# taz.de -- Ampel-Koalition und der Ukraine-Krieg: Die neue Machtarchitektur | |
> Mit der Ankündigung von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr | |
> überrumpelt Olaf Scholz Teile der SPD-Fraktion und auch die Grünen. | |
Bild: Altbundespräsident Gauck umarmt Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine | |
BERLIN taz | Rolf Mützenich hielt am Sonntag die wohl schwierigste Rede | |
seines Lebens. Niemand steht in der SPD so für Abrüstung, | |
Entspannungspolitik und rationaler Kooperation auch mit autoritären Regimen | |
wie der 62-jährige Fraktionsvorsitzende. Doch mit dem russischen Überfall | |
scheint all das ausradiert zu sein. Putins Krieg, sagt Mützenich bei der | |
Sondersitzung des Bundestages, sei „schmerzhaft und bitter“, auch für ihn, | |
der bis „zum Schluss alle diplomatischen Mittel nutzen wollte“. Künftige | |
Generationen, sagt er, „werden uns verurteilen, weil wir keine bessere | |
Welt“ hinterlassen haben. Es klingt fast wie eine Abschiedsrede. | |
Die Ampel hat nun andere Pläne. 100 Milliarden Euro werden in die | |
Aufrüstung gesteckt, [1][so die Ansage des Bundeskanzlers]. Damit hat Olaf | |
Scholz die eigene Fraktion und auch die Grünen überrumpelt. Rolf Mützenich | |
erfuhr von dem Plan, gemeinsam mit der Union per Grundgesetzänderung und | |
Sondervermögen 100 Milliarden Euro lockerzumachen, erst kurz vor Scholz’ | |
Regierungserklärung. Die Grünen verbreiten, dass noch nicht mal ihre | |
eigenen Kabinettsmitglieder von der Summe wussten. | |
Der Stil ist die Botschaft. Scholz hat zwei Jahre akribisch darauf | |
geachtet, die SPD-Linke mit einzubinden. Alle für Scholz, Scholz für alle, | |
das war ein Rezept für den SPD-Wahlsieg. Und auch in der Dreierkoalition | |
mit ihrer fragilen Balance hat der Kanzler auf Empfindlichkeiten geachtet. | |
Nach knapp 90 Tagen Ampel scheint das nicht mehr zu gelten. Scholz, noch | |
vor Kurzem als unsichtbar verspottet, regiert top-down – friss oder stirb, | |
wie zu Zeiten Gerhard Schröders. So erscheint die Rückkehr des | |
Basta-Kanzler-Politikstils als Kollateraleffekt des Krieges. | |
Als Olaf Scholz verkündete, man werde, wie von der Nato verlangt, künftig | |
mindestens 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Militär ausgeben – also | |
70 statt 50 Milliarden Euro jährlich –, sprang die Unionsfraktion auf und | |
applaudierte. Manch SPD-Linker fand diesen Hurra-Patriotismus befremdlich. | |
Ein SPD-Kanzler, der von der Union bejubelt wird und die eigene Fraktion | |
und den grünen Partner erst mal vor den Kopf stößt – ist das die | |
Machtarchitektur der Ampel in Krisenzeiten? | |
In der SPD fürchten manche eine Zeitenwende, auch für die Inhalte der | |
Koalitionspolitik. Also US-Tarnkappenjet F35 (Anschaffungskosten: 110 | |
Millionen Euro pro Stück) statt sozialem Wohnungsbau. Nils Schmid, | |
außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, glaubt, dass man die 100 | |
Milliarden „in den nächsten vier, fünf Jahren gut ausgeben“ kann. Und er | |
schließt nicht aus, dass zusätzlich im Haushalt noch mehr Geld für | |
Verteidigungsausgaben bereitgestellt wird. Dann könnten auch | |
sozialpolitische Vorzeigeprojekte wie Bürgergeld oder Kindergrundsicherung | |
wanken. Die stehen zwar fix im Koalitionsvertrag – aber ohne Preisschild. | |
Es wäre der Albtraum der Jusos, die immerhin [2][ein Viertel der | |
SPD-Fraktion stellen]. | |
