| # taz.de -- Angehörige von Breitscheidplatz-Opfer: „Ein Riss in meinem Leben… | |
| > Astrid Passin verlor beim Terroranschlag auf dem Berliner | |
| > Breitscheidplatz vor vier Jahren ihren Vater. Sie kritisiert, dass | |
| > Betroffenen immer noch zu wenig geholfen werde. | |
| Bild: Der Gendenkort am Breitscheidplatz 2017 | |
| taz am wochenende: Frau Passin, vor vier Jahren starb Ihr Vater auf dem | |
| Berliner Breitscheidplatz, weil ein Islamist mit einem gestohlenen Lkw auf | |
| den Weihnachtsmarkt fuhr. Wie denken Sie heute an diesen Tag zurück? | |
| Astrid Passin: Da ich mich täglich damit beschäftige, wirklich täglich, ist | |
| das noch sehr nah. Vom Gefühl her hätte es letzte Woche sein können. Da ist | |
| nach wie vor ein ganz großer Riss in meinem Leben. | |
| Sie erfuhren vom Tod Ihres Vaters erst am nächsten Tag durch einen Anruf | |
| seiner Lebensgefährtin. Auch dieser Anruf dürfte noch sehr präsent sein. | |
| (Pause) Das ist jetzt schwierig, darüber zu sprechen. Weil es jedes Mal | |
| total sticht. Ich bin damals zusammengebrochen, ich konnte das gar nicht | |
| glauben. Es hat lange gedauert, bis ich es begreifen konnte, ja letztlich | |
| musste. | |
| Haben die vier Jahre die Trauer verändert? | |
| Bei mir ist alles weiter sehr präsent. Im Frühjahr war ich gesundheitlich | |
| an einem Knackpunkt, weil ich die ganze Zeit durchgezogen hatte, mit meinem | |
| Modegeschäft und der Arbeit für uns Betroffene. Da hat es fast gepasst, | |
| dass ich im März wegen Corona meinen Laden schließen musste. An dem Punkt | |
| habe ich beschlossen, einen Stopp zu machen und mich auf meine Gesundheit | |
| zu konzentrieren. Was sich über die Jahre geändert hat, ist die | |
| Perspektive. Anfangs waren wir noch mit unserer Trauer allein. Aber dann | |
| wurde der Kreis der Betroffenen immer größer, und wir haben festgestellt, | |
| dass wir alle ähnliche Gefühle und Probleme haben. Das ist der Unterschied: | |
| dass wir jetzt zusammen durch diese Zeit gehen. | |
| Bei dem Anschlag wurden elf weitere Menschen getötet, rund 70 teils schwer | |
| verletzt. Sie haben sich mit vielen Betroffenen vernetzt. Wie geht es den | |
| anderen? | |
| Jeder hat auf seine Weise weiter mit dem Anschlag zu tun. Es gibt einige, | |
| die wieder arbeiten. Der große Teil aber kann das bis heute nicht. Viele | |
| sind in therapeutischen Behandlungen. Einige haben sich auch zurückgezogen, | |
| wollen von allem nichts mehr wissen, gerade die Betroffenen aus dem | |
| Ausland. Die Sprachbarrieren sind ein großes Hindernis. | |
| Es gab Todesopfer aus Italien, Israel, Polen, der Ukraine und Tschechien. | |
| Auch sie versuchen wir auf dem Laufenden zu halten. Aber das ist schwer. | |
| Sie merken, wie bei uns mit dem Anschlag umgegangen wird. Dass von der | |
| Bundesregierung zu wenig kommt, um das wirklich aufklären zu wollen. | |
| Anfangs kritisierten Sie und andere, dass den Betroffenen zu wenig | |
| medizinisch und finanziell geholfen wird. Hat sich das geändert? | |
| Leider nicht wirklich. Vor wenigen Tagen erst hat mir ein Ersthelfer von | |
| seinen Problemen berichtet. Für ihn ist es ein Lebensprojekt, wieder in | |
| seinen IT-Job zurückzufinden. Die Ersthelfer werden bei den Hilfen aber zu | |
| wenig berücksichtigt, was natürlich nicht sein kann. Viele andere empfinden | |
| es inzwischen als unzumutbar, permanent Anträge zu stellen. Sie haben keine | |
| Kraft mehr, das alles auszufüllen, und sind an einem Punkt, an dem sie | |
| eigentlich aufgeben möchten. Ich versuche sie zu motivieren weiterzumachen, | |
