Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Gewerkschaften und Sozialproteste: Lauwarmer Herbst
> Die meisten Gewerkschaften scheuen den Konflikt mit der SPD und
> überlassen Proteste weitgehend der AfD. Diese Klüngelei war historisch
> nicht immer so.
Bild: Michael Vassiliadis (li) bei der Vorstellung des Vorschlags der Unabhäng…
Bei der Vorstellung der “Gaspreisbremse“ zeigte sich ein irritierendes
Bild: Michael Vassiliadis, Chef der drittgrößten Mitgliedsorganisation im
Deutschen Gewerkschaftsbund, trat als eine Art informeller
Regierungssprecher vor Kameras und Mikrofone. Unter dem Motto [1][“Sicher
durch den Winter“] erläuterte der Vorsitzende der IG Bergbau-Chemie-Energie
die Idee, Privathaushalten einen Monatsabschlag der Heizkostenrechnung als
mageres staatliches Weihnachtsgeschenk zu erstatten. Preisbegrenzungen
hingegen soll es frühestens im März oder April nächsten Jahres geben.
Gebremst wird also paradoxerweise erst dann, wenn es im Frühling nicht mehr
so dringlich ist. Zudem wird die Industrie nach den Plänen eindeutig
priorisiert. Die Unternehmen sollen sieben Cent pro Kilowattstunde zahlen,
Privatleute zwölf. Weiterhin profitieren Gewerbebetriebe schon ab Januar
2023 von den günstigeren Konditionen – mit der Begründung, die finanzielle
Entlastung sei dort wegen einer klareren Datenbasis leichter umsetzbar.
Gewerkschafter Vassiliadis von der IG-Bergbau-Chemie-Energie repräsentiert
eine Branche, die stark betroffen wäre, [2][falls Energie in den nächsten
Monaten wirklich knapp werden sollte]. In der “Kommission Gas und Wärme“,
die das Konzept ausgearbeitet hat, vertrat er vorrangig die Interessen der
eigenen Klientel. Die Beschäftigten der Aluminiumhersteller zum Beispiel
benötigen in ihren Produktionsabläufen besonders viel Energie. Deren Jobs
sichern zu wollen, ist ein verständliches gewerkschaftliches Anliegen. Doch
müssen Arbeitnehmervertretungen deshalb die Politik einer
sozialdemokratisch geführten Regierung kritiklos unterstützen?
Statt mit oppositionellen Kräften kooperiert der DGB in bekannter Manier
mit der SPD. Die Gewerkschaften verlangen zwar finanzielle Entlastungen für
Menschen mit geringem oder mittlerem Einkommen und eine höhere Besteuerung
von Vermögenden. Die Straßenproteste gegen teure Energie und hohe
Inflationsraten aber [3][überlassen sie weitgehend der AfD]. Die eigentlich
dafür prädestinierte Linkspartei ist durch interne Konflikte geschwächt und
meist mit sich selbst beschäftigt. Zusätzlich schreckt ab, dass
Regierungsmitglieder wie Innenministerin Nancy Faeser die Demonstrationen,
ähnlich wie schon in der Corona-Krise, pauschal unter den Verdacht der
“Demokratiefeindlichkeit“ gestellt haben.
## Anders in Großbritannien und Österreich
Die aktuellen gewerkschaftlichen Forderungen für die kommenden Tarifrunden
in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst liegen immerhin zwischen
acht und zehn Prozent mehr Lohn. Das klingt auf den ersten Blick hoch,
dürfte im Ergebnis jedoch nicht mal die Preissteigerungen ausgleichen. Denn
Forderungen sind bekanntlich noch keine Abschlüsse, zu ihrer Durchsetzung
bedarf es kämpferischer Aktionen bis hin zu Streiks.
Doch bisher hat es noch keine gewerkschaftlichen Demonstrationen gegeben –
anders als in Nachbarländern wie Großbritannien oder Österreich. Der ÖGB
organisierte schon Mitte September landesweite Proteste gegen Energiekrise
und Teuerung, zudem hat der österreichische Dachverband einen eigenen
Vorschlag zur Übergewinnsteuer entwickelt. [4][Der britische Aufruf “Don’t
pay UK“] ermuntert Millionen Gaskund:innen dazu, das Bezahlen ihrer
Energierechnung zu verweigern. Unterstützt wird die breit angelegte
Kampagne wesentlich vom Trade Union Congress TUC, dem Pendant zum DGB auf
der Insel.
Das Verhältnis der (formal überparteilichen) deutschen Gewerkschaften zur
Bundesregierung war historisch betrachtet stets ambivalent. Unter
CDU-geführten Kabinetten hörte man auf den Kundgebungen zum Tag der Arbeit
am 1. Mai häufig verbalradikale Floskeln wie die Warnung vor einer
“Koalition aus Kabinett und Kapital“. Harmonischer ging es zu, wenn die
Sozialdemokratie den Kanzler stellte, doch selbst dann scheuten die
DGB-Organisationen keineswegs jede Konfrontation.
