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# taz.de -- Islamistischer Anschlag in Berlin 2016: „Das tut alles nur weh“
> Vor drei Jahren tötete Anis Amri auf dem Breitscheidplatz elf Menschen.
> Bis heute ist unklar, warum es den Behörden nicht gelang, ihn zu stoppen.
Bild: 20.12.2016: Schaulustige und Reporter fotografieren den Lkw am Breitschei…
Berlin taz | Die Kamera schwenkt von außen über den Weihnachtsmarkt [1][auf
dem Berliner Breitscheidplatz]. Sie filmt die Buden, zoomt auf den Eingang
zum Festplatz. Autos rauschen vorbei, Glocken läuten. Zwanzig Sekunden,
dann ist das Video vorbei.
Aufgenommen wurde die Sequenz am 1. Dezember 2016. Und sie fand sich auf
dem Handy eines jungen Tunesiers, der damals erst seit einigen Monaten in
Berlin lebte: Anis Amri. Die gefilmte Strecke ist genau die, durch die drei
Wochen später – am 19. Dezember 2016 – ein Lkw rasen wird, mitten durch den
Weihnachtsmarkt. Elf Menschen sterben dabei, der Lkw-Fahrer wurde zuvor
schon erschossen. Am Steuer saß: Amri.
Genau drei Jahre ist dieses Attentat nun her. Es ist bis heute der bislang
schwerste islamistische Anschlag in Deutschland. Und noch immer sind viele
Fragen offen. Welche Helfer hatte Amri? Gab es Mittäter? Warum konnte Amri
zunächst fliehen, bevor er vier Tage später in Italien von Polizisten
erschossen wurde? Vor allem aber: Hätte die Tat nicht doch verhindert
werden können?
Klar ist: [2][Anis Amri bereitete seine Terrortat genau vor] – und wurde
dabei von den Sicherheitsbehörden nicht gestört. Dies beweist auch das
Video vom Breitscheidplatz, das erst jüngst bekannt wurde. Der Filmende,
offenbar Amri, konnte es unbehelligt aufnehmen – das zuständige
Landeskriminalamt Berlin hatte die Observation des Tunesiers längst
eingestellt.
## Von den Videos will keiner etwas mitbekommen haben
Und Amri machte kurz zuvor noch vier weitere Videos. In einem wedelt der
24-Jährige laut WDR mit einer Pistole, droht auf Arabisch: „Diese Schweine!
Kommen wir zu ihnen, um sie zu enthaupten!“ In einem anderen schwört Amri
einen Treueeid auf den Anführer des „Islamischen Staats“ (IS), Abu Bakr
Al-Baghdadi. Es ist dieses Video, das der IS kurz nach dem Anschlag
veröffentlichen wird.
Die Sicherheitsbehörden beteuern bis heute, von den Videodrehs nichts
mitbekommen zu haben – erst nach dem Anschlag habe man die Filme von einem
ausländischen Geheimdienst erhalten. Demnach schätzten die entscheidenden
Stellen Amri völlig falsch ein. Das LKA Berlin tat den Tunesier als
Drogendealer ab. Und auch das BKA spielte Amris Gefährlichkeit wiederholt
herunter.
Waren die Behörden wirklich so schlecht über Amri im Bilde? In den Fokus
rückt dabei nun auch wieder der Verfassungsschutz. Der Geheimdienst tat den
Fall Amri lange als „reinen Polizeifall“ ab – tatsächlich aber hatte das
Amt gleich mehrere V-Leute im Umfeld des Tunesiers platziert.
Bekannt war, dass der Verfassungsschutz zwei Spitzel in Amris letzter
Anlaufstelle in Berlin hatte, der radikalen Fussilet-Moschee. Einen Mann
führte das Bundesamt, einen das Berliner Landesamt. Erst nach dem Anschlag
habe eine der Quellen mitgeteilt, dass Amri oft vor Ort gewesen sei,
beteuert der Verfassungsschutz. Der andere V-Mann will den Tunesier erst
gar nicht gekannt haben. Eine kühne Behauptung, denn der Gebetszirkel war
klein, Amri machte teils den Vorbeter.
## Privataudienz beim IS-Prediger
Vor wenigen Tagen nun bestätigte ein Oberstaatsanwalt des
Bundesgerichtshofs, dass der Bundesverfassungsschutz auch noch drei Spitzel
um den Deutschen Islamkreis in Hildesheim hatte, den Amri ebenfalls
besuchte. Der Staatsanwalt offenbarte dies im Untersuchungsausschuss des
Bundestags, der seit anderthalb Jahren die Terrortat aufarbeitet. Geleitet
wurde der Islamkreis vom Prediger Abu Walaa, der als Statthalter des IS in
Deutschland galt.