| denn es hat ja Folgen fürs ganze Leben, ob es Hilfen gibt oder nicht. Aber | |
| es bleibt insgesamt der Eindruck: Uns werden Steine in den Weg gelegt. | |
| Es gab Entschädigungen, die zuletzt noch erhöht wurden, man hat Ihnen | |
| Opferbeauftragte zur Seite gestellt. Das war zu wenig? | |
| Es hat sich schon einiges getan, gerade rechtlich oder mit der Zentralen | |
| Anlaufstelle. Aber ein übergreifender Ansatz fehlt. Warum gibt es bis heute | |
| keine festen Fallmanager, die sich um die einzelnen Betroffenen kümmern? | |
| Warum sind die Zuständigkeiten nicht klar definiert? Auch hat sich das | |
| Problem verschärft, dass wir uns für die Opferrenten immer wieder | |
| begutachten lassen müssen. Es wirkt, als wolle man uns eine Betroffenheit | |
| durch den Terroranschlag absprechen. Im Ausland versteht man auch die | |
| Einstufung nach dem sogenannten Grad der Schädigung nicht. Das sei sehr | |
| deutsch. | |
| Wurde Ihnen persönlich ausreichend geholfen? | |
| Auch mir wurden anfangs fragwürdige Formulare und eine Rechnung für die | |
| Obduktion meines Vaters geschickt. Und die Opferrente für mich und viele | |
| andere ist viel zu niedrig eingestuft. Den Höchstsatz von gut 800 Euro | |
| bekommen nur sehr wenige, die meisten nur 30 Prozent davon, manche sogar | |
| gar nichts. Ich bemühe mich aber nicht nur um meine Anliegen, sondern auch | |
| um die einiger anderer. | |
| Sie verfolgen die Aufklärung des Attentats sehr genau, besuchen regelmäßig | |
| den Untersuchungsausschuss im Bundestag. Wie zufrieden sind Sie mit der | |
| Aufklärung? | |
| Der Ausschuss bemüht sich. Die Abgeordneten verfolgen größtenteils | |
| gemeinsame Ziele, stellen gute Fragen. Die Bundesregierung aber verwehrt | |
| weiterhin viele wichtige Informationen. Immer wieder muss der Ausschuss | |
| Unterlagen und Zeugen einklagen. Das hat bei uns für ein erhebliches | |
| Misstrauen gesorgt. | |
| Was sind für Sie die größten offenen Fragen? | |
| Oh, das sind etliche! Es ist ja nicht mal klar, ob es wirklich nur einen | |
| Täter gab. Im Lkw fanden sich unbekannte DNA-Spuren. Vom Bekannten des | |
| Attentäters, Bilel Ben Ammar, wissen wir bis heute nicht, was er in der | |
| Zeit des Anschlags und an den Tagen danach machte und warum er so plötzlich | |
| abgeschoben wurde. Die genaue Fluchtroute des Attentäters ist weiter | |
| ungeklärt, die Herkunft der Waffe, mit der er den Lkw-Fahrer erschoss, | |
| ebenso. Auch hat der Ausschuss erst jetzt die Chatverläufe und | |
| Bewegungsdaten vom Handy des Täters bekommen. Vier Jahre nach dem Anschlag! | |
| Wie kann das sein? | |
| Wie erklären Sie sich das? | |
| Tja. Ich glaube, dieser Anschlag ist für die Sicherheitsbehörden einfach so | |
| überdimensional brisant, dass so viel wie möglich als geheim eingestuft | |
| wird. Dann heißt es, die Informationen seien staatswohlgefährdend, und wir | |
| stehen vor einer riesengroßen Mauer. Aber das geht so nicht. Hier sind | |
| zwölf Menschen ermordet worden, wir verdienen Antworten. | |
| Für Sie haben die Behörden im Fall des Attentäters versagt? | |
| Das haben sie, eindeutig. Der frühere Präsident des Verfassungsschutzes, | |
| Hans-Georg Maaßen, hat im Ausschuss ja selbst eingeräumt, dass es | |
| Fehlentscheidungen gab und der Anschlag hätte verhindert werden können. | |
| Auch er hat sich gefragt, warum der Tunesier nicht in Abschiebehaft | |
| genommen wurde. Warum bekam er keine Auflagen, sich an seinem Wohnort | |
| aufzuhalten? Warum brauchte Tunesien so lange Zeit, um seine Papiere für | |
| eine Abschiebung zusammenzustellen? | |
