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# taz.de -- Verhalten der Polizei bei Halle-Anschlag: Mangelnde Empathie für T…
> Nach dem Anschlag in Halle beklagten Zeugen das unsensible Verhalten von
> Polizisten. Ein interner Bericht der Behörden gesteht nun Fehler ein.
Bild: Gedenkstätte für die Opfer des Anschlags von Halle, 30. Mai 2021
Berlin taz | Die Schilderungen des Zeugen waren deutlich. „Zu diesem
Zeitpunkt lag gerade der schlimmste Tag meines Lebens hinter mir. Ich hatte
nicht das Gefühl, dass das gesehen wurde“, erklärte einer der Gläubigen aus
der Hallenser Synagoge im Magdeburger Untersuchungsausschuss. Es habe der
Polizei an Empathie gefehlt. Sie scheine auch gar keine Ahnung gehabt zu
haben, wer Juden sind und was sie an diesem Tag in der Synagoge gemacht
hätten, kritisierte der Zeuge laut Vernehmungsprotokoll. Dabei hätte es
schon geholfen, wenn jemand einfach gefragt hätte: „Was brauchen Sie?“
Offenbar aber stellten die Polizeibeamten diese Frage nicht, als sie am 9.
Oktober 2019 an der Synagoge in Halle anrückten, nachdem dort [1][der
Rechtsterrorist Stephan B. versucht hatte, diese zu stürmen und eine
Passantin erschoss.] Danach ermordete der 27-Jährige noch einen Mann im
nahen „Kiezdöner“, schoss auf weitere Personen. Mehr als anderthalb Stunden
dauerte es, bis Polizisten den Attentäter festnahmen, auf einer Landstraße,
60 Kilometer hinter Halle.
Es war ein Anschlag, der einen der größten Polizeieinsätze in der
Geschichte Sachsen-Anhalts verursachte – insgesamt 1.569 Beamte waren
eingebunden. Ein Einsatz, der im Nachgang von der Landespolizei penibel
ausgewertet wurde. Funksprüche und Notrufe wurden analysiert, Beamte
befragt. Der im März fertiggestellte „Schlussbericht“ ist bisher nicht
öffentlich, liegt nun aber der taz vor – [2][über die Initiative „Frag den
Staat“], die ihn beim Innenministerium Sachsen-Anhalt angefordert hatte.
Der Bericht macht klar: Auch wenn die Polizei ein positives Einsatzfazit
zieht, hatte sie bei dem Anschlag mit mehr Problemen zu kämpfen als bisher
bekannt, allen voran bei der Betreuung der Opfer. Dieses hatte auch der
Untersuchungsausschuss des Landtags zu dem Attentat zuletzt deutlich
kritisiert.
## Koordination per Privathandy
Der Anschlag habe die Landespolizei „extrem gefordert“, hält der Bericht
fest. Weder sei anfangs klar gewesen, was genau geschehen sei, noch mit wie
vielen Tätern und welcher Bewaffnung man es zu tun hatte. Die Polizeikräfte
hätten aber „außergewöhnlich entschlossen“ agiert, die taktischen Ziele
seien erreicht worden: Der Täter sei festgenommen, umfangreiche
Beweismittel gesichert worden.
Der Bericht listet aber auch Probleme auf. So habe es eine Weile gedauert,
bis die operative Führung in der Polizei sich sortiert hatte: Die ersten
Einsatzkräfte an den Tatorten waren so zunächst auf sich allein gestellt.
Auch war die gewählte Polizeifunkgruppe schnell überlastet, etliche
Einsatzkräfte hätten daraufhin auf private Mobiltelefone zurückgreifen
müssen – wodurch Informationen nicht mehr alle erreichten und die spätere
Beweissicherung erschwert wurde. Zudem hätten Informationen aus Notrufen
„mit sehr hohem Aufwand“ per Hand ins Einsatzprotokollsystem übertragen
werden müssen und hätten so erst verzögert die Polizeiführung erreicht.
Dass es Stephan B. trotz eines Schusswechsels mit der Polizei vor dem
„Kiezdöner“ gelang, aus Halle zu fliehen und im Nachbarort Wiedersdorf
nochmal zwei Menschen niederzuschießen, räumt der Polizeibericht als
misslich ein: Der Anschlag habe gezeigt, „dass erhebliche Probleme
auftreten können, wenn Täter an mehreren Tatorten agieren und es nicht
gelingt, diese frühzeitig zu binden“.
