# taz.de -- Energiepolitische Rückzugsgefechte: Brauchen wir doch noch Atomkra… | |
> Journalist:innen befeuern und verteufeln die Atomrenaissance. Die | |
> wichtigsten Antworten zu einer deutschen Zombiedebatte. | |
Bild: Seit Ende 2021 vom Netz – und das wird auch so bleiben: das ehemalige A… | |
Ist der Atomausstieg in Deutschland nicht längst beschlossen? | |
Oh ja, das ist er. Die ostdeutschen Atomkraftwerke wurden schon im Zuge der | |
Wende abgewickelt, den gesamtdeutschen Ausstieg hielt erstmals der | |
„Atomkonsens“ von Rot-Grün im Jahr 2002 fest. Der wurde dann zwar 2010 von | |
Schwarz-Gelb wieder aufgelöst, aber ein Jahr später, nach der | |
Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima, wieder festgezurrt. [1][Seit | |
Neujahr laufen nur noch drei AKW in Deutschland], nämlich „Neckarwestheim“ | |
in Baden-Württemberg (betrieben von EnBW), „Isar“ in Bayern | |
(PreussenElektra) und „Emsland“ in Niedersachsen (RWE). Auch deren Abgang | |
vom Netz steht kurz bevor, er soll noch dieses Jahr erfolgen. | |
Was hat die „EU-Taxonomie für nachhaltige Finanzen“ mit der Debatte zu tun… | |
Die Taxonomie soll Investor:innen, die ihr Geld möglichst sauber anlegen | |
wollen, Orientierung geben. Und [2][nach dem Willen der EU-Kommission] | |
dürfte bald auch Atomkraft als nachhaltig gelten. Theoretisch dürften also | |
Fonds, die Geld für Atomkraftwerke einsammeln, sich unter bestimmten | |
Auflagen mit dem EU-Ökolabel schmücken. Die Sorge ist, dass das Geld von | |
erneuerbaren Energien wegnimmt – und dass das Vertrauen in nachhaltige | |
Finanzprodukte schwindet. Außerdem befürchten Umweltschützer:innen, dass | |
die Taxonomie als Vorlage für neue EU-Regeln für die Vergabe öffentlicher | |
Gelder dient und ganz generell in der Debatte um Atomkraft den Diskurs | |
verschiebt. | |
Fans der Atomkraft loben sie als klimafreundlich. Stimmt das? | |
Das kommt darauf an, womit man sie vergleicht. Pro Kilowattstunde Atomstrom | |
fallen laut dem Weltklimarat IPCC 3,7 bis 110 Gramm CO2 an. Diese | |
gigantische Spanne kommt unter anderem dadurch zustande, dass die | |
Endlagerung des Atommülls noch ein ungelöstes Riesenproblem ist, was auch | |
Ungewissheiten bei der CO2-Bilanz mit sich bringt. Das Umweltbundesamt | |
nutzt den Mittelwert von 55 Gramm CO2 pro Kilowattstunde. Das ist nur ein | |
Bruchteil von dem, was bei der Verbrennung von Braunkohle anfällt: mehr als | |
ein Kilo pro Kilowattstunde nämlich. Auch Gas ist mit fast einem halben | |
Kilo CO2 pro Kilowattstunde deutlich schädlicher, zumal durch Leckagen in | |
Pipelines zusätzlich Methan entweicht und den Planeten aufheizt. | |
Der Vergleich mit den erneuerbaren Energien sieht aber anders aus: Eine | |
Kilowattstunde Solarstrom verursacht bisher durchschnittlich 56 Gramm CO2, | |
bei Strom aus Windrädern an Land sind es 18 Gramm, Offshore-Windparks | |
kommen sogar auf nur 10 Gramm, wie das Umweltbundesamt mitteilt. In dieser | |
Bestandsaufnahme sind zudem Anlagen enthalten, die 20 Jahre alt und noch | |
nicht sehr effizient sind. In Zukunft dürften sich diese Werte also noch | |
deutlich verbessern. Also: Besser als die erneuerbaren Energien sind | |
Atomkraftwerke nicht fürs Klima, im Vergleich zu fossilen Kraftwerken | |
schneiden sie aber durchaus gut ab. | |
Also für den Übergang lieber Atom- als Kohlekraftwerke? | |
Das wäre vielleicht vor zehn Jahren eine Überlegung wert gewesen. Die | |
damaligen Gegner:innen des Atomausstiegs traten nebenbei bemerkt aber | |
nicht gerade für ein Ende der Kohleverstromung ein, sondern eher für ein | |
