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# taz.de -- Weibliche Solidarität: Care-Arbeit im Krieg
> Leichen identifizieren, Brot backen, Schlafplätze für Geflüchtete suchen
> – es sind vor allem Frauen, die in der und für die Ukraine Friedensarbeit
> leisten. Ist Solidarität weiblich?
Bild: Diese drei Frauen versuchen sich einen Überblick über die eingegangenen…
Es gehört wohl zum größten Grauen, das Eltern sich vorstellen können: Das
Kind wird in den Krieg geschickt und verschwindet. Keine Nachricht mehr,
über Wochen, und immer der ungeheure Verdacht, es könnte gefallen sein.
So geht es derzeit vielen russischen Müttern und Vätern, die um ihre Söhne
bangen. Sie suchen sie auf Onlineportalen und scannen Kriegsfotos.
Eine Gruppe von Frauen aus der Ukraine und Russland hat es sich zur Aufgabe
gemacht, diesen Eltern zu helfen. Laut der deutschen Partnerorganisation
identifizieren ukrainische Frauen zurzeit die Leichen russischer Soldaten.
Noch wissen sie nicht, wohin mit den toten Körpern. Aber sie sollen zurück
nach Hause, zu ihren Müttern. Auch das wollen die Frauen aus der Ukraine
organisieren.
Es ist ein kalter Februarabend in Berlin. Vier Frauen aus der Ukraine und
Russland sitzen zusammen bei einer Podiumsdiskussion, zwei in Berlin, zwei
online zugeschaltet aus der Ukraine, und erzählen von ihrer Arbeit. Die
umfasst nicht nur Leichen identifizieren, sondern auch Brot backen. Es ist
Friedensarbeit. Weil diese zur Zeit besonders gefährlich ist, steht hier
nicht der Name der Initiative, die Frauen tragen nicht ihren echten Namen.
Eine der vier Frauen ist Anastasia Danylenko. Sie lebt in der Ostukraine,
seit acht Jahren tobt der [1][Krieg vor ihrer Haustür]. Danylenko und eine
russische Kollegin sind einen Tag nach der Invasion nach Berlin gereist, um
über ihre Initiative zu sprechen. Nun sitzen sie fest. Die Rückreisen in
die Ukraine und nach Russland sind momentan schwierig. Das auszuhalten,
fällt ihnen sichtlich schwer. Permanent klingeln ihre Handys und zeigen
Nachrichten von Familie und Freunden aus der Heimat.
Der Krieg in der Ukraine hat auf sehr brutale Weise klassische
Geschlechterrollen sichtbarer gemacht: Männer erschießen, Frauen kümmern
sich um die Leichen. Männer ziehen an die Front, Frauen tragen ihre Kinder
über die Grenze. In Talkshows und auf Zeitungsseiten erklären Männer
Militärstrategien. Und hinter der ukrainischen Grenze verteilen polnische
und slowakische Frauen Tee und Salamibrote an geflüchtete Ukrainer*innen.
Ganz so eindeutig ist es natürlich nicht. Aber wer sich in der ukrainischen
Community in Berlin umhört, bekommt auch den Eindruck, dass es hier gerade
vor allem Frauen sind, die zur Solidarität mit der Ukraine aufrufen. Sie
sprechen bei Demos, schreiben Spendenlisten und suchen Schlafplätze für
Geflüchtete. Man könnte sagen: Sie leisten [2][Care-Arbeit] in einem Krieg.
Vor dem Pilecki-Institut am Brandenburger Tor in Berlin weht am vergangenen
Dienstag eine ukrainische Fahne neben einer polnischen. Das
Pilecki-Institut ist ein polnisches Kultur- und Forschungszentrum. Gerade
ist dort eine Ausstellung über den jüdischen Juristen und Friedensforscher
Rafał Lemkin zu sehen.
Im Erdgeschoss laufen an diesem Vormittag viele Menschen herum. Sie reden
hektisch miteinander, telefonieren, tragen Tüten und Kartons rein und raus.
Sie sind nicht für die Ausstellung gekommen, sie leisten von hier aus Hilfe
für die Ukraine: sammeln Medikamente, Verbandsmaterial, Thermoskannen,
Isomatten, Windeln. Sie beordern Busse an die ukrainische Grenze,
organisieren Demos und Gespräche mit Politiker*innen. Das Pilecki-Institut
hat dafür seine Räume zur Verfügung gestellt.
Es sind vor allem junge Leute zwischen 20 und 30 da. Sie tragen weiße
Turnschuhe, große Kopfhörer, Hawaiihemden. Sie nennen sich „Ukrainischer
Widerstand“ und stammen aus verschiedenen Initiativen von
Exil-Ukrainer*innen in Berlin: ein Pfadfinderverband, ein
deutsch-ukrainischer Kinoklub und Vitsche, eine neu gegründete Gruppe
junger Ukrainer*innen.