## „Erfolgreiche Polizeiarbeit“
Den Polizeikräften sei aber nichts vorzuwerfen. Sie seien „sehr zügig“ an
den Tatorten gewesen, an der Synagoge sieben Minuten nach dem ersten
Notruf, am „Kiezdöner“ nach drei Minuten. Allesamt hätten „taktisch
zweckmäßig“ agiert, trotz „hohem Risiko der Eigengefährdung“.
Dass der Attentäter dennoch wieder ins Auto stieg, sogar noch einmal an
Polizeikräften vor der Synagoge vorbeifuhr, könne man diesen ebenfalls
nicht vorwerfen: Die dortigen Beamten hatten gerade erst ihre Ausrüstung
angelegt und seien schlicht „überrascht“ worden. Einzig noch mehr
Einsatzkräfte vor Ort hätten helfen können, bilanziert der Bericht.
Auch der Untersuchungsausschuss im Magdeburger Landtag, der im April zu
Ende ging, übte hier keine Kritik. Der Polizeieinsatz habe „keine
wesentlichen Schwächen“ offenbart, heißt es im dortigen Abschlussbericht.
Für die zunächst erfolgreiche Flucht von Stephan B. seien „weniger
Konzeptionsdefizite als vielmehr Zufälle ausschlaggebend“ gewesen. Dass der
Täter doch noch lebend festgenommen werden konnte, sei „erfolgreiche
Polizeiarbeit“.
Das Lob des Ausschusses aber endet beim Umgang der Polizei mit den Opfern
des Attentats. Tatsächlich beklagten im Ausschuss alle befragten
Synagogenbesucher:innen, dass die Polizei ihre Evakuierung kaum erklärte.
Zu dem, was draußen passierte, habe es gar „null Kommunikation“ gegeben.
Sie selbst seien durchsucht worden, hätten sich wie Verdächtige behandelt
gefühlt.
## Polizei gibt sich Selbstkritisch
Die Mitnahme von koscherem Essen sei zunächst untersagt worden, obwohl man
wegen der Jom Kippur-Feier an diesem Tag über Stunden nichts gegessen und
getrunken hatte. Noch im Krankenhaus hätten Polizeibeamte ihre Gebete
unterbrochen. Später seien sie alleine zurückgelassen worden.
Auch der U-Ausschuss attestierte den Polizist:innen darauf eine
schlechte Kommunikation mit den Opfern: Zentrale
Ansprechpartner:innen seien diesen nicht benannt worden, die Beamten
hätten „mangelnde Empathie“ und „geringe bis nicht vorhandene Kenntnis �…
jüdisches Leben“ offenbart. All dies zeige einen „strukturellen
Verbesserungsbedarf für polizeiliches Agieren“.
Im Punkt der Opferbetreuung zeigt sich auch der Bericht der Landespolizei
selbstkritisch. Die Evakuierung der Synagoge sei zwar „taktisch zweckmäßig�…
gewesen, heißt es dort. Aber: Den Erwartungen einer „sofortigen,
umfassenden und sensiblen Betreuung“ sei man „nicht vollumfänglich gerecht…
geworden. Die Polizeimaßnahmen seien „nicht ausreichend erklärt“ worden,
qualifiziertes Personal für die Opferbetreuung stand „in den ersten Stunden
des Einsatzes nicht ausreichend zur Verfügung“.
Auch die Aufnahmen der Personalien der Opfer sei „nur unzureichend“ erfolgt
– weshalb man zu Verletzten und den Evakuierten aus der Synagoge anfangs
kaum Auskünfte geben konnte. Angehörige und diplomatische Vertretungen
hatten hier immer wieder bei der Polizei nachgefragt.
## Ähnliche Kritik auch nach anderen Anschlägen
Auch den Familien der beiden Erschossenen, Jana L. und Kevin S., seien erst
gegen 22 Uhr – 10 Stunden nach den Morden – die Todesnachrichten überbracht
worden. Die Polizei rechtfertigt sich: Zuvor hätten die Identitäten
zweifelsfrei geklärt werden müssen. Eingeräumt wird aber, dass die Familien
bis dahin nicht psychosozial betreut wurden, was „Kommunikationsdefiziten“
geschuldet gewesen sei.
