| # taz.de -- Proteste gegen Polens Regierung: „Wir sind Europa!“ | |
| > Mehr als 100.000 Menschen protestieren in Polen gegen den Anti-EU-Kurs | |
| > der PiS-Regierung. Sie werfen ihr vor, das Land aus der Union zu führen. | |
| Bild: Krakau am Sonntagabend: Eine Demonstrantin fordert, dass die regierende P… | |
| Warschau taz | In ganz Polen sind am Sonntagabend Zehntausende in Dutzenden | |
| von Städten auf die Straße gegangen, um gegen ein [1][Urteil des | |
| Verfassungsgerichts] zu protestieren, wonach EU-Recht zum Teil gegen | |
| polnisches Recht verstoße. Dies hatte das von Anhängern der | |
| Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) dominierte | |
| Verfassungsgericht am Donnerstagabend festgestellt. Kritiker werfen der | |
| rechtspopulistischen PiS vor, sie sei auf dem Weg heraus aus der EU. | |
| Alleine in der Hauptstadt Warschau versammelten sich 100.000 Demonstranten | |
| auf dem Schlossplatz. Sie schwenkten polnische und Europaflaggen und | |
| riefen: „Wir bleiben“ und „Wir sind Europa!“. | |
| Zu der Demonstration gegen den angeblich von der PiS gewollten EU-Austritt | |
| Polens, den „Polexit“ also, hatte Oppositionsführer [2][Donald Tusk] | |
| aufgerufen. „Niemand wird sich wundern, dass ich Alarm schlage“, sagte der | |
| ehemalige EU-Ratsvorsitzende. „Ein Pseudo-Tribunal hat auf Betreiben des | |
| PiS-Parteichefs die Verfassung vergewaltigt und entschieden, Polen aus der | |
| EU zu führen“, behauptete Tusk unter regem Applaus, aber auch lauten | |
| Störversuchen der rechtsextremen „Konföderation“ und weiterer | |
| Splitterparteien vom rechten Rand. | |
| „Es gibt keinen Widerspruch zwischen der polnischen Verfassung und den | |
| EU-Traktaten“, beschwor der Warschauer Oberbürgermeister Rafał Trzaskowski, | |
| ein Parteigänger von Tusks oppositioneller Bürgerplattform (PO). „Stehen | |
| wir zusammen und entfernen wir diese Wahnsinnigen von der Macht!“, forderte | |
| Jarosław Kalinowski von der Bauernpartei PSL, der vor Polens EU-Beitritt | |
| 2004 weit EU-kritischer war als PiS-Chef Jarosław Kaczyński, Polens | |
| heutiger starker Mann. | |
| ## Politische Vorgaben fürs Oberste Gericht | |
| „Die Menschen, die heute den Staat führen, sind ein großes Unglück für | |
| Polen“, sagte derweil in Danzig der einstige Arbeiterführer und | |
| Ex-Präsident Lech Wałęsa zu den ebenfalls Zehntausenden von Demonstranten. | |
| Kein Feind, der Polen je regiert habe, habe die Menschen im Land derart | |
| gespalten wie die PiS, warnte der Friedensnobelpreisträger. | |
| In Warschau kam es am Sonntagabend am Rande der pro-europäischen | |
| Demonstrationen vor der PiS-Parteizentrale zu Ausschreitungen mit der | |
| Polizei, nachdem der „Frauen-Streik“ dorthin gerufen hatte. Die Polizei | |
| setzte Tränengas ein, nachdem ein Polizist von einem Stein verletzt wurde. | |
| Mindestens ein Demonstrationsteilnehmer, ausgerechnet der Neffe von | |
| Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, wurde festgenommen. | |
| Die Demonstrationen vom Sonntagabend sind die Fortsetzung kleinerer | |
| Proteste vom späten Donnerstag. Da hatte das Verfassungsgericht nach einer | |
| siebenmaligen Vertagung mit 10:2 Richterstimmen ein Urteil auf eine Anfrage | |
| von Premier Morawiecki gefällt. Dieser hatte im März wissen wollen, welches | |
