# taz.de -- Pflege und Globalisierung: Kosmopolitinnen aus Not | |
> Sharon Austrias Mutter verließ die Philippinen und ging nach Israel. | |
> Austria tat später das Gleiche. Wo wird die Enkelin einmal arbeiten? | |
Bild: Sharon Austria (rechts) mit Tochter Aira in Tel Aviv | |
Sharon Austria weinte, als sie ihre Mutter Glory zum Flughafen brachte. Sie | |
war 16 Jahre alt, ging in die neunte Klasse in einer Schule in Santiago | |
City, einer mittelgroßen Stadt der Philippinen, etwa sieben Autostunden von | |
Manila entfernt. Um das Geld für das Studium von Sharon Austria und ihre | |
vier jüngeren Brüder aufzubringen, hatte ihre Mutter beschlossen, als | |
Pflegekraft im Ausland zu arbeiten. Israel hatte gerade den Markt für | |
ausländische Arbeitskräfte geöffnet, und Glory versuchte ihr Glück. Als sie | |
hinter den Kontrollen des Flughafens verschwand, wusste Sharon Austria, | |
dass sie von nun an auf sie würde verzichten müssen. | |
Auch ihre Mutter weinte in den nächsten Jahren im 9.000 Kilometer | |
entfernten Israel oft. Sharon Austria wusste mitunter, wann genau. | |
Normalerweise rief die Mutter an ihrem freien Tag an, von den blauen | |
öffentlichen Telefonzellen aus. Die wurden jeden Schabbat rege von den | |
ausländischen Arbeitskräften genutzt, um mit ihren weit entfernten Liebsten | |
zu sprechen. Manchmal jedoch klingelte das Telefon auch unter der Woche. | |
Dann hatte Glorys Arbeitgeberin sie nachts weinen gehört und ihr erlaubt, | |
für fünf Minuten vom Festnetz aus zu telefonieren. | |
Auf den Philippinen machte derweil Sharon Austria ihren jüngeren Brüdern | |
das Frühstück, brachte den Kleinsten zum Kindergarten, später zur Schule. | |
„Es war, als sei ich plötzlich selbst Mutter geworden“, erinnert sie sich. | |
„Aber die Erfahrung hat mich auch zäh gemacht. Mit vier jüngeren Brüdern | |
und einem Vater musste ich stark sein.“ Die Durchsetzungskraft, die sie | |
damals lernte, kommt ihr heute zugute: im Kampf für die Rechte von | |
Arbeitsmigrant*innen. | |
28 Jahre später bestellt Austria, die heute 43 ist, einen Pfefferminztee in | |
einem Café im Zentrum von Tel Aviv. Wie ihre Mutter damals arbeitet nun | |
auch sie selbst in Israel. Sie zieht es vor, ihre Geschichte im Café zu | |
erzählen, nicht bei sich zu Hause. Denn sie lebt mit abgelaufenem Visum in | |
Israel. Nur eine Handvoll engster Vertrauter weiß, wo sie wohnt. | |
[1][Careworker*innen] von den Philippinen, aus Indien und Thailand sind | |
fester Bestandteil der Gesellschaft in Israel, was am Straßenbild zu sehen | |
ist. Etwas mehr als 67.000 von ihnen arbeiten derzeit im israelischen | |
Pflegesektor, rund 11.000 von ihnen mit abgelaufenem Visum. Da nahezu alle | |
ausländischen Pflegekräfte über den Luftweg ein- und ausreisen, ist diese | |
Zahl für Israel recht genau nachvollziehbar. | |
Sie schieben ältere Frauen und Männer in Rollstühlen durch die Straße, | |
sitzen neben ihnen auf Bänken in der Sonne. Die Arbeitsbedingungen sind | |
extrem hart. Die Carearbeiter*innen erhalten etwas mehr als den | |
Mindestlohn. Der liegt in Israel derzeit bei umgerechnet 1.500 Euro | |
monatlich. Dafür müssen sie in der Wohnung der zu pflegenden Personen leben | |
und sich sechs Tage die Woche rund um die Uhr um deren Bedürfnisse kümmern. | |
In der Regel ist es schwer, mit den Carearbeiter*innen ins Gespräch zu | |
