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# taz.de -- Tagebücher von Chips Channon: Blick in den Abgrund
> Chips Channon hofierte Mussolini, Hitler wie auch Hohenzollern, britische
> Royals und Chamberlain. Die Tagebücher erscheinen nun erstmals
> unzensiert.
Bild: Die Hochzeit von „Chips“ Channon und Lady Guinness in Westminster im …
Der Politiker Henry „Chips“ Channon schlief mit allem, was Rang und Namen
hatte. Es half ihm, in die höchsten Kreise Großbritanniens aufzusteigen und
gleichzeitig seine amerikanische Herkunft zu exorzieren.
Channon, 1897 in Chicago geboren, verachtete die USA ebenso inbrünstig wie
seine reichen Eltern. In seinen Augen bestand die einzige
Daseinsberechtigung seines Vaters darin, ihm Schecks nach London zu
schicken.
Später übertrug Channon diese anspruchsvolle Aufgabe an seine Ehefrau Lady
Honor Guinness. Honor und die Guinness-Alkoholdynastie verschafften ihm
auch einen sicheren konservativen Wahlkreis. 23 Jahre lang, bis zu seinem
Tod 1958, vertrat Chips Channon Southend-on-Sea im britischen Parlament.
Niemand würde sich heute noch an Chips und seine unbedeutende Politkarriere
erinnern, wenn er nicht Tagebücher verfasst hätte. 1967 wurden sie in einer
stark zensierten Version erstmals veröffentlicht. Die Streichungen waren
bitter nötig, denn damals lebten noch viele von Channons Zeitgenossen, die
das Buch vom Markt geklagt hätten.
## Endlich unzensiert
Mittlerweile ist derartiges nicht mehr zu befürchten. Es ist dem Historiker
und Journalisten Simon Heffer zu verdanken, dass wir jetzt Band eins der
unzensierten Tagebücher lesen können. Er behandelt den Zeitraum von 1918
bis 1938 und verkauft sich trotz geschlossener Buchläden in Großbritannien
blendend.
In seltener Übereinstimmung feiert sowohl das linke wie das konservative
Feuilleton ein Tagebuch, in dem es seitenlang um Juwelen, Landhäuser und
Bälle geht. Die Frage ist, warum? Ist es wichtig zu wissen, dass Lady Astor
bei ihren Empfängen nicht genug Champagner ausschenkte? Vielleicht sagt das
viel über ihren Charakter aus, vielleicht lag es aber auch am Butler, der
Flaschen abzweigte.
Doch wenn man die Champagnerflaschen überspringt, bietet Heffers Edition,
inklusive seiner detaillierten Fußnoten, etwas Außergewöhnliches. Wir
bekommen einen ungefilterten Blick auf die britische Politik der
Zwischenkriegszeit. Es ist der Blick in einen Abgrund. Channons engste
Freunde waren Beschwichtigungspolitiker, die unter Bolschewismusängsten
litten und sich für die Hofierung Mussolinis und Hitlers entschieden.
Auch Chips fühlte sich zu den Diktatoren hingezogen und glaubte, Italien
und Deutschland gut zu kennen. Sein Tagebuch bietet daher mehrere
interessante Passagen für deutsche Leser. Im Jahr 1928 reiste Channon
erstmals mit seinem Lebensgefährten, dem Höfling George Gage, nach Berlin:
„Es gibt 120 Kaffees und Bars in der Stadt nur für Männer. In Deutschland
ist Homosexualität die große Mode … ich hatte plötzlich Lust, mit einer
Frau zu schlafen.“
## Hochpatriotisch und stimulierend
Als überzeugter Monarchist und Antisemit fand Channon die Weimarer
Gesellschaft stillos – voller neureicher Juden und dumpfer Mittelständler.
Sein pessimistischer Ton änderte sich erst nach der Machtergreifung der
Nationalsozialisten, die er als „hochpatriotisch, vital, neu und unendlich
stimulierend“ empfand.
Sein entscheidendes Erweckungserlebnis wurden die Olympischen Spiele 1936,
bei denen er Hitler „erlebte“: „Man fühlte sich wie in der Gegenwart ein…
Halbgottes. Ich war aufgeregter als bei meinem Treffen mit Mussolini 1926
in Perugia, oder als der Papst mich 1920 oder 21 segnete.“
Beim anschließenden Staatsbankett in der Oper lernte Channon Göring kennen
(„ein liebenswerter Mann“) und erfuhr, dass ausgerechnet „der dröge Phil…
von Hessen … die Rolle des Mittlers zwischen Mussolini und Hitler spielt …
die faschistische Kette, die uns vor dem Bolschewismus bewahrt“.