| Recht in Polen höher stehe, jenes der EU oder die polnische Verfassung. Das | |
| Verfassungsgericht hatte entschieden, dass polnisches Recht über EU-Recht | |
| stehe. | |
| Genau dieses Urteil war erwartet worden, denn es widerspiegelt die | |
| politische Vorgabe von Kaczyński und dessen PiS. Das Verfassungsgericht, | |
| das seit der Wende von 1989 nie wirklich unabhängig vom Willen sämtlicher | |
| bisheriger Regierungsparteien war, ist seit der Machtübernahme der PiS im | |
| Herbst 2015 – so eindeutig wie nie zuvor – direkt dem PiS-Parteiwillen | |
| unterstellt. Glaubt man der Opposition, so sprechen Kaczyński und | |
| Gerichtspräsidentin Julia Przyłębska den Zeitplan des Verfassungsgerichts | |
| und auch dessen Urteile vorher gemeinsam ab. | |
| ## EU-Recht als Speisekarte: Man pickt sich das beste heraus | |
| Das Verfassungsgericht wird in Polen von PiS-Parteigängern dominiert. | |
| Alleine die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts ist gemäß einem Urteil | |
| des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg von | |
| diesem Mai illegal. Doch auch daran hält sich Warschau nicht mehr, weil, so | |
| Kaczyńskis PiS, der EGMR ähnlich wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) in | |
| Luxemburg dauernd „seine Kompetenzen überschreite“. | |
| Dass dies im Falle des EuGH genauso ist, wurde nun also am Donnerstagabend | |
| in Warschau abschließend geklärt. Gemäß dem von Kaczyński gekaperten | |
| polnischen Verfassungsgericht verstoßen die Artikel 1, 4 und 19 des | |
| EU-Vertrags gegen die polnische Verfassung. Die EU-Vertragsartikel regeln | |
| den Transfer nationaler Kompetenzen an die EU, die Geltung von EU-Gesetzen | |
| und die Kompetenz des EuGH als oberstes Justizorgan, dem sich alle | |
| EU-Mitglieder bei der Unterzeichnung des EU-Beitrittsvertrags unterworfen | |
| haben. | |
| Im Klartext bedeutet dies, dass sich Polen künftig nicht mehr an | |
| EuGH-Urteile halten muss. Dies ist wichtig für die PiS, weil sich mehrere | |
| bereits gefällte EuGH-Urteile und auch EU-Vertragsverletzungsverfahren | |
| gegen Kaczyńskis [3][Justizreform] richten. Kaczyński versucht damit, die | |
| bisherige Unabhängigkeit der Gerichte auf allen Ebenen durch eine | |
| Parteijustiz zu ersetzen. Regierungskritische Richter werden schon heute | |
| mit einem Berufsverbot belegt. | |
| „Unsere Verfassung hat das Primat gegenüber EU-Recht! Das war zu | |
| erwarten!“, kommentierte Kaczyński hocherfreut sofort nach dem | |
| Verfassungsgerichtsurteil. „Das EU-Recht ist also dem polnischen Recht | |
| unterworfen“, so Kaczyński. Kaczyński habe anderen EU-Mitgliedern auf | |
| primitivste Art gezeigt, wie man in Zukunft EU-Recht brechen könne, | |
| kommentierte hingegen Krzysztof Śmiszek von den oppositionellen Linken. | |
| „Das EU-Recht ist seit heute wie ein Menu in einem Restaurant, aus dem | |
| Kaczyński auswählen kann, was er möchte. Gewisse EU-Regeln werden | |
| angewandt, andere nicht“, prophezeite Śmiszek. | |
| ## Die PiS braucht Polarisierung – der EU-Streit hilft | |
| Das Verfassungsgericht hat Kaczyński damit nicht nur einen neuen | |
| Streitpunkt mit der EU beschafft und damit zusätzliches Öl in den seit 2015 | |
| schwelenden Konflikt mit Brüssel gegossen, sondern vor allem ein | |
| Wahlkampfgeschenk beschert. In zwei Jahren wird in Polen ein neues | |
| Parlament gewählt, vielleicht kommt es auch wesentlich früher zu | |