| Wobei Maaßen die Schuld von seinem [1][Geheimdienst wegschob]: Es sei ein | |
| reiner Polizeifall gewesen. | |
| Das ist ja mehrfach widerlegt. Der Verfassungsschutz hatte auch einen | |
| V-Mann in der Fussilet-Moschee in Berlin, die der Attentäter besuchte. Nur | |
| war er vielleicht nicht auf ihn angesetzt. Es ist erstaunlich, wie sich | |
| manche Behördenleiter rausreden wollen. Meistens heißt es dann, man könne | |
| sich nicht erinnern. Aber das kann uns keiner erzählen. Das war der | |
| schlimmste islamistische Anschlag in diesem Land. An diese Zeit sollte man | |
| sich erinnern können – gerade als Ermittler oder Behördenleiter. | |
| Zuletzt sagte der [2][Verfassungsschutzchef aus Mecklenburg-Vorpommern] | |
| aus. Sein Amt gab einen V-Mann-Hinweis auf mögliche Fluchthelfer des Täters | |
| nicht weiter, eine arabische Großfamilie aus Berlin. Er wollte am liebsten | |
| gar nichts sagen. | |
| Ja, das ging schon ins Lächerliche. Wenn der Hinweis stimmt, würde er das | |
| Puzzle der Fluchtroute schließen. Aber wir wissen nicht, ob das als | |
| glaubhaft bewertet wird, auch weil Teile der Vernehmung nichtöffentlich | |
| waren. | |
| Haben Sie den Eindruck, die Behörden haben aus dem Fall gelernt? | |
| Das wird im Ausschuss jedenfalls immer wieder betont. Personal wurde | |
| aufgestockt, neue Referate wurden gegründet, Gesetze geändert. Auch die | |
| Abgeordneten haken nach, wo es noch Lücken gibt und wie man die schließen | |
| kann. Man merkt, dass etwas in Bewegung ist. Die Veränderungen kommen spät, | |
| aber besser als gar nicht. Und dieses Jahr, mit den Anschlägen in Wien oder | |
| Hanau, haben wir ja wieder gesehen, wie nötig sie sind. | |
| Sie selbst wollen eine Organisation gründen, um international Terroropfer | |
| zu vernetzen. Warum? | |
| Wir sind schon gut miteinander verbunden. Nun wird es Zeit, den Betroffenen | |
| eine noch stärkere Stimme zu geben. Die Probleme sind ja überall ähnlich. | |
| Der Anschlag in Wien hat uns alle sehr, sehr berührt. Da fühlt man sofort | |
| mit den Opfern: was sie jetzt durchleben, wie viele Familienschicksale das | |
| betrifft. Und natürlich werden auch sie Antworten von der Politik und den | |
| Ermittlern erwarten, wie diese Tat geschehen konnte. | |
| Und da könnte eine gemeinsame Organisation helfen? | |
| Es würde den Anliegen der Betroffenen mehr Gewicht verleihen. Eines meiner | |
| Ziele wäre auch ein nationaler Gedenktag für alle Terroropfer. Durch Corona | |
| hat sich die Realisierung verschoben, aber ich arbeite daran. Ich | |
| beschäftige mich ja jetzt schon täglich mehrere Stunden mit unserem | |
| Anschlag, informiere die Betroffenen, agiere als Bindeglied zu Politik und | |
| Behörden. | |
| Woher nehmen Sie die ganze Kraft für Ihren Einsatz? | |
| Ich glaube, ich trage einfach ein hohes Energielevel in mir. Bis vor dem | |
| Anschlag habe ich Flamenco getanzt, dazu muss man ziemlich stabil sein. | |
| Vielleicht sind es auch die Gene. Ich will mich Problemen nicht einfach | |
| hingeben, sondern sie lösen. Und das geht zusammen natürlich viel besser. | |
| Was alles von den anderen zurückkommt, stärkt mich ungemein, um | |
| weiterzumachen. | |
| Zum vierten Jahrestag wird es wegen der Pandemie nur eine kleine Andacht | |
| auf dem Breitscheidplatz geben. Sie sind dabei? | |
| Ja. Es ist sehr schade, dass wir nicht alle zusammenkommen können. Viele | |
| werden aber über Livestream teilnehmen. Wir werden versuchen, den Tag | |
| bestmöglich zu überstehen. | |
| 19 Dec 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
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