# taz.de -- Europas Blick auf Ampelkoalition: Der neue Nachbar | |
> Einige europäische Länder freuen sich auf einen Kanzler Scholz, andere | |
> nicht. Wie der bevorstehende deutsche Regierungswechsel in Europa gesehen | |
> wird. | |
Bild: Sehen sich wohl bald öfters: Olaf Scholz und Emmanuel Macron Anfang Sept… | |
## Frankreich: Aufstieg zum Seniorpartner | |
Personen? Nein, Inhalte! Die Frage, wer Nachfolger von Angela Merkel wird, | |
beschäftigt den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron weniger als | |
die Orientierung der zukünftigen Bundesregierung. | |
Im Wahlkampf hatte er sowohl Olaf Scholz wie Armin Laschet im Élysée-Palast | |
empfangen. Fühlte er sich dem einen oder dem anderen politisch näher? | |
Natürlich hütete sich Macron tunlichst, irgendwelche Präferenzen zu | |
erwähnen, und erst recht mischt er sich in keiner Weise in die laufenden | |
Koalitionsverhandlungen ein, die ihn gleichwohl brennend interessieren | |
dürften. Denn schließlich haben diese sehr direkte Konsequenzen nicht nur | |
für die zukünftige Europapolitik überhaupt, sondern auch auf die | |
Kräfteverhältnisse im deutsch-französischen Führungsgespann der EU. | |
Scholz wäre aus Macrons Sicht die Verkörperung einer Kontinuität – solange | |
er nicht allzu große Zugeständnisse an die Liberalen und Grünen machen | |
muss. Diesbezüglich ist die Staatsführung in Paris eher beruhigt vom | |
Zwischenstand der Ampelverhandlungen. | |
Aus einem anderen Grund mag Macron die Kanzlerfrage mit einem gelassenen | |
Achselzucken betrachten. Sollte er im kommenden April als Präsident für | |
weitere fünf Jahre wiedergewählt werden, könnte er sich „als Seniorpartner | |
im französisch-deutschen Paar und als Mentor des neuen Kanzlers aufführen“, | |
wie Paul Maurice vom Politologie-Institut IFRI meint. | |
Vorbei also die Zeiten mit Merkel, in denen sich der heute 43-jährige | |
Präsident immer ein wenig als Greenhorn fühlen musste. Nun hat Macron | |
Großes vor, vor allem für Frankreich, aber auch für Europa – sei es im | |
Bereich der Kernkraft, der gemeinsamen Verteidigung, in der Schuldenfrage | |
und der europäischen Haushaltsdebatte. Aber auch in einer aktiven | |
europäischen Außenpolitik gegenüber China, den USA, Russland und in Afrika, | |
möchte Macron nicht, dass Deutschland ihm wie in Merkelzeiten ständig auf | |
die Bremse tritt. | |
Da trifft es sich natürlich ausgezeichnet, dass Frankreich unter seiner | |
Regie im ersten Halbjahr 2022 den EU-Vorsitz übernimmt. Das stärkt Emanuel | |
Macrons Position und erleichtert es ihm, französische Akzente zu setzen. | |
Rudolf Balmer | |
* * * | |
## Polen: Einer vom „linken Lumpenpack“ | |
Mit großer Spannung warten die Polen auf die neue Regierung in Berlin. Das | |
liegt an der hervorragenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit: Polen ist 2020 | |
zum fünftwichtigsten Handelspartner Deutschlands aufgestiegen. Aber auch | |
die großen Emotionen, die allein schon das Wort „Deutsche“ bei vielen | |
Pol:innen bis heute auslöst, spielen eine wichtige Rolle. | |
Auch [1][der neueste Kampf gegen Brüssel], den die regierenden | |
Nationalpopulisten von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit großer | |
Vehemenz führen, kommt nicht ohne Bezug auf den Zweiten Weltkrieg aus: „Wir | |
haben gegen die deutsche und sowjetische Okkupation gekämpft, wir kämpfen | |
auch gegen die Okkupation Brüssels“, sagte der PiS-Abgeordnete Marek Suski. | |
In den Nachrichten des Staatsfernsehens wird beinahe täglich der angebliche | |
Verräter Donald Tusk eingeblendet, wie er in deutscher Sprache „Danke“ und | |
„für Deutschland“ sagt. | |
Da Olaf Scholz für die PiS-Medien zum „linken Lumpenpack“ gehört und als | |
„Putinversteher“ sowieso kein Verständnis für Polen entwickeln werde, soll | |
die scheidende Bundeskanzlerin der PiS beim Kampf gegen Brüssel helfen. | |
