# taz.de -- Zur gegenwärtigen Schwäche der Linken: Marx war gestern | |
> In der Krise mobilisiert die Rechte die Unzufriedenen im Land. Sie hat | |
> die soziale Frage gekapert. Dabei hat sie überhaupt keine Antwort. Ein | |
> Essay. | |
Bild: Gera, Ende September: Björn Höcke bei einer AfD-Demo gehen die Energiep… | |
Die soziale Frage ist zurück. Nicht als abstrakte Debatte, sondern ganz | |
real. Die einen stellen den Joghurt bei Aldi nach dem Blick auf das | |
Preisschild wieder ins Kühlregal, andere verzichten auf den | |
Schwimmbadbesuch mit der Familie oder den Jahresurlaub. Millionen Menschen | |
sind arm, und die Abstiegsangst reicht bis hinein in die Mittelschicht aus | |
Doppelverdienerhaushalten. | |
Doch die Krise trifft nicht alle gleich. Unternehmen machen Extraprofite, | |
DAX-Vorstände streichen Rekordlöhne ein. Die Klassenfrage ist zurück. | |
Die Erkenntnis ist nicht neu. In der globalen Banken- und Wirtschaftskrise | |
ab 2007/08 gehörte es bis ins konservative Establishment fast schon zum | |
Allgemeingut, Karl Marx zu rehabilitieren, „Das Kapital“ fand reißend | |
Absatz, und der FAZ- Feuilletonchef Frank Schirrmacher bekannte: „Ich | |
beginne zu glauben, dass die Linke recht hat.“ | |
Genutzt hat es freilich wenig: Die Krisenkosten zahlten wie immer im | |
Kapitalismus die Armen, und als makaberer Höhepunkt gründete sich als Folge | |
der Eurokrise ab 2010 die Alternative für Deutschland. | |
## Wenig sozial klingender Slogan | |
Im Jahr 2022 hat noch niemand in der öffentlichen Debatte Marx ausgegraben, | |
im Gegenteil: die Rechte ist dabei, Angst und Wut der Menschen zumindest in | |
Ostdeutschland erfolgreich zu kapern. An diesem Samstag startet die AfD | |
ihre „Sozialkampagne“ unter dem wenig sozial klingenden Slogan „Unser Land | |
zuerst“ mit einer Demonstration in Berlin. | |
Schon in den vergangenen Wochen haben rechte Netzwerke im Zusammenspiel mit | |
der AfD jeden Montag Zehntausende im Osten auf die Straßen mobilisiert: | |
Zuletzt, am Tag der deutschen Einheit, waren es [1][mehr als 100.000 in 235 | |
Städten]. Die Rechtsex-tremismusexpertin der Linken im sächsischen Landtag | |
sprach bereits von einer „faschistischen Massenbewegung“. | |
Viele Teilnehmer:innen treibt zwar die Angst vor dem sozialen Abstieg, | |
doch thematisch stehen die Kritik am Establishment, an der Coronapolitik, | |
an den Medien, an USA und Nato sowie die Zuwendung zu Russland im | |
Vordergrund. Von linken Akteuren erhoffen sich die Demonstrierenden, die | |
durchaus auch aus bürgerlichen Kreisen stammen, keine Antworten. | |
Dabei schien es doch Gesetz: Wo Klassengegensätze so offen wie jetzt zutage | |
treten, wo es soziale Absicherung und Teilhabe zu erstreiten gilt, ist die | |
Linke tonangebend. Das war schon immer ihre historische Mission, doch heute | |
hechelt sie hinterher. Zwar schießt nahezu täglich ein neues linkes | |
Sozialbündnis aus dem Boden, doch die Massen der Betroffenen erreicht die | |
Linke nicht: Nicht in den großen, liberal oder links tickenden Städten, | |
nicht im Westen; schon gar nicht aber kriegt sie ein Bein da auf den Boden, | |
wo die Rechten besonders stark sind: in der ostdeutschen Provinz. | |
## Spezifisch ostdeutscher Trotz | |
Der AfD ist es in den Jahren ihres Bestehens gelungen, beträchtliche Teile | |