Eine quälende Frage, die sich auch Rolf Mützenich stellt, lautet: Was ist | |
schiefgelaufen in der deutschen Russlandpolitik? Hätte Berlin das Desaster | |
verhindern können? Hat man Putins Angriff unfreiwillig durch Nord Stream 2 | |
und zu viel Sanftmut befördert? Das Konzept „Wandel durch Handel“, der | |
Versuch, das Gewaltrisiko durch wechselseitige Abhängigkeiten mit | |
autoritären Regimen zu mindern, scheint seit dem 24. Februar obsolet | |
geworden zu sein. „Die Zeiten werden rauer, härter und kälter“ sagt Nils | |
Schmid. | |
Michael Roth, als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses der | |
einflussreichste SPD-Außenpolitiker, meint, dass die russischen Raketen auf | |
Kiew ein politisches Konzept in Schutt und Asche gelegt haben: „Es war ein | |
Trugschluss, zu glauben, dass wirtschaftliche Verflechtungen zu mehr | |
Stabilität und Frieden führen.“ Das Sinnbild für das moralische Desaster | |
dieser Strategie in Sachen Russland ist ausgerechnet ein SPD-Mann: | |
Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Der hat als Gazprom-Lobbyist Nord Stream 2 | |
unterstützt und klammert sich nun, [3][fast eine tragische Figur], stur an | |
seinen Aufsichtsratsposten bei russischen Konzernen. | |
Was also ist schiefgelaufen? Die Erzählung, dass Deutschland es versäumt | |
habe, nach 2001, als Wladimir Putin noch im Bundestag umjubelt wurde, auf | |
Russland zuzugehen, und dass überhaupt die Nato-Osterweiterung falsch war – | |
sie hat in der SPD kaum noch Fürsprecher. Roth, der schon lange mehr | |
Distanz zu Moskau forderte, glaubt vielmehr, dass der Westen zu weich war. | |
Als Putin 2014 die Krim besetzte, seien die Sanktionen zu lasch gewesen, | |
sagt er: „Hätte man damals schärfer und weitreichender gehandelt, dann | |
hätte man Schlimmeres verhindern können.“ | |
Natürlich will auch Michael Roth am Grundprinzip der friedlichen | |
Konfliktlösung festhalten. Doch Abschreckung und Wehrhaftigkeit müssten nun | |
größer geschrieben werden. So sieht es auch Siemtje Möller, Sprecherin des | |
Seeheimer Kreises und Staatssekretärin im Verteidigungsministerium. Nach | |
Putins „eklatantem Bruch des Völkerrechts“ müsse Berlin nun | |
„Bündnisverteidigung und Abschreckung stärken“. Aber, das betont auch die | |
SPD-Rechte, wir müssen „gleichzeitig auf Dialog, internationale | |
Organisationen und friedliche Konfliktlösung setzen“. | |
Im Grunde ist das die alte Nato-Formel: Härte und Dialog. Trotz aller | |
Zeitenwende will die SPD nicht den Eindruck erwecken, das Kind mit dem Bade | |
auszuschütten. Man redet nicht von einer Aufrüstung der Bundeswehr, sondern | |
lieber von einer besseren Ausrüstung. SPD-Chefin Saskia Esken behauptet: | |
„Die SPD bleibt Friedenspartei.“ | |
Der Aufstand in der SPD-Fraktion, der sich am Montag zart angedeutet hatte, | |
bleibt aus. Bei der digitalen Fraktionssitzung am Dienstag nimmt Olaf | |
Scholz Kritikern den Wind aus den Segeln. Er habe den Weg über das | |
Sondervermögen ja extra gewählt, um genug Geld für den klimaneutralen Umbau | |
und Wohnungsbau zu haben, so die Botschaft. Scharfe Nachfragen gibt es | |
nicht. Kein Riss, nirgends. Scholz habe mit einer emotionalen Rede und | |
einer Art Regierungserklärung nach innen die Fraktion mitgenommen, heißt es | |
lobend. | |
Nach knapp zwei Stunden ist die Sitzung vorbei. Scholz stützt Mützenich. | |