kommen. Die meisten haben Angst, etwas von sich preiszugeben. Denn | |
[2][nicht nur sind die Arbeitsbedingungen der migrantischen Pflegekräfte | |
hart] – die Gesetze und Regelungen greifen tief in ihre Privatsphäre ein. | |
## Eine Partnerschaft ist verboten | |
Als Austrias Mutter Glory in den neunziger Jahren in Israel arbeitete, | |
durfte sie keine Paarbeziehung eingehen und keine Kinder kriegen, sonst | |
hätte sie ihr Visum verloren. 2006 bezeichnete das Oberste Gericht im Land | |
diese Politik als „moderne Sklaverei“ und hob das Verbot auf, Kinder zu | |
bekommen. | |
Die Zustimmung der zu betreuenden Person, dass das Baby gemeinsam mit der | |
Arbeitgeber*in und der Mutter in der Wohnung leben kann, braucht es | |
dennoch. Alternativ muss eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung für das Kind | |
sichergestellt sein – bei dem Gehalt ein Ding der Unmöglichkeit. Das | |
Verbot, eine Partnerschaft einzugehen, wurde aufrechterhalten. | |
„Auf dem Boden der Tatsachen hat sich wenig für die migrantischen | |
Pflegekräfte verändert“, sagt [3][Sigal Rosen, Koordinatorin bei der | |
Hotline für Flüchtlinge und Migranten.] „Noch immer sind die | |
Arbeitnehmer*innen von ihren Arbeitgeber*innen abhängig“. | |
Rund zwanzig Prozent der Pflegekräfte könnten den Arbeitgeber nicht | |
wechseln, ohne Verhaftung und Abschiebung ausgesetzt zu sein, sagt Rosen. | |
Diejenigen etwa, die bereits länger als fünf Jahre in Israel arbeiten. Das | |
ist die Zeit, die erlaubt ist – außer die Arbeitgeber*innen leben | |
länger als fünf Jahre. So arbeiten viele fast ihr gesamtes Erwachsenenleben | |
für eine*n Arbeitgeber*in. Sobald diese*r stirbt, werden sie | |
aufgefordert, Israel zu verlassen. | |
Für Austria, die mit ihrem Partner und ihren zwei Kindern zusammenlebt, ist | |
klar, dass die Gesetze falsch sind und nicht etwa sie. „Lieber entspreche | |
ich nicht dem Gesetz als mein Leben lang allein zu leben, ohne Familie“, | |
sagt die zierliche Frau und wischt ihre halblangen braunen Haare aus dem | |
Gesicht: „Ich bin doch keine Arbeitsmaschine.“ | |
Im Januar 2003, zehn Jahre nachdem sie ihre Mutter zum Flughafen gebracht | |
hatte, landete Austria selbst am Ben-Gurion-Flughafen in der Nähe von Tel | |
Aviv. Auch die damals 26-Jährige sah sich gezwungen, im Ausland zu arbeiten | |
– trotz des Bachelors in Krankenpflege, den sie mittlerweile in der Tasche | |
hatte. | |
„Als Krankenschwester verdient man auf den Philippinen etwa 500 Dollar | |
monatlich. Damit kommt man alleine irgendwie durch. Eine Familie kann man | |
davon nicht ernähren“, sagt Austria und zündet sich eine Zigarette an. | |
Als sie landete, war sie aufgeregt. Weniger wegen ihres neuen Lebens in | |
einem Land, das sie nicht kannte. Sondern vor allem, weil sie ihre Mutter | |
wiedersehen würde. Die Entfremdung war größer als gedacht. Als Glory ihrer | |
Tochter zum Empfang stolz eine Fischsuppe aus seltenem und teurem Fisch | |
vorsetzte, wurde Austria traurig. „Wir haben am Telefon über Schulnoten und | |
Gesundheit gesprochen, doch ein großer Teil unseres Lebens ist an meiner | |
Mutter vorbeigegangen“, sagt sie. Sie hasst Fischsuppe. | |
## 5.000 Dollar für die Agentur | |
In den folgenden zwei Jahren, die sie gemeinsam in Israel verbrachten, | |
trafen sie sich für gewöhnlich am Schabbat, Glorys freiem Tag, in der | |
Wohnung von Sharon Austrias Arbeitgeberin. Austria kümmerte sich während | |