Dank Merkels Ankündigung beim EU-Gipfel in dieser Woche, [2][auf Dialog | |
statt Druck zu setzen], bekäme die PiS ihre einseitige Kündigung der | |
Artikel 1, 4 und 19 der Europäischen Verträge durch und könnte sich | |
demnächst aussuchen, welche EU-Regelungen und EuGH-Urteile für Polen gültig | |
sein werden und welche nicht – so das Kalkül von Premier Mateusz | |
Morawiecki. Die neue deutsche Koalition würde dann von Merkel, PiS & Co vor | |
vollendete Tatsachen gestellt werden. | |
Fest in ihr Herz geschlossen haben die PiS-Politker:innen hingegen die | |
Grünen und Annalena Baerbock, nachdem sie mehrfach angekündigt hat, die | |
Inbetriebnahme der Ostseepipeline Nord Stream 2 verhindern zu wollen. Das | |
will auch die PiS-Regierung, die ebenfalls eine Pipeline unter Umgehung der | |
Ukraine baut, um demnächst in Norwegen gekauftes Gas nach Polen zu | |
befördern. Ziel ist es, Polen zur Gasdrehscheibe Zentraleuropas auszubauen. | |
Dazu dient auch ein Flüssiggashafen, der mit Frackinggas aus den USA und | |
Erdgas aus Katar beliefert wird. Dass Baerbock erneuerbare Energien | |
vorziehen würde, interessiert die PiS nicht – Hauptsache, sie verhindert | |
Nord Stream 2. Gabriele Lesser | |
* * * | |
## Portugal: Man kennt sich, man schätzt sich | |
Portugals Premier António Costa ist Pragmatiker und Realist. Der Sozialist, | |
der seit 2015 mit Unterstützung kleinerer linker Kräfte einer | |
Minderheitsregierung vorsteht und sein armes Land aus der Eurokrise geführt | |
hat, lobt die, die gehen und die, die kommen. Und im Fall von Olaf Scholz | |
auch die, die bleiben. | |
Der Abgang von Kanzlerin Angela Merkel verursache bei ihm „Wehmut“, sagte | |
Costa vor knapp drei Wochen auf dem EU-Gipfel in Slowenien. Doch tröstet er | |
sich damit, dass Olaf Scholz ebenfalls „ein großer Verteidiger der EU“ sei. | |
Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz im Mai lobte Costa Deutschland, mit | |
dem sein Land „durch eine starke Beziehung“ verbunden sei, und er lobte vor | |
allem Bundesfinanzminister Scholz. | |
Damals hatte Portugal die EU-Ratspräsidentschaft inne und Costa die | |
Gelegenheit, mit Scholz eng zusammenzuarbeiten, etwa als es darum ging, auf | |
die Covid-19-Pandemie zu reagieren. „Neben den dramatischen Auswirkungen | |
hinsichtlich der Gesundheit hat die Covid-19-Pandemie auch eine sehr | |
schwere Wirtschaftskrise verursacht“, sagte Costa. Scholz habe „eine | |
entscheidende Rolle für die Europäische Union gespielt“ und „anders | |
reagiert als in früheren Krisen“. | |
Costa mag Scholz, nicht nur, weil dieser auch Sozialdemokrat ist, sondern | |
weil er ein gelasseneres Herangehen an Europa und den Euro hat als sein | |
Vorgänger im Amt des Bundesfinanzministers, Wolfgang Schäuble. Der | |
portugiesische Regierungschef hat die Zeiten nicht vergessen, in denen | |
Schäuble mit seinem Spardiktat Portugal fast den Atem abschnürte. Für Costa | |
steht der künftige SPD-Kanzler für Kontinuität der letzten Jahre einer | |
Merkel-Regierung, die sich verständnisvoller zeigte als in den 2010er | |
Jahren. | |
Scholz wiederum weiß, dass er bei der derzeitigen politischen Landkarte der | |
EU auf Südeuropa angewiesen ist. „Natürlich werden wir eine gute | |
Zusammenarbeit mit den Ministerpräsidenten von Portugal und Spanien haben“, | |
sagte Scholz gegenüber der portugiesischen Nachrichtenagentur Lusa nach der | |
letzten Kundgebung der Sozialdemokraten vor den Bundestagswahlen. Costa und | |
den Spanier Pedro Sánchez bezeichnete er als gute Freunde. Reiner Wandler | |
* * * | |
## Griechenland: Merkels Reue kommt zu spät | |
Einen Empfang voller Wut und Empörung werden die Griechen Angela Merkel | |
nicht bereiten, wenn sie am 28. Oktober zu ihrem Abschiedsbesuch in Athen | |
eintrifft. So wie sie es im Oktober 2012, am Höhepunkt der Eurokrise, auf | |