Bei eben jenem Abu Walaa erhielt Amri Ende Dezember 2015 eine
„Privataudienz“ im Rahmen eines Seminars in Hildesheim – eine
„Besonderheit“, die für „eine exklusive Beziehung“ spreche, wie Ermitt…
später festhielten.
Laut einem Papier des LKA Nordrhein-Westfalen, das der taz vorliegt, ging
es damals „mit hoher Wahrscheinlichkeit um die religiöse Legitimierung von
Anschlägen“. Amri habe nach dem Treffen eine „deutliche Wesensveränderung…
gezeigt. „Nachweislich“ habe er sich in das Netzwerk um Abu Walaa
„eingegliedert“. Viel spreche dafür, dass er „zur Verübung des Anschlag…
Berlin angeworben“ wurde.
Und um dieses Netzwerk herum bewegten sich also allein drei V-Leute des
Bundesamts für Verfassungsschutz. Zudem waren nach taz-Informationen auch
noch je ein V-Mann von den Landesämtern aus Hessen und NRW auf den
Islamkreis angesetzt, ebenso ein Spitzel aus Niedersachsen – und obendrauf
ein Informant des LKA aus NRW mit dem Alias „Murat“, der Amri vor seiner
„Privataudienz“ persönlich von Dortmund nach Hildesheim fuhr.
## Ein illustrer Spitzeltreff
Das damalige Seminar wurde so zu einem illustren Spitzeltreff. Und keine
Islamistentruppe dürfte damit so eng überwacht gewesen sein wie die um Abu
Walaa. Und dennoch will der Verfassungsschutz auch hier nichts von Amris
Gefährlichkeit mitbekommen haben? Alles nur ein Polizeifall?
Eher unwahrscheinlich. Warum war es dann ausgerechnet der
Verfassungsschutz, der Anis Amri im September 2016 in die Anti-Terror-Datei
der Sicherheitsbehörden eintrug? Und auffällig ist auch, wie sich der
Dienst bei dem V-Mann in der Fussilet-Moschee bis heute dagegen wehrt, dass
der Untersuchungsausschuss überhaupt nur die V-Mann-Führer anhören kann,
geschweige denn den Spitzel selbst. Begründet wird dies mit einer Gefahr
für deren Leib und Leben.
Die Opposition aber hält die Zeugen für zentral und klagt vorm
Bundesverfassungsgericht, zumindest die Spitzelführer anzuhören. Indes:
Eine Entscheidung dürfte erst fallen, wenn der Ausschuss bereits beendet
ist.
Und es gibt noch eine Frage: Denn die Videos, die Amri kurz vor der Tat
drehte, bekam auch der Verfassungsschutz. Auch er aber beteuert, dies sei
erst nach dem Anschlag geschehen. Statt das Video aber den Ermittlern zu
geben, behielt das Amt das Video für sich. Warum?
## Eine „Unverschämtheit“
„Klar ist, dass der Verfassungsschutz mehr über Amri gewusst haben muss,
als er bis heute zugibt“, kritisiert Linken-Obfrau Martina Renner. Dafür
spreche die Vielzahl der mittlerweile bekannten Quellen. Der Geheimdienst
müsse dem Ausschuss nun „alle verfügbaren Unterlagen vorlegen“.
Auch FDP-Obmann Benjamin Strasser betonte, es sei längst widerlegt, dass
Amri ein Polizeifall war. Er spricht von „systemischem Versagen“: Zu viele
Behörden hätten sich im Fall Amri zu schlecht abgestimmt. „Das war nicht
alles nur Zufall und Pech.“ Die Grüne Irene Mihalic fordert deshalb weit
mehr Aufklärungszuarbeit der Bundesregierung. Deren Arbeit sei bisher teils
eine „Unverschämtheit“.
Auch eine zweite Bundesbehörde steht mächtig unter Druck: das
Bundeskriminalamt. Denn die oberste Polizeibehörde hängte den Fall Anis
Amri wiederholt tief. Und dies, obwohl das LKA in NRW eindringlich vor dem
Tunesier warnte.
Der Disput brach vor wenigen Tagen erneut im Untersuchungsausschuss auf.
Dort bekräftigte Rasmus M., ein leitender Kommissar des LKAs, für wie
gefährlich man Amri schon im Februar 2016 hielt, als dieser noch in NRW
lebte und als Gefährder eingestuft wurde.