dieser Treffen weiter um sie. „Ich konnte sie nicht alleine lassen, sie | |
konnte ja nicht alleine laufen.“ | |
Austria wusch sie, kochte für sie, brachte sie zur Toilette. Die alte Frau | |
war Holocaustüberlebende. „Wenn sie in der Nacht Albträume hatte und | |
schrie, kam ich zu ihr ans Bett. Manchmal weckte ich sie und beruhigte sie, | |
gab ihr etwas zu trinken.“ | |
Fast ein Jahr lang hatte Austria keinen freien Tag. „Es kam mir entgegen, | |
denn ich wollte meiner Mutter ja das Geld für die Vermittlungsagentur | |
zurückzahlen“, sagt sie. Ohne Vermittlungsagentur kein Visum. 5.000 Dollar | |
hatte die Mutter für sie ausgelegt, eine horrende Summe für die beiden. | |
Die Philippinen sind eines der Länder, aus denen sich die meisten Menschen | |
aufmachen, um woanders in der Welt zu arbeiten. Auf mehr als zehn Millionen | |
schätzte die UN 2016 die Anzahl von philippinischen Arbeitskräften, die | |
legal oder illegalisiert im Ausland arbeiten. Das ist fast ein Zehntel der | |
Gesamtbevölkerung. | |
2019 schickten die philippinischen Arbeitsmigrant*innen umgerechnet 29 | |
Milliarden Euro in den Inselstaat. Zwar bestreitet die philippinische | |
Regierung, dass sie Arbeitskräfteexportpolitik betreibt. Doch bereits seit | |
den 1970er Jahren gibt es verschiedene Regierungsbehörden, die sich um die | |
Bedürfnisse von im Ausland arbeitenden Philippinas und Philippinos kümmert. | |
Arbeitsmigration von Pflegekräften ist ein globales Phänomen. Weltweit | |
arbeiten migrantische Pflegekräfte, zumeist Frauen, in der | |
Gesundheitsversorgung und stützen Länder, die unter knapper | |
Pflegeversorgung leiden. In keinem anderen OECD-Land gibt es so viele | |
ausländische Arbeitskräfte in der Langzeitpflege wie in Israel. | |
Mehr als neunzig Prozent der zu Hause beschäftigten Pflegekräfte sind in | |
diesem Land Ausländer*innen. Zum Vergleich: In Deutschland sind es etwas | |
mehr als zehn Prozent. Angesichts der steigenden Lebenserwartung in reichen | |
Ländern dürfte sich der Trend, in diesem Niedriglohnsektor auf migrantische | |
Arbeitskräfte zurückzugreifen, in den nächsten Jahren verstärken. | |
Als Austrias Vater 2004 starb, flog ihre Mutter zurück nach Santiago City. | |
Auch sie selbst wollte zur Beerdigung auf die Philippinen fliegen, doch auf | |
dem Weg zum Flughafen bekam sie einen Anruf vom Sohn ihrer Arbeitgeberin. | |
Ihre Arbeitgeberin war gerade gestorben. Sie musste umgehend ein*e neue*n | |
Arbeitgeber*in finden, sonst würde ihr Visum ungültig. Die Beerdigung | |
ihres Vaters auf den Philippinen fand ohne sie statt. | |
Ihre Mutter kam nicht mehr nach Israel zurück. Stattdessen zog sie als | |
Pflegekraft weiter in die USA. „Meine Mutter und ich konnten all die Zeit, | |
die wir nicht zusammen verbracht haben, nicht zurückholen“, sagt Austria | |
rückblickend. „Auch nicht in der Zeit, die wir zusammen in Israel | |
verbrachten.“ Ihre Stimme klingt traurig, aber auch abgeklärt. „Ich hatte | |
ja schon mein eigenes Leben.“ | |
Austrias Partner Marc, den sie auf den Philippinen kennengelernt hat, kam | |
ein Jahr nach ihrer eigenen Emigration nach Israel, ebenfalls als | |
Pflegekraft. Dass die beiden ein Paar waren, durften die Behörden nicht | |
erfahren, weil Arbeitsmigrant*innen wie beschrieben keine | |
Partnerschaft eingehen dürfen. Diese Politik dürfte daran liegen, dass die | |
