# taz.de -- Fünf Jahre Anschlag am Breitscheidplatz: Der lange Schatten des Te… | |
> Auch fünf Jahre nach dem Attentat beklagen Hinterbliebene fehlende | |
> Aufklärung und mangelnde Hilfen. Die Ampel will den Umgang mit Opfern | |
> ändern. | |
Bild: Am Mahnmal „Der Riss“ am Breitscheidplatz zum 3. Jahrestag des Anschl… | |
## Wie geht es den Betroffenen? | |
Am 5. Oktober endete der [1][Kampf von Sascha Hüsges]. Der 49-Jährige starb | |
zu Hause im Rheinland, wo er zuletzt mit einer Erkrankung gerungen und als | |
Pflegefall gelebt hatte – seit dem 19. Dezember 2016. Dem Tag vor fünf | |
Jahren, als Hüsges auf dem Berliner Breitscheidplatz schwer verletzt wurde. | |
Der tunesische Islamist Anis Amri hatte damals einen Lkw in den dortigen | |
Weihnachtsmarkt gesteuert. Elf Menschen wurden getötet, Dutzende schwer | |
verletzt. Zuvor hatte der 24-Jährige den Lastwagenfahrer erschossen. Nach | |
der Tat flüchtete Amri und wurde vier Tage später in Italien von Polizisten | |
bei einem Schusswechsel getötet. Der Anschlag ist bis heute die schwerste | |
islamistische Tat in Deutschland. | |
Sascha Hüsges verfehlte der Lkw nur knapp. Er wollte danach anderen Hilfe | |
leisten, als mutmaßlich ein Balken auf ihn niederkrachte. Seitdem wurde er | |
von seinem Mann und einem Pfleger rund um die Uhr versorgt – bis zu seinem | |
Tod im Oktober. Hüsges ist damit das 13. Todesopfer des Anschlags. | |
In Hüsges’ Fall kam die Unfallkasse für seine Pflege auf. Andere Betroffene | |
beklagen dagegen, erst spät Hilfen bekommen zu haben, die mit viel | |
Bürokratie verbunden waren. „Nach wie vor vermissen wir einen würdigen | |
Umgang mit den Betroffenen“, erklären Hinterbliebene in einem Brief, der am | |
Donnerstag an Kanzler Olaf Scholz (SPD) ging und der der taz vorliegt. Sie | |
verweisen auf den Berliner Psychologen Rainer Rothe, der 10 Opfer betreut. | |
In einem aktuellen Schreiben an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier | |
kritisiert er, dass einige Betroffene Begutachtungen wie „Verhöre“ | |
erlebten, ihnen Traumata von „unprofessionellen Gutachtern“ abgesprochen | |
oder Therapien verweigert wurden. All dies sei retraumatisierend. | |
Die Betroffenen beklagen auch weiterhin offene Fragen. Das Ergebnis des im | |
Juni beendeten [2][Untersuchungsausschusses] im Bundestag sei „äußerst | |
unbefriedigend“. Die Sicherheitsbehörden hätten „gravierende Fehler“ | |
gemacht und die Tat „verhindern können und müssen“. | |
## Welche Fragen sind noch offen? | |
Die zentrale Frage ist die nach möglichen Helfern von Anis Amri. Die | |
Behörden stellten den Mann lange als Einzeltäter dar. Aber Amri bewegte | |
sich seit seiner Ankunft in Deutschland im Jahr 2015 in islamistischen | |
Netzwerken, etwa dem des Hildesheimer Predigers Abu Walaa, der als | |
IS-Statthalter in Deutschland galt. In Dortmund hatte er Schlüssel zu einer | |
Islamschule, in Berlin war er Vorbeter in der radikalen Fussilet-Moschee. | |
Und direkt beim Anschlag stand Amri via Telegram in Kontakt mit einem | |
libyschen IS-Mentor mit dem Alias „Moumou1“. | |
Gab es weitere Helfer Amris? Ungeklärt ist etwa die Rolle seines Freundes | |
Bilel Ben Ammar, mit dem Amri bis zum Tattag Kontakt hielt. Im Lkw gab es | |
DNA-Spuren, die bis heute niemandem zuzuordnen sind. Der RBB identifizierte | |
kürzlich zudem einen irakischen IS-Funktionär, Ali Hazim Aziz, welcher der | |
Auftraggeber des Anschlags gewesen sein könnte. | |
Die Sicherheitsbehörden hatten die Netzwerke um Amri eigentlich im Blick. | |
Auf Abu Walaa war der Polizeispitzel VP01 angesetzt, auch in der | |
Fussilet-Moschee gab es V-Leute. Amri selbst war als Gefährder eingestuft. | |
Das Berliner LKA hielt ihn später jedoch nicht mehr für einen Islamisten, | |
weil er Drogen dealte. Amris Überwachung wurde eingestellt – dann erfolgte | |
der Anschlag. | |
Hätte die Tat aufgrund anderer Einschätzungen verhindert werden können? Der | |
U-Ausschuss im Bundestag glaubt: Ja. Union und SPD nahmen die | |
Sicherheitsbehörden aber in Schutz, verwiesen auf die damals starke | |
Belastung durch das Einreisen vieler Geflüchteter und den internationalen | |
