder der klaren Beweislage zur sofortigen Verhandlung geeignet | |
ist. Kurzer Prozess also? | |
Nicht ganz. Zweieinhalb Stunden hat Richter Alexander Fichtl für die | |
Verhandlung veranschlagt. Sie wird doppelt so lange dauern. | |
Es ist kurz nach halb zwei, als die drei Angeklagten nach und nach den Saal | |
277 des Justizgebäudes betreten. Alle drei saßen sie bis Samstag im | |
Gefängnis – nicht als Strafe für die Aktion am Stachus oder irgendeine | |
andere Tat, sondern rein prophylaktisch. Das spezielle bayerische | |
Polizeiaufgabengesetz macht es möglich, Menschen ohne Gerichtsverfahren für | |
bis zu zweimal 30 Tage am Stück in Präventivhaft zu nehmen. Bis zum Freitag | |
hätte ihr Aufenthalt in Stadelheim eigentlich dauern sollen. Doch dann | |
wurden sie nach der Ankündigung der Letzten Generation, für eine Woche ihre | |
Aktionen auszusetzen, vorzeitig entlassen. | |
## Nach der Freilassung direkt wieder zum Stachus | |
Die umstrittene Präventivhaft ist auch Thema auf der | |
Innenministerkonferenz, die seit Mittwochabend in München tagt. Gastgeber | |
Joachim Herrmann verteidigt das Instrument, kündigt in der Augsburger | |
Allgemeinen allerdings an, einen Gewahrsam von 30 Tagen nur in absoluten | |
Ausnahmefällen anwenden zu wollen. Derzeit jedoch scheinen sich die | |
Ausnahmefälle zu häufen. Ein gutes Dutzend Klimaaktivisten saßen zuletzt in | |
Stadelheim. | |
Zurück in den Gerichtssaal, in dem es nicht um die Haft von Charlotte S., | |
Joel S. und Lars Nicolai W. geht, sondern darum, ob sie sich mit ihrer Form | |
des Protests strafbar gemacht haben. Die Tat selbst ist – vom einen oder | |
anderen Detail abgesehen – nicht weiter strittig: Am Donnerstag, dem 3. | |
November, starteten die Klimaaktivisten ihre Aktion, klebten sich am | |
Fußgängerübergang über den Altstadtring fest – insgesamt sind es sieben | |
Fahrstreifen an dieser Stelle. So blockierten sie den Autoverkehr, bis die | |
Polizei sie von der Fahrbahn abgelöst hatte. In Richtung Norden dauerte | |
dies mehr als zwei, in Richtung Süden sogar mehr als zweieinhalb Stunden. | |
Es entstand, wie die Staatsanwaltschaft den Angeklagten vorwirft, „ein | |
Rückstau mit einer unbekannten Länge sowie einer unbekannten Anzahl | |
geschädigter Personen“. | |
Die Aktivisten wurden vorläufig festgenommen. Als sie am Abend entlassen | |
wurden, gingen sie direkt wieder zum Stachus und klebten sich erneut auf | |
der Fahrbahn fest. Dieselbe Prozedur wiederholte sich, diesmal war die | |
Straße von 18.45 bis 23.50 Uhr gesperrt, da sich einer der Aktivisten | |
offenbar besonders effektiv verklebt hatte. Für die Staatsanwaltschaft | |
steht fest: Nötigung in zwei Fällen. | |
## „Es geht mir nicht um Eisbären“ | |
Nun ist da freilich noch die Frage des Motivs, die gerade beim Delikt der | |
Nötigung eine wichtige Rolle spielt. Klar, dass es hier um eine politische | |
Sache geht. Es sei auch ihr gutes Recht, sich zu ihrer politischen | |
Motivation zu äußern, sagt der Richter. „Ich kann mir vorstellen, dass | |
jeder von Ihnen eine Stunde reden könnte. Aber ich bitt’ Sie drum, dass Sie | |
es nicht ausufern lassen.“ | |
Eine Bitte, der die drei sogar nachkommen, aber dennoch nehmen sie sich die | |
nötige Zeit, ihre Beweggründe zu schildern. Man sei gerade auf dem Highway | |
zur Klimahölle unterwegs, erklärt beispielsweise Joel S., und zwar mit dem | |
Fuß auf dem Gaspedal. Und das seien nicht seine Worte, sondern die von | |
UN-Generalsekretär António Guterres. Es gehe ihm nicht um den Planeten, dem | |
sei egal, ob es hier noch Menschen gebe oder nicht. „Es geht mir auch nicht | |
um Eisbären. Glauben sie mir, wegen Eisbären würde ich keine | |
Gefängnisstrafe auf mich nehmen.“ Es gehe ihm und seinen Mitstreitern um | |
die Menschheit, um den Erhalt einer Welt, „in der wir gut und gerne leben | |
können“. | |
Auch die Demokratie sei in Gefahr. In einer drei oder vier Grad wärmeren | |
Welt würden die inneren und äußeren Spannungen so groß, dass das die | |