der Arbeiterklasse an sich zu binden. Bei der vergangenen Bundestagswahl | |
wählten sie insgesamt 10,3 Prozent, aber 21 Prozent der Arbeiter:innen | |
– nur 5 Prozent von diesen stimmten für die Linke. Im Osten hat sich die | |
AfD als Volkspartei etabliert, und es gelingt ihr, einen spezifisch | |
ostdeutschen Trotz gegen die sich rasant verändernde Welt zu bestärken. | |
Mit einer sozialen Agenda hat das wenig zu tun. In der Partei und ihrer | |
Programmatik sind marktradikale Lösungen tonangebend. Der besonders im | |
Osten verankerte rechtsextreme Flügel um den Thüringer Partei- und | |
Fraktionschef Björn Höcke spielt sich zwar mitunter als soziales Gewissen | |
der Partei auf, tickt aber vor allem nationalistisch. | |
So sagte Höcke schon 2016 bei einer Demonstration in Schweinfurt: „Die | |
soziale Frage der Gegenwart ist nicht primär die Verteilung des | |
Volksvermögens von oben nach unten, unten nach oben, jung nach alt oder alt | |
nach jung. Die neue deutsche soziale Frage des 21. Jahrhunderts ist die | |
Frage nach der Verteilung des Volksvermögens von innen nach außen.“ Die | |
Antwort der Rechten auf soziale Krisen ist, die unteren Klassen | |
gegeneinander auszuspielen, anhand von Herkunft, Pass und auch von | |
Leistungsprinzipien. | |
Dass viele Menschen diese Spaltungsversuche nicht zurückweisen, liegt auch | |
daran, dass [2][die AfD und ihre Verbündeten] erfolgreich die Systemfrage | |
besetzt haben. Die Unzufriedenen sehen in ihnen das Vehikel für ihre Ängste | |
und Wut, für ihre Gegnerschaft zu einem System, das keinen ausreichenden | |
Schutz verspricht. | |
## Die Rechte setzt aufs Identitätsgefühl | |
Schlussendlich ist es dann egal, ob sich soziale Ängste aus dem Zuzug von | |
Flüchtlingen, Corona oder jetzt Inflation und Energiepreiskrise speisen. | |
Die Rechte ist immer da, um diese Ängste abzugreifen, setzt erfolgreich auf | |
das Identitätsgefühl eines unverstandenen und wirtschaftlich immer noch | |
abgehängten Ostens und verstärkt den latent vorhandenen Rassismus und | |
Sozialchauvinismus in der Bevölkerung. | |
Konkrete Forderungen, die die Lebenssituation der Menschen verbessern | |
würden, sucht man auf den rechten Demonstrationen vergebens. Dabei | |
befürworten drei Viertel der Deutschen, dass der Staat für eine | |
Verringerung der Unterschiede zwischen Arm und Reich sorgt, genauso viele | |
halten eine Vermögenssteuer für gut oder sehr gut, wie aus einer jüngst | |
veröffentlichten Umfrage der Bertelsmann-Stiftung hervorgeht. | |
Von der organisierten Rechten sind solche Vorschläge nicht zu hören, im | |
Gegenteil: Die AfD setzt laut ihrem Programm auf Eigentum und | |
Eigenverantwortlichkeit, Deregulierung, verbindliche Höchststeuern und die | |
Schuldenbremse. | |
Doch die Netzwerke aus den Anti-Flüchtlingsprotesten von 2015 und jenen | |
gegen die Coronamaßnahmen tragen auch die aktuellen Straßenproteste. Schon | |
ein Aufruf gegen „die da oben“ in rechten und verschwörungsideologischen | |
Telegramgruppen – es gibt allein 20 mit über 100.000 Mitgliedern, dagegen | |
keine einzige linke in dieser Größenordnung – reicht aus, um die Menschen | |
zu Protesten zu motivieren. Das gilt zumindest für den Osten und dort vor | |
allem für die Klein- und Mittelstädte, wo Prekarität und Abstiegsängste | |