israelische Regierung befürchtet, die ausländischen Arbeitskräfte könnten | |
sesshaft werden. Eine Befürchtung, die in Israel auch immer mit der Sorge | |
um die jüdische Mehrheit innerhalb des Landes verbunden ist. | |
## Unterstützung von den Arbeitgebern | |
2004 fand Austria Beschäftigung bei Leo und Rosemarie Millner. Sie kramt | |
ihr Handy hervor und öffnet Facebook. „Rosemarie ist schon so lange | |
verstorben“, sagt sie, Tränen treten in ihre Augen. „Aber ich bin immer | |
noch mit ihr auf Facebook befreundet.“ | |
„Ich kann stolz behaupten, dass sie neun Jahre länger wegen mir gelebt | |
haben. ‚Kein Essen ist so gut wie deins‘, pflegten sie zu sagen.“ Austria | |
ist stolz darauf, ihre Arbeitgeber*innen wie einen Teil ihrer selbst | |
behandelt zu haben. Sie bekam die Fürsorge vergolten: „Sie haben mich immer | |
unterstützt.“ | |
Die Millners ließen sie mit ihrem Partner eine eigene Wohnung beziehen. Und | |
als sie mit ihrer ersten Tochter schwanger wurde und ihr Kind bekam – sie | |
hatte eine Krankenversicherung –, halfen sie ihr, das Kind vor der | |
Einwanderungsbehörde geheim zu halten. „Rosemarie wurde meine zweite | |
Mutter“, erzählt Austria: „Wir haben diskutiert und uns gestritten. Aber | |
ich habe nie das Haus verlassen, ohne sie in den Arm zu nehmen.“ | |
Ein Jahr später lernte Sharon Austrias Tochter Aira im Wohnzimmer der | |
Millners krabbeln. Als sie laufen konnte, begleitete sie ihre | |
Ersatz-Großmutter Hand in Hand zum Nagelstudio. Und manchmal, wenn Austria | |
kurz in den Supermarkt sprang, blieb Aira bei denen, die sie Großeltern | |
nannte, stibitzte Kekse aus der Dose und brachte damit alle zum Lachen. | |
## Kinder sollten abgeschoben werden | |
Ein paar Jahre nach der Geburt ihrer Tochter begann Austria, sich politisch | |
zu engagieren. 2009 erklärte Yaakov Ganot, der neue Chef der | |
Einwanderungsbehörde, alle Kinder von Arbeitsmigrant*innen abschieben | |
zu wollen. Kurz darauf riegelte die Polizei einen Bezirk im Süden Tel Avivs | |
ab, in dem die meisten Arbeitsmigrant*innen mit ihren Familien lebten. | |
Sie kontrollierten alle, die ein und aus gingen. „Alle mit brauner oder | |
schwarzer Haut“, ergänzt Austria. | |
Austria hatte damals noch ihr Visum und war geschützt. „Aber es war so | |
inhuman. Ich dachte die ganze Zeit: Was, wenn dies meinem Kind passiert?“ | |
Sie zeigte sich solidarisch, ging zu Demonstrationen, die zu der Zeit noch | |
in erster Linie von der israelischen Zivilbevölkerung organisiert wurden. | |
Der öffentliche Aufruhr, den Ganots Vorgehen ausgelöst hatte, verhinderte | |
schließlich, dass es tatsächlich zu einer Massenabschiebung der Kinder kam. | |
2017 jedoch begann der Staat erneut, vereinzelt Familien mit ihren Kindern | |
abzuschieben. „Wir beschlossen, dass wir etwas unternehmen müssen. Sonst | |
würden all diese Kinder hier sehr bald abgeschoben,“ erzählt Austria. | |
Gemeinsam mit anderen betroffenen ausländischen Pflegekräften gründete sie | |
die Gruppe „United Children of Israel“. | |
Der Name verrät die Forderung der Gruppe: den Kindern, die als Kinder von | |
Arbeitsmigrant*innen in Israel geboren wurden und aufwachsen, die | |
Möglichkeit zu geben, zu bleiben. Austria ist für die Pressearbeit | |
zuständig. Immer wieder macht sie trotz ihres eigenen Risikos Druck beim | |
israelischen Parlament, um Anhörungen durchzusetzen. Organisiert | |