| vorgezogenen Neuwahlen. PiS will dabei ein drittes Mal als stärkste Kraft | |
| bestätigt werden. Um dies zu erreichen, braucht Kaczyński einen | |
| innenpolitischen Dauerstreit, denn die Polarisierung der Gesellschaft hat | |
| ihn 2015 an die Macht gebracht und ihm 2019 die Wiederwahl beschert. | |
| Diesen Dauerstreit hat er nun mit dem Verfassungsgerichtsurteil neu | |
| befeuert. Bereits am Donnerstag gab es erste Proteste der Opposition gegen | |
| den angeblich von PiS geplanten „Polexit“. Oppositionsführer Tusk gilt als | |
| Turbo-Europäer, gegen ihn kann sich Kaczyński am besten als EU-Skeptiker | |
| profilieren. Dabei hilft ihm nun dieses auch in Polen umstrittene | |
| Verfassungsgerichtsurteil. Mit Tusks Rückkehr aus Brüssel in die polnische | |
| Landespolitik hat Kaczyński dazu seinen politischen Erzfeind | |
| zurückerhalten, was den alten Kämpen sichtlich beflügelt. | |
| Dazu hat das Verfassungsgerichtsurteil weitere innenpolitische Vorteile: | |
| PiS kann sich gegenüber seinem kleinen, EU-feindlichen Koalitionspartner | |
| „Solidarisches Polen“ von Justizminister Zbigniew Ziobro sowie auch | |
| gegenüber der rechten Kleinpartei Kukiz’15 und der rechtsextremen | |
| „Konföderation“ als besonders EU-skeptisch profilieren. Gleichzeitig werden | |
| auch die PiS-Hardliner bei der Stange gehalten, die immer wieder beklagt | |
| hatten, Kaczyński mache Brüssel zuliebe viel zu große Kompromisse. | |
| Kaczyńskis Risiko ist dabei nicht unbedeutend, denn bereits heute hält die | |
| EU eine Tranche von mindestens 24 Milliarden Euro Beihilfen aus dem | |
| [4][EU-Corona-Wiederaufbaufonds] an Polen zurück. Mit diesem Geldern hat | |
| die PiS ein großes Infrastrukturprogramm geplant, das bereits landesweit | |
| auf Plakaten beworben wird. Die EU soll Kaczyński also Wahlkampfhilfe | |
| leisten, sobald dieses Geld fließt. Dies ist auch ein Grund, weshalb die | |
| PiS keinen „Polexit“ plant, auch wenn Tusk und die Opposition das | |
| behaupten. Vielmehr soll die EU Polen Geld geben, damit die PiS-Regierung | |
| sich weiterhin Wahlgeschenke in Form von Sozialhilfe leisten und damit an | |
| der Macht bleiben kann. | |
| Laut Umfragen unterstützen zudem 88 Prozent der Polen die EU-Mitgliedschaft | |
| des Landes; nur 9 Prozent sehen diese negativ. | |
| „Wir werden siegen, denn wir sind mehr“, sagte Tusk deshalb am Sonntagabend | |
| in Warschau auf dem Schlossplatz. Sicher ist dies indes keineswegs, denn | |
| als wichtiger als europäische Werte haben sich in den letzten acht Jahren | |
| für die Polen die großzügigen PiS-Sozialleistungen erwiesen. | |
| Sollte es hart auf hart mit Brüssel kommen, hat Kaczyński immer noch einen | |
| Trumpf in der Hand: Das Verfassungsgerichtsurteil von Donnerstag wird erst | |
| rechtlich bindend, wenn es veröffentlicht worden ist. Bisher wurden heikle | |
| Urteile von der Regierung einfach nie veröffentlicht. In die Waagschale bei | |
| allfälligen Verhandlungen mit Brüssel kann Kaczyńskis PiS also weiterhin | |
| die Veröffentlichung des Urteils werfen, während die Partei im eigenen Land | |
| darauf verweisen kann, sie hätte Polens Souveränität vor den EU-Bürokraten | |
| gerettet. | |
| 11 Oct 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Paul Flückiger | |
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