Channon war auch mit zwei Söhnen des Ex-Kronprinzen Wilhelm befreundet und
lernte während der Olympiade deren Mutter Cecilie kennen. Das gemeinsame
Mittagessen verlief gut, auch wenn der Ästhet Channon dabei die
geschmacklose Umgebung ausblenden musste: „Fritzi (Friedrich von Preußen)
führte [1][uns nach Cecilienhof, das die kaiserliche Familie] für englisch
hält. Es ist ein scheußliches Haus … falscher Tudorstil, kurz vor dem Krieg
erbaut. Dass man auf einen See schauen kann, ist eine Erleichterung. Die
Inneneinrichtung ist royal: plüschig, palmig … und keine Ornamente außer
Fotos von toten Monarchen und ein paar Familienporträts, alle hässlich.“
## Hitlers Flirt mit dem Adel
Besseren Dekor fand Channon hingegen bei Ribbentrops Olympiaparty. Hier
lernte er den Rest der [2][Hohenzollernfamilie kennen, inklusive der
Kaisertochter Viktoria Luise], verheiratete Prinzessin von Hannover. Er
erfuhr auch, dass Hitler zwar mit dem Haus Hannover „flirtet“, aber nicht
taub gegenüber den „Rechten der Hohenzollern“ sei.
Channon fand dies ausgesprochen ermutigend. Er hoffte, sein Freund Fritzi
Preußen würde am Ende das Thronrennen machen: „Ich riet ihm, mithilfe der
englischen Regierung Einfluss auf die deutsche zu nehmen … und seinen
Militärdienst zu absolvieren. Er sagte mir, sein Großvater, der alte Kaiser
in Doorn, habe ihm denselben Rat gegeben.“
Seinen Olympiabesuch rundete Channon mit einem Ausflug in ein
„Arbeitslager“ ab: „Wir hatten solche Schauergeschichten über diese Lager
gehört, aber tatsächlich waren sie sauber, und die Jungen, alle um die 18,
sehen aus wie ganz normale deutsche Bauern, gesund und sonnengebräunt. Man
bringt ihnen militärischen Drill bei, Gärtnerei etc., etc. um ihre
Gesundheit zu stärken … England könnte etwas davon lernen.“
Die potemkinsche Berlinreise spornte Channon an. Er echauffierte sich nun
seitenlang über seine konservativen Gegenspieler Churchill und Duff Cooper,
die vor dem NS-Regime warnten. Channon hingegen hoffte auf den zukünftigen
König Edward VIII. Edward galt als nazifreundlich und war „mit seinem hohen
Stimmchen“ häufiger Gast bei Channons opulenten Dinnerpartys. Auch Edwards
Geliebte Wallis Simpson wurde eine enge Freundin.
## Stinkfaule Queen Mum
Zwar war sie nicht schön („sie sieht aus wie eine Maus mit Muttermal“),
aber sehr viel intelligenter als die „stinkfaule“ Herzogin von York, die
spätere Queen Mum. Die Abdankung Edwards wurde für Channon folglich zur
Tortur. Er erlebte alles hautnah mit, und sein Tagebuch bietet neue
Einblicke in die komplexen Intrigenkonstellationen.
Kurz darauf gab es jedoch wieder Grund zur Freude, denn sein anderer Held –
Neville Chamberlain – wurde Premierminister. Beschwichtigungspolitiker
hatten nun die Oberhand und einer davon war Chips angeheirateter Onkel Lord
Halifax. Halifax traf den „Führer“ im Jahr 1937 und würde nach dem Krieg
kolportieren, er habe ihn aus Versehen für den Hausdiener gehalten. Diese
Anekdote war Teil einer gekonnten Verschleierungstaktik.
Channon beschrieb, was Halifax ihm nach seinem Besuch bei Hitler im Jahr
1937 tatsächlich erzählt hatte: „Er sagte, er mochte alle ranghohen Nazis,
sogar Goebbels!, den sonst niemand mag. Er war sehr beeindruckt,
interessiert und amüsiert von dem Besuch. Er findet das Regime fantastisch,
vielleicht zu fantastisch, um es ernst zu nehmen. Aber er ist sehr froh,
hingefahren zu sein, und glaubt, dass daraus Gutes entstehen wird.“
Kurz darauf machte Premierminister Chamberlain Halifax zu seinem neuen
Außenminister (Channon hatte noch schnell ein schlechtes Wort für den
Vorgänger Anthony Eden eingelegt). Von nun an war Chips ganz nah am
Geschehen und ging im Auswärtigen Amt ein und aus.
## Brutale Ehrlichkeit
Er redete sich im März 1938 den „Anschluss“ seines Urlaubsorts Österreich
schön („die Hälfte der Bevölkerung ist sowieso nationalsozialistisch
eingestellt“), zeigte Verständnis für Hitlers Forderungen gegenüber der
Tschechoslowakei und war begeistert, als Chamberlain mit dem Münchner
Abkommen „den Frieden rettete“. Mit diesem atemberaubenden Höhepunkt endet
Band eins.
Das Tagebuch besticht durch seine brutale Ehrlichkeit. An einer Stelle
beschreibt Chips Channon, wie langweilig sein eigenes Gesicht aussehe.
Tatsächlich erinnert es in seiner makellosen Ausdruckslosigkeit an die
endlose Leere des Mittleren Westens.
Trotzdem wäre es falsch, dieses leere Gesicht zu unterschätzen. Chips mag
ein oberflächlicher, reaktionärer Snob gewesen sein. Doch wenn Churchill im
Jahr 1940 nicht Premierminister geworden wäre, hätten Leute wie Channon
katastrophalen Schaden anrichten können.
Es war knapp.
11 Apr 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Karina Urbach
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