Demonstrationen. Und steht ganz vorne im Kampf von Zehntausenden | |
migrantischer Arbeitskräfte in Israel für menschliche Arbeitsbedingungen. | |
## Ohne Arbeitgeber kein Visum | |
Papiere hatte Austria 2017 schon nicht mehr: Sie verlor ihr Visum 2013, als | |
ihre Zeit bei den Millners endete – einige Monate nach der Geburt ihrer | |
zweiter Tochter Shivan. Shivan war eine Frühgeburt, die ersten Wochen lag | |
sie im Inkubator. Mit sechs Monaten wog sie gerade mal zwei Kilo. Sie | |
erbrach, wenn sie trank, weil die Organe nicht voll ausgebildet waren, und | |
musste häufig zum Arzt. | |
Es war unmöglich für Austria, sich um ihre Arbeitgeber*innen und ihre | |
Tochter gleichzeitig zu kümmern. Sie setzte ihre Arbeit bei den Millners | |
aus. Nach acht Monaten musste sie ihnen sagen, dass sie die Arbeit nicht | |
wieder aufnehmen könnte. Es war eine traurige Trennung für beide Seiten. | |
Die Familie plante, auf die Philippinen zurückzukehren, als Austria von | |
einem Arbeitgeber ihres Mannes ein Angebot erhielt: Da der Unternehmer die | |
meiste Zeit in Deutschland lebt, könne sie auf seine Wohnung in Israel | |
aufpassen. Sie zögerte nicht und nahm aus ökonomischen Gründen an – und | |
wegen ihrer Töchter. Weil sie aber nach mehr als fünf Jahren im Land bei | |
den Millners kündigte, verlor sie ihr Visum und konnte auch kein neues mehr | |
bekommen. Seitdem leben die vier ohne Aufenthaltserlaubnis in Israel. | |
Mittlerweile ist Aira vierzehn Jahre alt. Sie erinnert sich gut an Saba und | |
Safta – Opa und Oma. So nennt sie die Millners, die mittlerweile verstorben | |
sind. Ihre leibliche Großmutter Glory hingegen, die bei ihrer Geburt in den | |
USA arbeitete, hat sie noch nie persönlich gesehen – nur ab und zu auf dem | |
Handybildschirm ihrer Mutter. Dann sagt sie „Schalom“, winkt und widmet | |
sich wieder ihrem Leben in Israel. Airas größte Leidenschaft ist Tanz. | |
„Hiphop. Eigentlich alles“, erklärt sie, macht eine Pause und ergänzt: | |
„Außer Ballett.“ Ihre Hände hält sie abwehrend weit von sich. | |
Aira beißt in ihr Pistaziencroissant. „Was ich von den Philippinen weiß?“, | |
fragt sie und lacht: „Nichts. Außer, dass das Meer besonders schön sein | |
soll. Und dass es extrem viel Streetfood gibt.“ Sie spricht Hebräisch, in | |
der Sprache fühlt sie sich am wohlsten, auch ihr Englisch ist sehr gut. | |
Tagalog, die am weitesten verbreitete Sprache auf den Philippinen und die | |
Muttersprache ihrer Eltern, verstehen sie und ihre jüngere Schwester, aber | |
sie sprechen sie nicht. „Was sollen wir Tagalog mit ihnen sprechen?“, fragt | |
Sharon Austria. „Sie haben hier niemanden, mit dem sie in dieser Sprache | |
sprechen können, jenseits von uns.“ | |
Mit ihrem hebräischen Jugendslang und ihrer Lebendigkeit wirkt Aira, die | |
seit ihrer Geburt illegalisiert in Israel lebt, wie eine durchschnittliche | |
israelische Teenagerin. Seit 2003 gibt es eine Regelung, dass Kinder zur | |
Schule gehen dürfen – egal, welchen Status sie haben. | |
## Angst vor der Einwanderungspolizei | |
Doch die Angst vor der Abschiebung in ein Land, das sie noch nie gesehen | |
hat, begleitet Aira permanent. Und Angst vor weißen Autos – der Farbe der | |
Autos der Immigrationspolizei. Im Sommer 2019 sah Aira viele davon. Es war | |
die Zeit der wiederholten Wahlen und der Übergangsregierung. | |
Kritiker*innen sagen, das Innenministerium habe die Gelegenheit | |