Die Fraktion steht dafür geschlossen hinter dem Kanzler und drückt bei | |
dessen eigenwilliger Informationspolitik beide Augen zu. „Scholz und | |
Mützenich verkörpern die Bandbreite der SPD-Außen- und -Sicherheitspolitik. | |
Dafür gab es große Zustimmung“, sagt SPD-Finanzpolitiker Michael Schrodi. | |
Auch bei den Grünen verfliegt der Ärger über den Kanzler erstaunlich | |
schnell. Am Dienstagabend, kurz vor 22 Uhr, ist der grüne Parteichef Omid | |
Nouripour zu einer Videokonferenz zugeschaltet. Der Landesverband Bayern | |
hat ihn eingeladen, das Interesse ist riesig. Zwischendurch können sich | |
keine neuen User mehr einwählen – die Zoom-Lizenz der bayerischen Grünen | |
lässt nur 500 zu. Nouripour soll der Basis nun die Lage erläutern. Die | |
Frage, wer von den 100 Milliarden wusste, sei doch „nachrangig“, so der | |
Parteichef. Man müsse jetzt in die Zukunft blicken: Wie schnell soll das | |
Geld ausgegeben werden? Wie schafft man Energiesicherheit? Was ist mit den | |
ineffizienten Strukturen der Bundeswehr? | |
Die Grünen sind nicht per se gegen höhere Militärausgaben. Auch sie hoffen, | |
dass man per Sondervermögen Kürzungen in anderen Bereichen vermeidet. In | |
den Verhandlungen wollen sie jetzt aber auch Geld für Entwicklungshilfe und | |
den Ausbau der erneuerbaren Energien rausholen: Sarah-Lee Heinrich, Chefin | |
der Grünen Jugend, denkt statt an Kürzungen in der Sozialpolitik sogar an | |
neue Entlastungspakete angesichts von steigenden Energiepreisen. | |
„Sicherheit heißt auch soziale Sicherheit.“ | |
Der grüne Haushaltspolitiker Sven-Christian Kindler mahnt derweil vor zu | |
viel Eile. Der Deal um das Sondervermögen müsse nicht bis zum 16. März | |
fertig sein. Da soll das Kabinett eigentlich den Haushaltsentwurf | |
beschließen „Man kann das alles danach im parlamentarischen Verfahren | |
machen. Sorgfalt muss vor Schnelligkeit gehen“, sagt Kindler. „Bitte jetzt | |
keine hektischen Schnellschüsse!“ Also nichts mit Durchregieren und | |
Basta-Kanzler. | |
Tatsächlich ist Entscheidendes noch unklar. Die Bundeswehr bekommt seit | |
Jahren mehr Geld. Zweifel, ob das die notorische Schwäche der Bundeswehr | |
beseitigen wird, sind angebracht. Wie die Grünen ist auch Rolf Mützenich | |
skeptisch, ob ein höherer Etat allein „für eine effiziente | |
Verteidigungspolitik“ sorgt. Eher müsste man den in Deutschland besonders | |
mafiösen Beschaffungsdschungel lichten. Doch der soll jetzt erst mal | |
entschlossen gedüngt werden. Die Aktien von Rüstungskonzernen wie | |
Rheinmetall schossen am Montag in die Höhe. | |
Ob das 100-Milliarden-Paket den Haushalt nicht doch belasten wird, ist | |
ebenso unklar wie die Frage, wie schnell die Kredite zurückgezahlt werden. | |
Auch der Deal mit der Union wird die Ampel etwas kosten. In der | |
Unionsfraktion regt sich Widerstand gegen den Plan, per Sondervermögen die | |
Bundeswehr zu finanzieren; von weiteren Krediten für Wärmepumpen oder das | |
Bürgergeld ganz zu schweigen. Klar ist: Das Ja zum im Grundgesetz | |
verankerten Sondervermögen von 100 Milliarden Euro wird es von der Union | |
nicht umsonst geben. | |
Scholz’ Unterstützer argumentieren, dass die Regierung am Sonntag nach dem | |
Überfall auf die Ukraine ein Zeichen setzen musste. Es ist, mit 100 | |
Milliarden Euro und einer Grundgesetzänderung, ein ziemlich teures | |
Zeichen. | |
5 Mar 2022 | |
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