1974 zum Beispiel trug ein harter Streik im öffentlichen Dienst mit stark
eingeschränktem Nahverkehr und überquellenden Mülltonnen auf den Straßen
maßgeblich zum bald folgenden Sturz von Willy Brandt bei. Heinz Kluncker,
der mächtige Vorsitzende der Gewerkschaft ÖTV, einer Vorläuferorganisation
von ver.di, setzte im damaligen Arbeitskampf eine zweistellige
Tariferhöhung durch – [5][nach dem Ölpreisschock] bestand wie heute die
Gefahr einer beschleunigten Inflation. Und auch später, als Rot-Grün unter
SPD-Regierungschef Gerhard Schröder Mitte der Nuller Jahre die
Hartz-Gesetze durchsetzen wollte, mobilisierten die
Arbeitnehmerorganisationen mit Massendemonstrationen gegen das Vorhaben.
## Sozialpartnerschaftliche Kungelei
Derzeit dominiert sozialpartnerschaftliche Kungelei, höflicher ausgedrückt:
mitwirkende Zusammenarbeit in einer “Konzertierten Aktion“ – so heißt der
Pakt zwischen Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften in Anlehnung an
frühere Zeiten.
Die Arbeitnehmerorganisationen im DGB bilden allerdings keinen
einheitlichen Block. Ver.di-Chef Frank Wernecke, wie sein IG BCE-Kollege
Michael Vassiliadis Mitglied der Gaspreis-Kommission, hält die jetzt
präsentierte Regelung für “nicht ausreichend sozial ausbalanciert“. Die
stärker links ausgerichtete Dienstleistungsgewerkschaft hat sich mit dem
Paritätischen Wohlfahrtsverband, dem BUND, Campact, Attac und der
Initiative Finanzwende zusammengetan.
[6][Gemeinsame Demonstrationen sind für das kommende Wochenende
angekündigt], doch noch bleiben Aktionen im Bündnis mit anderen
emanzipatorischen Strömungen die Ausnahme. Der Unmut in der Bevölkerung
aber ist offensichtlich, die Bereitschaft zum Sozialprotest gerade in
Ostdeutschland groß. Die so entstandene Mobilisierungslücke füllen rechte
Bewegungen – in denen sich in der Tat auch Feinde der Demokratie tummeln.
20 Oct 2022
## LINKS
[1] /Steigende-Heizkosten/!5887731
[2] /Energieknappheit-in-Berlin/!5875702
[3] /AfD-Kampagne-zum-heissen-Herbst/!5880864
[4] /Energierechnungen-verweigern/!5874861
[5] /Angriffe-in-Saudi-Arabien/!5622984
[6] /Buendnis-ruft-zu-Energie-Protest-auf/!5885849
## AUTOREN
Thomas Gesterkamp
## TAGS
Verdi
Protest
GNS
Gewerkschaft
Sozialproteste
Energiekrise
DGB
Rechtsextremismus
Verdi
Energiekrise
Energiekrise
Energiekrise
Schwerpunkt AfD
Sozialproteste
## ARTIKEL ZUM THEMA
Keine Welle von Sozialprotesten: Lauwarm, leicht bewölkt
Einen „heißen Herbst“ hatten manche erwartet, von der Linkspartei über
Rechtsextreme bis zu Baerbock. Doch der Massenaufstand blieb aus. Warum?
Tarifkonflikt Deutsche Post: Schweres Paket zu verhandeln
Die Tarifverhandlungen zwischen der Post und Verdi gehen in die zweite
Runde. Ein Zusteller wünscht sich mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen.
Umfrage in sozialen Einrichtungen: Preise bedrohen Heime
Nach einer Umfrage des Paritätischen Wohlfahrtsverbands bedrohen die
höheren Preise die Existenz vieler sozialer Einrichtungen. Sie fordern
staatliche Hilfen.
Energiepreispauschale beschlossen: 300 Euro mehr für Rentner:innen
Der Bundestag hat die Energiepreispauschale verabschiedet. Ruheständler mit
Nebenverdienst kriegen den Heizzuschlag zweimal.
Linke Demo in Leipzig am Samstag: Gegen die soziale Kälte
Ein neues linkes Bündnis ruft Samstag zu einer Großdemo in Leipzig auf.
Kritik an der Bundesregierung soll nicht den Rechten überlassen werden.
Zur gegenwärtigen Schwäche der Linken: Marx war gestern
In der Krise mobilisiert die Rechte die Unzufriedenen im Land. Sie hat die
soziale Frage gekapert. Dabei hat sie überhaupt keine Antwort. Ein Essay.
Protestbündnis „Heizung, Brot, Frieden“: „Es ist ein Kampf um die Straß…
Uwe Hiksch von den Naturfreunden will bei Sozialprotesten
Russlandunterstützer und Schwurbler mitnehmen. Vor allzu linksradikalem
Auftreten warnt er.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.