genutzt, seine Pläne ohne Kontrolle durch die Knesset durchziehen zu | |
können. | |
Die Inhaftierungen und Abschiebungen passierten nun nicht mehr vereinzelt | |
wie in den Jahren zuvor, sondern in großem Stil. In ihren weißen Vans fuhr | |
die Einwanderungspolizei vor die Häuser von Arbeitsmigrant*innen ohne | |
Visum, drang in die Häuser ein und verhaftete die gesamten Familien | |
inklusive der Kinder. | |
Für Aira war diese Zeit traumatisch – vor allem, als sie hörte, dass auch | |
ihre Wohnung von der Polizei aufgebrochen worden war. Doch da hatte ihre | |
Mutter schon ihre Koffer gepackt, sie hielten sich vorübergehend bei | |
Bekannten versteckt. Im folgenden halben Jahr schleppten sie ihre Koffer | |
von einer Wohnung zur nächsten, insgesamt waren es 15. Bis die Verhaftungen | |
wieder weniger wurden und eine Freundin für sie die Wohnung fand, in der | |
sie jetzt wohnen. | |
Aira hat die Kampfeslust ihrer Mutter geerbt und wurde gemeinsam mit ihr | |
aktiv. Sie war auf den Demonstrationen gegen das Vorgehen des Staates | |
dabei, hielt Schilder in die Höhe, auf denen geschrieben stand: „Kein Kind | |
ist illegal.“ Im vergangenen Dezember sprach sie sogar bei einer Anhörung | |
in der Knesset: „Ich will mich in meinem Zuhause sicher fühlen, will zur | |
Schule gehen, in der Straße laufen und tanzen gehen – ohne Angst. Ich will | |
dort weiter leben, wo ich aufgewachsen bin.“ | |
## Im Alter wieder in die Heimat | |
Doch ihre Angst geht nicht weg. Noch immer dreht Aira manchmal eine | |
zusätzliche Runde, wenn sie sich verfolgt fühlt – um nicht ungewollt | |
preiszugeben, wo sie und ihre Familie wohnen. | |
Glory, Sharon Austrias Mutter, ist mittlerweile auf die Philippinen | |
zurückgekehrt. Austria wischt über ihr Smartphone. Auf einem Foto lacht | |
Glory, eine Mittsechzigerin mit Hornbrille und schulterlangen braunen | |
Haaren, glücklich der Kamera entgegen, umringt von ihren vier Söhnen, deren | |
Ehefrauen und Enkelkindern. Vor ihnen ein mit frittierten Snacks und Ananas | |
gedeckter Tisch. „Das war letztes Silvester“, erzählt Austria. „Sie war | |
gerade aus den USA zurückgekehrt und hat sich zur Ruhe gesetzt.“ Nach 27 | |
Jahren harter Arbeit in verschiedenen Ländern der Welt ist sie nun wieder | |
bei ihrer Familie. | |
Austria hat einen ähnlichen Plan für sich selbst. „Ich liebe Israel“, sagt | |
sie. „Aber ich möchte hier nicht alt werden, nicht im Traum.“ Sie sei | |
hergekommen, um ihre Zukunft auf den Philippinen vorzubereiten, für die | |
Zeit, wenn ihre Kinder auf eigenen Beinen stehen. Ihr Plan: ein Stück Land | |
kaufen, eine Wohnung bauen und sich zum Rentenalter niederlassen. Bis dahin | |
kämpft sie dafür, dass ihre Kinder in Israel bleiben können. Damit würde | |
ihnen erspart, in einem Land aufzuwachsen, aus dem sie dann weggehen | |
müssen, um sich ernähren zu können. | |
Die vierzehnjährige Aira möchte Stewardess werden. Als Flugbegleiterin die | |
Welt sehen und immer wieder nach Israel zurückkommen zu können, das ist ihr | |
Wunsch. Noch ist sie ein bisschen zu klein dafür. „Aber ich wachse ja | |
noch“, sagt sie zuversichtlich. Und wenn das nicht klappt? „Dann werde ich | |
Pflegerin“, sagt sie. Sie sieht zufrieden aus. | |
8 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://suedostasien.net/philippinische-arbeitsmigration-weltweit-und-nach-… | |
[2] /Philippinische-Arbeitsmigranten/!5192429/ | |