weiter verbreitet, Löhne und Vermögen deutlich geringer sind als im Westen | |
– und die demokratische Kultur schwächer ausgeprägt. | |
## Direkten Kontakt verloren | |
Die Linke dagegen hat den direkten Kontakt zu jenem Teil der Bevölkerung, | |
der sich selbst als „normal“ definiert, also als nicht privilegiert, | |
überwiegend verloren. Die letzten linken Sozialproteste, gerade auch in | |
eben jenen ostdeutschen Regionen, fanden 2004 als Montagsdemonstrationen | |
gegen den Sozialabbau der Hartz-Gesetze statt. | |
Auch damals schon versuchten Rechte, letztlich aber eher erfolglos, diese | |
Proteste für sich zu kapern. Doch seitdem hat sich die Linke als Ganzes | |
sowohl von dem Thema als auch von dieser Klientel entfernt, ja tritt jenen, | |
die nicht all ihre Glaubenssätze teilen, nicht selten mit Verachtung | |
entgegen. | |
Man muss kein [3][Sahra Wagenknecht-Fan] sein, um zu konstatieren, dass | |
weite Teile der Arbeiter:innenschaft die gesellschaftliche Linke vor | |
allem über Themen wahrnehmen, die sie nicht als ihre dringendsten Sorgen | |
begreifen. Anders als Wagenknecht, die ihrerseits aufs Ausspielen setzt, | |
wäre es aber die Aufgabe der Linken, die Klassenfrage mit allen weiteren | |
Ausgrenzungsfragen zu verbinden. | |
Bei einigen der außerparlamentarischen Linken, die sich nun zumindest in | |
den größeren Städten zu neuen Sozialbündnissen zusammenfinden, kann man | |
fragen, wieso sie sich erst jetzt der Verteilungsgerechtigkeit widmen. Auch | |
die vergangenen 20 Jahre ging es in Deutschland nicht gerecht zu, lebten | |
Millionen Menschen und fast jedes vierte Kind in Armut, war die Unfähigkeit | |
des kapitalistischen Systems, Grundbedürfnisse der Menschen dauerhaft zu | |
befriedigen, offensichtlich. Zu selten gelang es linken Initiativen wie | |
etwa der Berliner Mietenbewegung, konkrete soziale Themen massentauglich zu | |
formulieren. | |
## Die Klassenfrage | |
[4][Die Klassenfrage] ist als eines von vielen linken Themen kaum | |
wahrnehmbar gewesen, soziale Forderungen waren etwa bei der Klimabewegung | |
zu oft nur Anhängsel. Stattdessen lässt sich die gesellschaftliche Linke | |
durch von rechter Seite angefeuerte kulturelle Debatten treiben. Weit | |
verbreitet und von rechts geschürt ist dabei die Wahrnehmung, dass linke | |
Kämpfe um Identität und Anerkennung nicht das System infrage stellen, | |
sondern vom Establishment integriert werden und dessen Macht festigen. | |
Angesichts dieser höchst brenzligen Situation wird sich die Linke einer | |
Selbstkritik stellen müssen. Dann bietet sich immerhin die Chance, aus den | |
Fehlern zu lernen. Die soziale Frage muss im Verbund mit der ökologischen | |
ins Zentrum rücken – ohne dass dies eine Abwertung von feministischen oder | |
antirassistischen Perspektiven bedeutet. Es braucht die gemeinsame | |
Perspektive der Nicht-Privilegierten, eine Perspektive, die in der | |
Forderung nach Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums ihren | |
zentralen Ausdruck findet. | |
Vielleicht ist es noch nicht zu spät, die soziale und die Klassenfrage so | |
zu besetzen, dass sich die rechte Hegemonie auf den Straßen nicht | |
verfestigt. Schließlich braucht es darauf echte Antworten. | |
7 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Erik Peter | |
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