IS-Terror. Die Opposition sah dagegen klare Fehler, Amri war in ihren Augen | |
keineswegs ein Einzeltäter. Die Betroffenen fordern die Ampelregierung nun | |
auf, neue Ermittlungen gegen mögliche Mittäter und Drahtzieher zu | |
veranlassen. | |
## Wie bedrohlich ist der Islamismus heute? | |
Für die Sicherheitsbehörden hält die Terrorgefahr an. 28.715 Islamisten | |
zählt der Verfassungsschutz derzeit in Deutschland, knapp 2.000 davon als | |
„islamistisch-terroristisch“. Die Polizei führt 552 islamistische | |
Gefährder, denen sie Anschläge zutraut – beim Rechtsextremismus sind es 75, | |
im Linksextremismus 11. | |
Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang warnt, dass der „Islamische | |
Staat“, trotz seiner Niederlage in Syrien und dem Irak, „Hit-Teams“ auch | |
nach Deutschland schicken könnte. „Die Erfolge der Taliban in Afghanistan | |
geben der gesamten Szene wieder Rückenwind.“ Dazu komme die Gefahr von | |
selbstradikalisierten Einzeltätern. | |
Erst kürzlich ist die Festnahme eines 20-jährigen Deutschmarokkaners in | |
Hamburg publik geworden, der sich bereits Chemikalien für einen Sprengsatz | |
besorgt und konkrete Anschlagspläne gefasst haben soll. Sein Vater soll | |
Mitbetreiber der früheren Al-Kuds-Moschee in Hamburg gewesen sein, in der | |
sich Teile der deutschen Terrorzelle vom 11. September 2001 um Mohammed | |
Atta trafen. | |
## Was wird gegen den Terror getan? | |
Die neue Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) benannte bisher den Kampf | |
gegen Rechtsextremismus als ihren Schwerpunkt. Sie betonte zuletzt aber | |
auch, man müsse „gegen extremistische Gefahren vorgehen, egal von welcher | |
Seite sie kommen“. Ein Sprecher Faesers versichert: „Die | |
Sicherheitsbehörden werden weiterhin einen Schwerpunkt auf die Bekämpfung | |
des islamistischen Terrorismus setzen.“ | |
Nur wie? Die Ampelregierung kündigt gegen den Islamismus eine | |
„Gesamtstrategie auf nationaler und europäischer Ebene aus Prävention, | |
Deradikalisierung und effektiver Gefahrenabwehr“ an. Die Früherkennung von | |
Gefährdern solle „forciert“ und deren Überwachung besser koordiniert | |
werden. Dazu sollen Präventions- und Deradikalisierungsprogramme, vor allem | |
in Gefängnissen, „verlässlich“ finanziert werden. Die Ausbildungen von | |
Imamen an Universitäten würden ausgebaut. Und Einsätze von V-Leuten, die | |
auch im Fall Amri letztlich wirkungslos blieben, sollen gesetzlich geregelt | |
und parlamentarisch überprüfbar werden. | |
## Was wird für die Opfer getan? | |
Laut Edgar Franke, bis vor Kurzem Opferbeauftragter der Bundesregierung, | |
wurden an die Betroffenen des Anschlags vom Breitscheidplatz bisher 3,7 | |
Millionen Euro an Härteleistungen ausgezahlt. Aber auch er räumte ein, dass | |
für die Opfer die Kommunikation mit den Behörden „eine große | |
Herausforderung“ darstelle, da die Regelungen „komplex“ seien. | |
Die Ampel verspricht nun, den Umgang mit Opfern von Terroranschlägen | |
„empathischer und würdiger“ zu gestalten. Die Koordinierungsstelle | |
Nachsorge, Opfer- und Angehörigenhilfe (Noah), die bisher Deutsche bei | |
Großunglücken im Ausland betreut, soll nun auch für Taten in Deutschland | |
zur Ombudsstelle werden. Lücken im Opferentschädigungsrecht und bei der | |
Opferhilfe sollen geschlossen werden. | |
## Wie wird an den Anschlag erinnert? | |
Am Sonntag, dem Jahrestag des Anschlags, soll mit einer Andacht auf dem | |
Breitscheidplatz der Opfer gedacht werden. Bundespräsident Steinmeier, | |
Berlins scheidender Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) und eine | |
Angehörige werden sprechen. Auf dem Mahnmal vor Ort wird dann auch der Name | |
von Sascha Hüsges ergänzt sein – ein Wunsch der Angehörigen. | |
Die Ampel verspricht auch ein weiteres Gedenken am 11. März. Der Tag ist | |
bereits europäischer Gedenktag für Opfer des Terrorismus, nun soll er auch | |
in Deutschland begangen werden. Er bezieht sich auf den Terroranschlag in | |
Madrid 2004 mit 191 Toten. Die Betroffenen vom Breitscheidplatz loben den | |
Gedenktag als „gutes Zeichen“. | |
19 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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