Sebastian Striegel, der Vorsitzende des U-Ausschusses und Abgeordneter der
mitregierenden Grünen, hält die missglückte Opferbetreuung für fatal.
„Fehler, die Polizistinnen und Polizisten in einer auch für sie extrem
herausfordernden Einsatzsituation im Umgang mit Betroffenen in den ersten
Stunden passieren, bekommt die Polizei nie wieder gerade gebogen. Da
bleiben tiefe Enttäuschungen, wie wir im Ausschuss eindrücklich erlebt
haben.“
Auch Striegel plädiert für strukturelle Reformen: Die Polizei müsse eigene
Einheiten für die Opferbetreuung aufbauen, alle Mitarbeiter:innen
entsprechend schulen. „Die Opferbetreuung darf kein Anhängsel sein, sondern
muss von Minute eins solcher Einsätze mitbedacht werden.“
Die Diskussion läuft nicht nur in Sachsen-Anhalt. Schon nach den
[3][Anschlägen auf dem Berliner Breitscheidplatz 2016] oder [4][in Hanau
2020] übten Opfer Kritik an der Polizei. Auch sie fühlten sich unsensibel
behandelt und schlecht informiert. Inzwischen wird bundesweit in der
Polizei diskutiert, wie intensiv die Opferbetreuung Teil der eigenen Arbeit
ist. Denn klar ist: Dafür braucht es Personal, und zwar nicht wenig. Allein
beim Halle-Anschlag notierte die Polizei am Ende 187 Personen, die als
Opfer, Zeugen oder Angehörige betreut oder befragt werden mussten.
## Fortbildung zu interkultureller Kompetenz
Als einer der Vorreiter gilt die bayrische Polizei. Seit Oktober 2020
bildet diese bei Einsätzen mit größeren Opferzahlen einen eigenen
Einsatzabschnitt „Betreuung“, mit bis zu 30 Beamten – wie zuletzt beim
Messerangriff in Würzburg mit drei Toten. Diese Einheit kümmerte sich laut
Unterfrankens Polizeivizepräsidenten Martin Wilhelm nur um die Opfer,
informierte diese aus erster Hand über den Einsatz und beantwortete Fragen.
„Der Opferschutz hat hier große Priorität“, betonte Wilhelm.
Auch in Sachsen-Anhalt gelobt man Besserung. Der Polizei-Schlussbericht
selbst schlägt vor, dass nach schweren Gewalttaten künftig noch vor Ort
Ansprechpartner:innen der Polizei für alle Opferbelange benannt werden
müssten. „Der Einsatz von befähigten und qualifizierten Kräften ist
unabdingbar.“ Alle Beamten müssten bei der Opferbetreuung „sensibilisiert
und geschult“ werden.
Auf taz-Nachfrage bekräftigt das Innenministerium von Sachsen-Anhalt, dass
dies auch umgesetzt werden soll. Ein Konzept für entsprechende
Fortbildungen werde gerade erarbeitet. Das Leitbild laute: „Der Mensch
steht im Mittelpunkt unseres Handelns.“
Auch die interkulturelle Kompetenz der Beamten solle gesteigert werden,
hier liege ein Fortbildungskonzept der Polizeihochschule bereits vor. Damit
soll mangelnde Sensibilität bei entsprechenden Einsätzen „deutlich
reduziert“ werden. Auch Sachsen-Anhalts Opferbeauftragte Gabriele Theren
appelliert, die Informationsflüsse von Polizei und anderen
Beratungseinrichtungen besser zu verzahnen.
Sebastian Striegel, der Vorsitzende des Untersuchungsausschuss, will die
Reformen im Blick behalten. „Die Polizei muss sich daran messen lassen,
dass sie bei der Betreuung von Opfern wirklich was bewegt. Für das
Vertrauen in ihre Arbeit ist das kaum zu unterschätzen.“
19 Jul 2021
## LINKS
[1] /Urteil-im-Halle-Prozess/!5735199
[2] https://fragdenstaat.de/dokumente/118082-managementfassungschlussberichtzum…
[3] /Angehoerige-von-Breitscheidplatz-Opfer/!5735667
[4] /Nach-dem-Anschlag-in-Hanau/!5757183
## AUTOREN
Konrad Litschko
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