| # taz.de -- Merkel und Griechenland: Die ungeliebte Retterin | |
| > Auf große Liebe stieß Merkel in Athen nicht. Ihre Sparpakete verschärften | |
| > Not und Arbeitslosigkeit. Dennoch hätte es ohne sie schlimmer kommen | |
| > können. | |
| Bild: Beim letzten Besuch in Athen als Kanzlerin: Merkel mit ihrem Amtskollegen… | |
| Dass Angela Merkel auf ihrer Abschiedstournee durch Europa auf [1][einer | |
| der letzten Stationen Griechenland] besucht hat, ist kein Zufall. In den 16 | |
| Jahren ihrer Kanzlerschaft waren Griechenland und Deutschland so eng | |
| miteinander verknüpft wie nie zuvor – allerdings mehr in schlechten als in | |
| guten Zeiten. Mit sieben Ministerpräsidenten aller Couleur und einer | |
| Ministerpräsidentin hatte sie es zu tun. Große Liebe kam nicht auf. | |
| Die Not bestimmte den Takt, das Verhältnis glich einer | |
| Schicksalsgemeinschaft, mit hässlichen Untertönen und schriller | |
| Begleitmusik. Man denke an die Verunglimpfung [2][Merkels mit Hitlerbart] | |
| und Hakenkreuz-Armbinde als Antwort auf die [3][Aphrodite von Milos] mit | |
| ausgestrecktem Mittelfinger. Doch ohne Merkel wäre es – trotz mancher | |
| Fehler – für alle Beteiligten wohl schlimmer gekommen. | |
| Mit Griechenlands 2008 beginnender Staatsschulden- und Strukturkrise stand | |
| auch das Schicksal der Europäischen Union auf dem Spiel. Entschieden wurde | |
| es letztlich zwischen Deutschland und Griechenland. Früh wurden von Seiten | |
| der EU auch mit Billigung Merkels Rettungs- und Sparpakete für Griechenland | |
| geschnürt. | |
| In diese Zeit fiel das erste von Griechenland angestrebte Referendum zum | |
| Verbleib Griechenlands im Euro, das auch auf Merkels Druck hin abgesagt | |
| wurde – ein Schritt, den viele als unzulässigen Eingriff in die | |
| griechischen Souveränitätsrechte empfanden. Diese wie auch die weiteren | |
| Rettungs- und Sparpakete waren mit dramatischen Einschnitten für | |
| Griechenlands Wohlstand verbunden. | |
| ## Rettungspaket ohne Investitionsperspektive | |
| Hohe Arbeitslosigkeit und große Armut in einem Teil der Bevölkerung waren | |
| die Folge. Bis heute lässt sich streiten, ob ein Austritt aus dem Euroraum | |
| besser gewesen wäre, oder ob der wirtschaftliche Einbruch bei einer | |
| Rückkehr zur Drachme nicht zu einem viel stärkeren und länger anhaltenden | |
| wirtschaftlichen Einbruch geführt hätte – wovon der Autor dieser Zeilen | |
| ausgeht. | |
| Was aber in diesen Rettungspaketen zweifelsohne fehlte, war eine | |
| Investitionsperspektive. Die von Merkel mitgetragene Troika hat viel zu | |
| lange einseitig auf weiteren Strukturreformen beharrt, die dann über viele | |
| Jahre von griechischen Regierungen erfolgreich verschleppt wurden. | |
| Stattdessen wäre es besser gewesen, diese zu Recht geforderten Reformen an | |
| das Versprechen zu koppeln, parallel eine europäisch finanzierte | |
| Investitionsoffensive in Zukunftstechnologien in Griechenland zu starten. | |
| Dass ein solcher Schritt über all die Jahre ausblieb, dürfte ein zentraler | |
| Grund gewesen sein, warum letztlich auch die Troika gescheitert ist, und | |
| schlimmer noch, warum sich die Erholung der griechischen Wirtschaft viel zu | |
| lange hingezogen hat. Für dieses Ausbleiben einer Investitionsinitiative | |
| tragen zuallererst die jeweiligen griechischen Regierungen Verantwortung. | |
| Aber auch Merkel als stärkste Stimme im europäischen Konzert steht zu ihrer | |
| Mitverantwortung. | |