Demokratie nicht überleben würde: „In einer Klimahölle wird es keine | |
Demokratie geben.“ Und warum ausgerechnet das Mittel des Anklebens, will | |
der Richter wissen. Um die Notlage greifbar und erfahrbar zu machen, | |
argumentieren die Aktivisten. „Wortwörtlich zeigen wir: Halt, stopp, so | |
geht’s nicht weiter.“ | |
## Extra Rettungsgasse eingeplant | |
Andere Demonstrationsformen, erklärt Lars Nicolai W., führten nicht zum | |
Ziel. „Wir haben gesehen, dass Proteste ignoriert werden, wenn wir sie auf | |
die gängigen Methoden austragen. Und diese Straßenblockaden sind nicht zu | |
ignorieren.“ Dabei sei ihnen aber immer auch wichtig gewesen, Leben zu | |
schützen. Sie hätten sich bewusst so verteilt, dass immer zwei Personen, | |
die sich nicht an der Straße, sondern an einer weiteren Person angeklebt | |
hätten, zur Seite gehen und eine Rettungsgasse hätten freigeben können. | |
Darin würden sie sich im Übrigen von der Bundesregierung unterscheiden, die | |
nicht von sich behaupten könne, Leben zu schützen. „Herr Richter“, sagt | |
Joel S., „ich glaube nicht, dass Menschen in 30 Jahren verstehen werden, | |
warum wir hier vor Gericht sitzen und nicht die Bundesregierung.“ | |
Den Angesprochenen hält jedoch auch diese Vorstellung nicht davon ab, die | |
drei Aktivisten wegen Nötigung zu verurteilen. Seiner Meinung nach hätten | |
sie in allem Recht, was sie zum Klimawandel und dem Unvermögen der Politik, | |
ihn wirksam zu bekämpfen, vorgebracht hätten. „Sie haben nur in einem Punkt | |
nicht Recht: Sie haben Unrecht in der Wahl Ihrer Mittel.“ Sie hätten ihr | |
Ziel auf politischem Wege verfolgen müssen, so Amtsrichter Fichtl, | |
andernfalls hebelten sie den demokratischen Rechtsstaat aus. Heißt in | |
Zahlen: 25 Tagessätze. Für Joel S. und Charlotte S., die aktuell über kein | |
eigenes Einkommen verfügen, bedeutet das eine Geldstrafe von 375, für Lars | |
Nicolai W. von 525 Euro. | |
„Wir sind nicht zufrieden“, sagt hinterher Maja Beisenherz, eine der | |
Verteidigerinnen vor dem Gerichtssaal. „Es hätte ein Freispruch sein | |
müssen.“ Es sei nicht unwahrscheinlich, dass man Rechtsmittel gegen das | |
Urteil einlegen werde. | |
1 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Letzte-Generation/!t5833405 | |
## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
## TAGS | |
Prozess | |
Bayern | |
Gerichtsurteil | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
GNS | |
Gerichtsverfahren | |
Letzte Generation | |
Amtsgericht | |
Schwerpunkt Klimaproteste | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Extinction Rebellion | |
Katharina Schulze | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Klimaproteste in Berlin und München: Letzte Generation wieder aktiv | |
Trotz Geldstrafen, Gefängnis und Kritik: Aktivist:innen der Letzten | |
Generation sind mit Protesten in München und Berlin in die Woche gestartet. | |
Innenminister contra „Letzte Generation“: Klima-Kleber kriminell? | |
Die Union-Innenminister der Länder wollen prüfen, ob die Letzte Generation | |
eine kriminelle Vereinigung ist. Die Justiz ist da bislang milder. | |
Antwort auf Kritik des grünen Ministers: „Letzte Generation“ gegen Habeck | |
Fortschritt wird durch Druck von der Straße erkämpft, so die Aktivisten. | |
Der Wirtschaftsminister hatte ihre Proteste als nicht hilfreich bezeichnet. | |
Prozess nach Klimaprotest in Berlin: Gysi verteidigt Letzte Generation | |
Der Linken-Politiker und Rechtsanwalt hat einen der angeklagten Aktivisten | |
vor Gericht vertreten. Vorerst war er dabei erfolglos. | |
Neuer Klimaprotest in Großbritannien: Schleichen statt Kleben | |
Die Klimagruppe Just-Stop-Oil probiert in London eine neue Protestform aus. | |
Autofahrer:innen bringen sie damit immer noch auf die Palme. | |
Präventivgewahrsam für Klimaaktivisten: Die bayerische Art | |
Bayern greift hart durch: Wer sich hier auf die Straße klebt, landet oft | |
direkt im Knast. Möglich macht es ein noch immer umstrittenes Gesetz. |