dem Syntagma-Platz erleben und ertragen musste. | |
Vor der Krise waren die Deutschen noch das Lieblingsvolk der Griechen. Doch | |
der Sparkurs, unstrittig in Berlin entworfen und Athen wider aller Vernunft | |
mit der Brechstange aufgebürdet, brachte die Griechen gegen Merkel auf. | |
Unermüdlich setzten griechische Karikaturisten Angela Merkel in Panzer, | |
zeigten sie mit Lederpeitsche und Hakenkreuzbinde. | |
Schnee von gestern? Eher nicht. Daran hat auch die liberale Haltung Merkels | |
in der Asylpolitik im Sommer 2015, als Geflüchtete Griechenland zahlreich | |
in Richtung Deutschland wieder verlassen konnten, kaum etwas ändern können. | |
In Athen beobachtete man mit Argwohn, wie Merkel zuletzt ausgerechnet vom | |
türkischen Autokraten und Erbfeind Erdoğan als „teure Kanzlerin“ und | |
„geschätzte Freundin“ verabschiedet wurde – und dies sogar genoss. Für … | |
Griechen ein Affront. | |
Anfang September offenbarte Merkel auf der Bühne des Düsseldorfer | |
Schauspielhauses reumütig, der schwerste Moment ihrer Amtszeit sei die | |
Eurokrise gewesen, als sie den „Bürgern in Griechenland so viel zugemutet“ | |
habe. Die linksliberale Athener Kommentatorin Vassiliki Siouti bedachte | |
Merkels Statement mit beißender Ironie: „Das kommt ein bisschen spät.“ | |
Bleibt die Frage, ob den Griechen nicht trotzdem Angst und Bange wird, wenn | |
sie an die Zeit nach Merkel denken – und daran, wer deutscher | |
Finanzminister werden könnte. Es wird sich kaum ein Grieche finden, auch in | |
der aktuellen konservativen Regierung des Landes, der auf jenem | |
Schlüsselposten nicht lieber den in Sachen Staatsschulden wohl | |
geschmeidigeren Robert Habeck sähe als Christian Lindner. Griechenland | |
favorisiert flexiblere Defizit- und Schuldenvorgaben. Ferry Batzoglou | |
* * * | |
## Dänemark: Schaut mal, Sozis, es geht auch anders! | |
Auf Angela Merkel, die beim Klimathema „monumental versagt“, die „grüne | |
Umstellung auf die ganz lange Bank geschoben“ habe und das Resultat deren | |
Regierungszeit sei, dass Deutschland „nun eine größere soziale | |
Ungleichheit“ habe und im Lande „ein insgesamt gewachsenes Misstrauen in | |
die Politik“ herrsche, folgt also nun Olaf Scholz. Als Jungsozialist hat er | |
einstmals als Systemkritiker die „kapitalistische Ökonomie überwinden | |
wollen“, aber mittlerweile „verwaltet er schon lange nur noch die | |
etablierte Gesellschaftsordnung“. | |
Eine linke Stimme, wie die Kopenhagener Tageszeitung Information, aus der | |
alle diese Urteile stammen, macht sich keine großen Hoffnungen, dass sich | |
mit der neuen Regierung in Berlin viel zum Besseren ändern werde. Denn | |
wolle die Sozialdemokratie eine Kraft für soziale Gerechtigkeit in Europa | |
werden, müsste Scholz eine Regierung bilden, „die die Macht radikal | |
umverteilt“. Und das könne man von der Ampel nicht erwarten. | |
Davon träumen kann man aber natürlich schon, und so ließ das Blatt am | |
Wochenende den US-Gerechtigkeitstheoretiker Michael Sandel, dessen Buch | |
„Vom Ende des Gemeinwohls“ Scholz vor einigen Monaten als „unheimlich | |
faszinierend“ lobte und von dem sich die SPD offensichtlich auch bei ihrer | |
Wahlkampfstrategie inspirieren ließ, mit dieser Einschätzung zu Wort | |
kommen: Vielleicht könnten ja Politiker wie Biden und Scholz tatsächlich | |
einen „Kurswechsel von der Politik des Glaubens an den Markt und an eine | |
marktbasierte Leistungsgesellschaft hin zu einer Politik, die die Würde der | |
Arbeit betont“, schaffen. | |
Eine solche Möglichkeit, die sie von ihrem politischem Standort aus | |
natürlich für brandgefährlich hält, mag auch die rechtsliberale | |
Jyllands-Posten nicht ausschließen. Eine Ampel, „trafiklys-regering“ auf | |
Dänisch, klinge ja erst einmal „nach geordnetem Verkehrsfluss mit | |