[3] https://hotline.org.il/en/about-us/team/ | |
## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Feministischer Kampftag | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Globalisierung | |
Altenpflege | |
IG | |
GNS | |
Frauen-Fußball-WM 2023 | |
Taiwan | |
Wohnen | |
Internet | |
Philippinen | |
Siedlungen | |
Philippinen | |
Siedlungen | |
Gaza | |
Schwerpunkt Feministischer Kampftag | |
Pflegekräftemangel | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Rumänien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Historischer WM-Triumph der Philippinen: Erfolgreiche Exilantinnen | |
Die WM-Neulinge von den Philippinen gewinnen gegen Neuseeland. Wobei | |
eigentlich nur eine Spielerin von dort ist. Die Mehrheit stammt aus den | |
USA. | |
High- und Lowtech in Taiwan: Kampf im Schatten der Chinafrage | |
In Taiwan formiert sich wachsender Widerstand gegen die ausbeuterischen | |
Bedingungen unter Hunderttausenden Arbeitsmigrant*innen aus | |
Südostasien. | |
Herkunft und Ungleichheit: Erben fördert Gentrifizierung | |
In Deutschland entscheiden Erbschaften mehr als anderswo über die Chancen | |
auf Wohneigentum, sagt eine internationale Studie. | |
Onlinespiel „Axie Infinity“: Digitaler Feudalismus | |
„Axie Infinity“ ist ein Play-to-Earn Game. Vor allem Spieler aus dem | |
Globalen Norden profitieren finanziell, indem sie philippinische Nutzer für | |
sich spielen lassen. | |
Philippinische Präsidentschaftswahlen: Präsident Diktatorensohn | |
Die Wahl in den Philippinen steht an. Präsident wird wohl Sohn des | |
Diktators Ferdinand Marcos Sr., Vize die Tochter des amtierenden Rodrigo | |
Duterte. | |
Eskalation um den Tempelberg: Auf den Marsch folgen Raketen | |
Rechte Israelis marschieren durch Jerusalem. Militante Palästinenser | |
schießen eine Rakete aus Gaza, Israels Militär zerstört einen | |
Hamas-Stützpunkt. | |
Tropensturm auf den Philippinen: 172 Tote, mindestens 170 Vermisste | |
Auf den Philippinen suchen Retter seit mehr als einer Woche nach | |
Überlebenden des Tropensturms „Megi“. Doch die Arbeiten sind riskant. | |
Konflikt um Land in Israel und Palästina: „Das ist unmenschlich“ | |
Immer wieder reißt Israel in Al-Walaja angeblich illegal erbaute Häuser ab. | |
Die Bewohner*innen protestieren, nun soll ein Gericht entscheiden. | |
Einbürgerung für Palästinenser untersagt: Kein Recht auf Gemeinsamkeit | |
Israels umstrittenes „Staatsangehörigkeitsgesetz“ verbietet den | |
Familiennachzug von Palästinenser*innen. Zivilorganisationen | |
protestieren. | |
Weibliche Solidarität: Care-Arbeit im Krieg | |
Leichen identifizieren, Brot backen, Schlafplätze für Geflüchtete suchen – | |
es sind vor allem Frauen, die in der und für die Ukraine Friedensarbeit | |
leisten. Ist Solidarität weiblich? | |
Anwerbung von Pflegekräften: Deutsch ist ein Standortnachteil | |
Deutsche Agenturen werben zunehmend Pflegekräfte aus Übersee – doch es gibt | |
Hürden. Nun wurde ein Gütesiegel für faire Anwerbung verliehen. | |
Häusliche Pflege in Deutschland: An Mamas Seite | |
Weil die Mutter unserer Autorin immer mehr vergisst, benötigt sie Hilfe. | |
Deshalb ist Marcela bei ihr, kocht, putzt, wechselt die Windel. | |
Arbeitsmigration in Rumänien: Dorf ohne Mütter | |
Viele Rumäninnen müssen im Ausland arbeiten, um über die Runden zu kommen. | |
Darunter haben sie enorm zu leiden – und noch mehr ihre Kinder. |