Iryna ist eine von ihnen. Ihren Nachnamen will sie nicht nennen, um sich zu
schützen. Eigentlich studiert sie in Frankfurt an der Oder Kultur und
Geschichte Mittel- und Osteuropas. Seit fünf Jahren wohnt sie in Berlin,
ihre Familie lebt noch im Zentrum der Ukraine. Im „ukrainischen Widerstand“
engagiert sie sich erst seit wenigen Tagen.
„Als Putin in seiner Fernsehansprache der Ukraine ihr Existenzrecht
abgesprochen hat, konnte ich nicht länger rumsitzen“, sagt sie. Im Internet
sei sie auf die Gruppe Vitsche gestoßen, seitdem sei sie dabei.
Es stimme, sagt Iryna, dass es vor allem Frauen sind, die zur Zeit für
Solidarität mit der Ukraine werben. „Das liegt vielleicht daran, dass die
Frauen häufiger öffentlich sprechen.“ Im ukrainischen Widerstand seien aber
auch viele Männer und vor allem Queers organisiert. „Solidarität ist keine
Frage von Geschlecht.“
Anastasia Danylenko aus der Ostukraine nimmt das anders wahr. In ihrer
Friedensgruppe engagieren sich explizit nur Frauen. Sie seien ganz
unterschiedlich aufgewachsen, erzählt Danylenko. Manche stammen aus Kiew,
andere aus Dörfern in der Ostukraine. Was sie eint: Sie bauen die vom Krieg
zerstörten Städte wieder auf.
Wie damals, als in einer Stadt im Donbass die Brotfabrik zerbombt wurde.
„Wir wussten, diese Stadt braucht Brot. Also haben wir Frauen uns
gegenseitig gezeigt, wie Brot gebacken wird“, sagt Danylenko. Viele kleine
Bäckereien seien so in der Stadt entstanden. Andere Frauen aus der
Westukraine hätten Frauen im Osten gezeigt, wie man einen
Pizzalieferservice aufbaut und damit Geld verdient.
Die Männer hingegen säßen deprimiert zu Hause und warteten ab, ob die
Bomben heute ihr Haus treffen. Oder sie kämpften an der Front. Wenn sie
nach Hause kämen, würden sie als Helden gefeiert. Wie die neuen Machthaber
– ebenfalls alles Männer. „Dabei haben wir Frauen die Stadt wiederbelebt�…
sagt Danylenko.
Dass Frauen anders von Kriegen betroffen sind als Männer, beschäftigt die
Politik und die Wissenschaft schon lange. Frauen werden häufiger Opfer von
sexualisierter Gewalt, erleben erzwungene Schwangerschaften und
Zwangssterilisation, leiden meist nicht nur psychisch, sondern auch
wirtschaftlich an der Verschleppung männlicher Verwandter.
Dass Frauen aber auch als Akteurinnen in Friedensprozessen eine besondere
Rolle zukommt, das haben die Vereinten Nationen vor gut 20 Jahren
anerkannt. Einstimmig hat der UN-Sicherheitsrat im Jahr 2001 die Resolution
1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“ verabschiedet. Sie ruft die
Mitgliedsstaaten auf, in Kriegs- und Krisengebieten die Rechte von Frauen
zu schützen und Frauen stärker in Friedensverhandlungen und Wiederaufbau
einzubinden. Es geht dabei nicht bloß um die Frauenquote. Verschiedene
Konflikte auf der Welt haben gezeigt, dass der Frieden stabiler ist, wenn
Frauen an dessen Aushandlung beteiligt sind.
Daran glaubt auch Anastasia Danylenko. Als Feministin sieht sie sich
trotzdem nicht. Viel wichtiger ist ihr: Sie sei zwar eine Frau im
Kriegsgebiet, aber deswegen kein Opfer. „In der Opferposition richtet man
sich ein, da rauszukommen ist nicht leicht“, sagt sie.
Zu der Podiumsdiskussion, auf der sie in Berlin spricht, werden auch zwei
weitere Frauen ihrer Friedensinitiative dazugeschaltet. Sie sitzen in der
Ukraine. Sie schätzen die akute humanitäre Hilfe und die vielen Spenden,
die im Rest der Welt gesammelt werden, sagen sie. Trotzdem: Eine dauerhafte
humanitäre Hilfe bediene den Krieg. Es sei ein Problem, dass die
internationale Staatengemeinschaft nicht auf Prävention, sondern auf
Reaktion ausgelegt sei. „Die Ukraine braucht keinen Fisch, sondern eine
Angel“, sagt eine der beiden. Für einen kurzen Moment bricht ihre
Verbindung ab – Bombenalarm in ihrer Stadt.
Bis wieder an Prävention gedacht werden kann, unterstützen sich die Frauen
weiterhin in ihrer akuten Not. Vor wenigen Tagen habe es schwere Angriffe
auf einen Ort an der russisch-ukrainischen Grenze gegeben. In einem
Krankenhaus sei das Insulin ausgegangen. Zusammen haben es die Frauen
geschafft, Insulin aus Russland in das Krankenhaus zu bringen.
8 Mar 2022
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## AUTOREN
Anne Fromm
Sophie Fichtner
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