## Amri schwärmte von den Anschlägen in Paris
M. hatte für die Einschätzung einen guten Grund: einen Spitzel mitten in
der islamistischen Szene: besagten „Murat“. Der Deutschtürke warnte, dass
Amri von den Anschlägen in Paris schwärme, er wolle in Deutschland „etwas
machen“ und suche nach Kalaschnikows. Das LKAhielt fest, Amri verfolge
„seine Anschlagspläne ausdauernd und langfristig“. Später wurde gewarnt,
komme es tatsächlich zu einem Anschlag, „sähen die beteiligten Behörden
nicht gut aus“.
Das BKA aber relativierte „Murats“ Hinweise. Mit dabei: BKA-Analyst Philipp
K., auch er wurde zuletzt im U-Ausschuss befragt. In E-Mails ätzte K. über
die „hanebüchenen Bewertungsversuche“ über Amri aus NRW, dies „grenzt an
Lügen“. Denn das BKA traute „Murat“ nicht, weil dieser gleich bei mehrer…
heiklen Vorgängen im Bilde war.
Das LKA NRW verwies dagegen auf die herausgehobene Stellung des Informanten
in der Szene. Das BKA aber, so der Vorwurf von Rasmus M., habe die Quelle
„kaputtschreiben“ wollen, mit Anweisung „von ganz oben“, aus dem
Bundesinnenministerium. Hier widersprach Philipp K. vehement.
Nun steht Aussage gegen Aussage. Mit Nachspiel: Denn noch am Tag nach der
Ausschusssitzung stellte Andreas Schulz, Anwalt von Opferangehörigen,
Anzeige wegen des Verdachts der Falschaussage: Offensichtlich habe entweder
Rasmus M. oder Philipp K. „nicht wahrheitsgemäß ausgesagt“.
## „Es ist so bitter“
Kritik erntet das BKA nun auch, weil es damals den Fall Amri nicht an sich
zog. Dabei bewegte sich der Tunesier quer durch Deutschland – und auch das
LKA in NRW bat mehrfach um eine Übernahme, wie interne Unterlagen zeigen.
BKA-Mann Philipp K. zieht sich darauf zurück, dass dies nur mündlich –
nicht, wie nötig, schriftlich erfolgt sei. Nicht nur Rasmus M. sieht das
als Ausflucht. Was war also der Grund? War das BKA in der Zeit nach den
Pariser Anschlägen und von Attentaten auch in Würzburg oder Ansbach
überlastet? Oder war es doch eine fatale Fehleinschätzung?
Dazu kommt, dass auch die dritte Bundesbehörde – der BND – über Amri gut …
Bilde war. Über den marokkanischen Geheimdienst erfuhr er im Herbst 2016,
dass Amri in Kontakt zum IS stehe und Facebookprofile mit islamistischen
Inhalte habe. Aber auch der BND ließ Amri nicht festsetzen.
Stattdessen blieb der 24-Jährige in der Verantwortung des LKA Berlin – das
dessen Observation im Juni einstellte, eben weil es Amri nur noch für einen
Drogendealer hielt. Die Kollegen aus NRW schüttelten über die Berliner
wiederholt den Kopf: Diese hätten bei Amri „den Ernst der Lage nicht
erkannt“, seien „völlig überfordert“.
Amri legte nach Ende der Observation mit seinen Terrorplanungen erst
richtig los, wie man heute weiß. Er ging in der Fussilet-Moschee ein und
aus. Er chattete mit IS-Leuten in Libyen, bekam einen Mentor. Er sinnierte
mit zwei Bekannten über einen Anschlag auf das Berliner
Gesundbrunnen-Center. Er drehte seine Videos. Und am 19. Dezember 2016
verübte er seinen Anschlag.
Im U-Ausschuss saß zuletzt auch Astrid Passin oben auf der Zuhörertribüne.
Die Berlinerin verlor bei dem Anschlag ihren Vater. Nun verfolgt sie den
Ausschuss, so oft es geht. Am Donnerstag wird Passin mit anderen
Opferangehörigen wieder auf dem Breitscheidplatz stehen, zu einer
Gedenkstunde anlässlich des Jahrestags der Tat.
„Es ist so bitter, was nun alles an Versäumnissen der Behörden vor der Tat
bekannt wird“, sagt Passin. „Jeden Tag fragen wir uns, wie es zu dem
Anschlag kommen konnte.“ Das Attentat sei für die Opfer bis heute „nicht zu
verkraften“. „Dass nun auch bei der Aufklärung gemauert, ja offenbar sogar
gelogen wird, ist unbegreiflich. Das tut alles nur weh.“
18 Dec 2019
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## AUTOREN
Konrad Litschko
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