Ende der Energiewende. Und jetzt stellt sich die Frage gar nicht mehr. Die | |
meisten deutschen Atomkraftwerke sind schließlich schon abgeschaltet und | |
befinden sich im Rückbau. Das heißt: Erst mal müssen die Brennelemente | |
jahrelang herunterkühlen, bis man sie in Castorbehälter verpacken und in | |
ein Zwischenlager bringen kann, dann kann das alte Gehäuse nach und nach | |
zerlegt werden. Das einfach anhalten und umkehren? Ist nicht drin. Neue | |
Atomkraftwerke zu bauen, wäre hingegen exorbitant teuer und dauert viele | |
Jahre. Den aktuell für 2030 anvisierten Kohleausstieg kann man so nicht | |
vorziehen. | |
Und wenn wir die AKW, die noch am Netz sind, weiter nutzen? | |
Selbst das dürfte schwer bis unmöglich sein. Die Abschaltgenehmigungen sind | |
seit Jahren beantragt. Und auch abseits von Formalitäten, die man | |
theoretisch ändern könnte: Die Beschaffung von Brennstäben, der Einsatz von | |
spezialisiertem Personal – all das wurde lange im Voraus geplant, und zwar | |
in Richtung Rückbau. Ein paar Monate würden nicht reichen, um umzusteuern. | |
Im Übrigen kommen alle drei AKW zusammen nicht mal auf die Leistung, die | |
allein die zwei Lausitzer Braunkohlekraftwerke Jänschwalde und Schwarze | |
Pumpe erreichen können. Den Atomausstieg jetzt auszusetzen, würde den | |
Kohleausstieg also gar nicht deutlich voranbringen. | |
Was sagen denn die Atomkonzerne? | |
Man erntet irgendwas zwischen Unglauben und Langeweile, wenn man sich bei | |
den deutschen Energiekonzernen nach einer möglichen Weiternutzung der | |
Atomkraftwerke erkundigt. Das dürfte auch daran liegen, dass sich die teure | |
Atomkraft kommerziell nicht lohnt, wenn sie nicht massiv subventioniert | |
wird. Die Nutzung der Atomkraft für die Stromproduktion habe sich in | |
Deutschland erledigt, hört man etwa aus Baden-Württemberg: „Die EnBW hat | |
nach dem damaligen Ausstiegsbeschluss eine langfristige Strategie für den | |
Rückbau ihrer Kernkraftwerke ausgearbeitet, die sie seither konsequent | |
umsetzt“, lässt eine Sprecherin wissen. „Die Frage nach der Verlängerung | |
der Laufzeiten der Kernkraftwerke sowie weitere hypothetische | |
Fragestellungen in diesem Kontext stellen sich deshalb nicht.“ | |
Ähnlich klingt das bei PreussenElektra. Deutschland habe sich gegen die | |
Nutzung der Kernenergie entschieden. „Bitte haben Sie Verständnis, dass wir | |
uns zu anderweitigen Gedankenspielen nicht mehr äußern – sie sind | |
spekulativ und daher für uns kein Thema“, heißt es. Und vom Dritten im | |
Bunde gibt es die Rückmeldung: „Das Kapitel Kernenergie ist für RWE | |
abgeschlossen.“ | |
Wie sieht es international aus? | |
Etliche Länder setzen weiter auf Atomkraftwerke und produzieren damit ein | |
wirtschaftliches Fiasko nach dem anderen. Das französische AKW Flamanville, | |
das britische Hinkley Point C, das finnische Olkiluoto – ständig gibt es | |
Meldungen über Verzögerungen, Pannen, Mehrkosten. Die Menge an Strom, die | |
Atomkraftwerke weltweit produzieren, [3][sank im Jahr 2020 indes], wie der | |
Weltstatusbericht Atomindustrie des Atomexperten Mycle Schneider im | |
vergangenen Jahr ergab. Größter Hersteller sind die USA, es folgen China | |
[4][und Frankreich]. | |
21 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Drei-Atomkraftwerke-vom-Netz-genommen/!5825468 | |
[2] /EU-und-Klimawende/!5823224 | |
[3] /Weltweit-weniger-Strom-aus-Kernkraft/!5804190 | |
[4] /Atomkraft-in-Frankreich/!5817160 | |
## AUTOREN | |
Susanne Schwarz | |
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