Einhaltung aller Geschwindigkeitsbeschränkungen“, kommentiert sie. Aber | |
weil nun erstmals seit langer Zeit in Deutschland „drei Parteien die Hände | |
am Steuer haben“ und die SPD durch ihren unerwarteten Wahlerfolg deutlich | |
gestärkt und deshalb womöglich zu aufmüpfig werde, könne der deutschen | |
Politik tatsächlich „ein Linksschwenk“ drohen. | |
Die Zeitung baut auf die FDP und einen Finanzminister Christian Lindner: | |
Der Porsche-Enthusiast werde schon sicherstellen, dass sich der Staat nicht | |
zu sehr in die freien Märkte einmischen werde. | |
Den wesentlichen Unterschied zwischen einer sozialdemokratisch geführten | |
Regierung in Kopenhagen und Berlin sieht Politiken im Bereich der | |
Migrationspolitik. Sie hält Regierungschefin Mette Frederiksen vor, dass | |
man als Sozialdemokratie tatsächlich Wahlen gewinnen könne – ohne wie die | |
dänischen Sozis Ansichten zu vertreten, die in Deutschland nur die AfD | |
teilt. Fragt aber auch, ob eine deutsche Regierung dagegen gefeit sei, auf | |
[3][einen Kurs wie den dänischen] abzudriften – „Undenkbar“, hofft das | |
liberale Blatt. Reinhard Wolff | |
* * * | |
## Italien: Hoffnung auf Super-Mario | |
Von solchen Zustimmungswerten träumen Regierungschefs und -chefinnen. Je | |
nach Umfrage sprechen bis zu 70 Prozent der Italiener*innen ihrem | |
Ministerpräsidenten Mario Draghi das Vertrauen aus. Seit nunmehr gut acht | |
Monaten ist er im Amt, doch die eigentlich üblichen Abnutzungserscheinungen | |
bei der Popularität wollen sich bei ihm einfach nicht einstellen. | |
Im Gegenteil – über den Sommer nahm die Draghi-Manie teils groteske Züge | |
an. Als Italiens Fußballer die EM gewannen, waren da, wenn man diversen | |
Kommentaren in den Medien glauben durfte, weniger Spielkunst oder | |
Trainergeschick verantwortlich als vielmehr der „Draghi-Effekt“. Der wurde | |
dann ebenso bemüht, als Marcell Jacobs für Italien bei den Olympischen | |
Spielen über 100 Meter Gold erlief oder als sowohl die Männer wie auch die | |
Frauen im Volleyball die Europameisterschaft holten. | |
Welche Rolle der frühere Präsident der EZB bei diesen Erfolgen gespielt | |
haben soll, blieb nebulös, doch das Fazit liegt auf der Hand: Von Draghi | |
geht ein Zauber aus. Auf der Hand liegt da auch die Frage, ob dieser Zauber | |
nicht auch anderwärts, quer durch Europa, greifen könne. | |
„Ein Gigant Europas“ sei der Ex-Zentralbanker: Diesen Befund der New York | |
Times zitierten diverse italienische Medien im letzten April voller | |
Wohlgefallen, und die Turiner Tageszeitung La Stampa referierte ihrem | |
Publikum vor wenigen Tagen ausführlich, dass laut Handelsblatt Italien dank | |
Draghi „Reputation und Glaubwürdigkeit zurückgewonnen“ habe. | |
Und warum sollte er nicht, da doch jetzt Angela Merkel als ungekrönte | |
Königin Europas abtritt, einfach diesen Job übernehmen? Vorneweg äußerte | |
Außenminister Luigi Di Maio diesen Gedanken: „Wir können diese Gelegenheit | |
ergreifen und mit unserer Regierung dieses Führungsvakuum füllen.“ Genauso | |
sieht das auch die Tageszeitung Il Giornale aus dem Hause Berlusconi. Für | |
sie ist „Super-Mario der neue starke Anführer der Union“. | |
Zurechtgestutzt wurden solche Erwartungen ausgerechnet von Angela Merkel | |
selbst, bei ihrem Abschiedsbesuch in Rom am 7. Oktober. „Italien wird | |
Deutschland ganz gewiss nicht ersetzen, und Deutschland bleibt | |
Deutschland“, erklärte sie rundheraus und wiederholte es sofort nochmal: | |
„Wir werden nicht ersetzt werden.“ Den Grund schob sie gleich hinterher: | |
„Wir sind die größte Ökonomie Europas, von unserer Stimme, von unserem | |
Gewicht hängt einiges ab“. Auch ein Mario Draghi, so dürfen wir die | |
Kanzlerin wohl verstehen, kommt in Zukunft nicht an Olaf Scholz vorbei. | |
Michael Braun | |
23 Oct 2021 | |
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