| Ihre Stärken lagen woanders: im aktiven Krisenmanagement, das den | |
| „europäischen Laden“ am Laufen hält. Das hat sich vor allem im Jahr 2015 | |
| gezeigt. Zweimal stand es in diesem Jahr Spitz auf Knopf. Im Februar gab es | |
| in letzter Sekunde eine Einigung zwischen griechischer Regierung und | |
| europäischen Gläubigern, wonach das laufende Hilfsprogramm für Griechenland | |
| verlängert wurde. Die Kanzlerin hatte sich auch gegen den Willen ihres | |
| Finanzministers für diese Verlängerung eingesetzt. | |
| ## Merkel hat den Grexit verhindert | |
| Noch schwieriger gestaltete sich die Situation im Juli nach dem | |
| [4][„óχι-Referendum“]. In Deutschland kleideten einzelne Politiker den | |
| erwarteten Austritt Griechenlands aus der Eurozone bereits in scheinheilige | |
| Worte des Bedauerns. Doch der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras | |
| machte seine [5][„Kolotoumba“], einen Purzelbaum, und begab sich auf einen | |
| Verhandlungsmarathon mit seinen Gläubigern. Merkel unterstützte erneut den | |
| Verbleib Griechenlands im Euroraum. | |
| Ohne ihr besonnenes Eingreifen hätte sich womöglich die griechische | |
| Geschichte mit Grexit und dem Bankrott des ganzen Landes anders entwickelt. | |
| Aber auch die Europäische Union wäre heute eine andere. Neben der | |
| Schuldenkrise haben zahlreiche weitere Entscheidungen das Verhältnis | |
| zwischen beiden Ländern belastet. | |
| Man denke an die Öffnung der Grenzen in Griechenland im Jahr 2015, die zum | |
| ungehinderten Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland beitrug und die im | |
| von Merkel ausgehandelten „Flüchtlings-Deal“ zwischen der EU und der Türk… | |
| mündete. Man denke auch an den jüngsten Türkei-Griechenland-Konflikt, bei | |
| dem sich Merkel weigerte, Stellung zu beziehen, sondern erneut versuchte, | |
| im Stil einer Moderatorin die Krise zwischen den beiden Mittelmeerländern | |
| zu lösen. | |
| In Griechenland hat das die Kanzlerin nicht beliebter gemacht. Die | |
| Bevölkerung hatte eigentlich von ihr erwartet, dass sie sich schützend vor | |
| den europäischen Nachbarn stellt. Ihre Reise nach Griechenland war also | |
| kein leichter Gang. Der breite Respekt, der ihr in anderen europäischen | |
| Ländern gezollt wird, bleibt ihr in Griechenlands Bevölkerung versagt. Doch | |
| waren in Athen auf beiden Seiten auch selbstkritische und versöhnliche Töne | |
| zu hören. | |
| Die Zeichen stehen gut, dass sich die wirtschaftliche Lage verbessern | |
| könnte, auch weil es eine Reihe gemeinsamer Investitionen vor allem | |
| deutscher Unternehmen in Griechenland gab, etwa im Energie- und im | |
| IT-Bereich. Ebenso wurden erste Leuchtturmprojekte angeschoben, die | |
| Umstellung der Insel Astipalea auf E-Mobility als gemeinsame Investition | |
| mit VW. | |
| Mit solchen Investitionen haben sich die bilateralen Beziehungen endlich | |
| auf einen produktiveren Pfad begeben. Dass Misstöne seltener werden, wäre | |
| für alle Seiten wünschenswert. Merkels Nachfolger sollte konsequent | |
| versuchen, ein neues Kapitel aufzuschlagen. | |
| 31 Oct 2021 | |
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| [1] /Merkels-Abschiedsbesuch-in-Athen/!5811811 | |
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| [4] /Referendum-in-Griechenland/!5210098 | |
| [5] https://www.greeknewsonline.com/the-wrong-debate-in-greece-was-it-a-victory… | |
| ## AUTOREN | |
| Alexander Kritikos | |
| AlexanderKritikos | |
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