| # taz.de -- Exil in Großbritannien und Israel: Wiedersehen in Windermere | |
| > Skandale prägen das Polit-Leben Großbritanniens in diesem Sommer. Hier | |
| > sprach unsere Autorin mit Alisa, einer 92-jährigen Jüdin aus Wien. | |
| Bild: Alisa (letzte Reihe, zweite von rechts) und andere jüdische Mädchen 194… | |
| Großbritannien hat einen ungewöhnlichen Sommer erlebt. Zuerst musste | |
| [1][der moralisierende Gesundheitsminister Matt Hancock zurücktreten]. Er | |
| hatte während der dritten Coronawelle gepredigt, man dürfe nur drei | |
| Familienmitglieder umarmen, und wurde dann selbst im Clinch mit einer | |
| attraktiven Italienerin gefilmt. Sie war nicht Teil seiner Familie, dafür | |
| aber eine alte Flamme, die er mit Steuergeldern als „Beraterin“ eingestellt | |
| hatte. | |
| Hancock verschwand erst aus den Schlagzeilen, [2][als die korrupten | |
| Lobbyistengeschäfte von Ex-Premierminister David Cameron] bekannt wurden, | |
| der bildungsschwache Erziehungsminister Gavin Williamson seine Abiturnoten | |
| unterschlug und der Außenminister Dominic Raab sich in Kreta sonnte, | |
| anstatt seine Landsleute aus Kabul zu retten (ganz zu schweigen von | |
| Afghanen, die dort mit der britischen Armee zusammengearbeitet hatten). | |
| Was viele Briten in diesem Sommer zudem ebenfalls erboste, waren die | |
| überhöhten Preise für PCR-Tests. Gemeinsam mit widersprüchlichen | |
| Reisewarnungen erschwerten sie es einkommensschwachen Familien mit Kindern, | |
| einen sonnigen Urlaub à la Dominic Raab zu erleben. Stattdessen reisten | |
| viele Briten dieses Jahr an englische Urlaubsorte – Cornwall im Süden und | |
| den Lake District im Norden. Und ausgerechnet in den Lake District wollten | |
| wir auch. | |
| ## Briten urlauben im Inland | |
| Unser Plan war es, dort die 92-jährige Alisa für eine Arte-Dokumentation zu | |
| interviewen. Alisa ist eine Wiener Jüdin, die kurz vor Kriegsausbruch mit | |
| einem Kindertransport flüchten konnte. In dem kleinen Ort Windermere im | |
| Lake District fand sie 1939 Zuflucht. 82 Jahre später schimmert der See | |
| Windermere immer noch blau und die Berge changieren in dreißig | |
| verschiedenen Grüntönen. Aber die verwinkelten Straßen des kleinen Ortes | |
| waren jetzt auf Kilometer verstopft, alle Hotels und Restaurants | |
| ausgebucht. | |
| Unsere Regisseurin ergatterte schließlich ein Zimmer, das bisher mit großer | |
| Wahrscheinlichkeit als Stundenhotel gedient hatte. Unser tapferer | |
| Kameramann Tim irrte stundenlang durch die Stadt, um etwas Essbares für | |
| alle aufzutreiben. Und trotzdem wurden die Dreharbeiten keine Katastrophe. | |
| Das lag natürlich an dem Gespräch mit Alisa, aber auch an den vielen | |
| Einheimischen, die uns halfen. | |
| Am beeindruckendsten waren Trevor Avery und seine Kollegin Rose Smith. Die | |
| beiden hatten kaum Geld, als sie 2010 eine kleine Ausstellung in ihrer | |
| örtlichen Bibliothek organisierten. Sie wollten an die 300 jüdischen Kinder | |
| erinnern, die Auschwitz, Buchenwald und Majdanek überlebt hatten. | |
| Im Sommer 1945 flog die Royal Air Force die „KZ-Kinder“ nach Windermere, | |
| damit sie sich in der idyllischen Landschaft ein wenig erholen konnten. | |
| Trevor und Rose spürten viele der Kinder auf, interviewten sie und luden | |
| sie ein, noch einmal nach Windermere zu kommen. Es ist den beiden zu | |
| verdanken, dass 2020 der Film „Die Kinder von Windermere“ entstehen konnte. | |
| Unsere Interviewpartnerin Alisa musste kein KZ erleben. Sie verbrachte den | |
| Krieg in der Sicherheit des Lake Districts, weit weg von Bombardierungen. | |
| Die Einheimischen von Windermere luden sie nach Hause ein, der örtliche | |
| Arzt behandelte sie kostenlos, und später bekam sie eine Lehrstelle im Ort. | |
| ## Freund aus dem KZ | |
| Jedes Wochenende ging Alisa ins Kino, und dort traf sie 1945 auf die | |
| „KZ-Jungens“. Einer von ihnen wurde ihr erster Freund. Heute lebt Alisa in | |
| Israel, aber mit ihrer großen Familie hat sie Windermere seither mehrmals | |
| besucht. Ein Foto des Ortes hängt zu Hause weiterhin an der Wohnzimmerwand. | |
| An der Großzügigkeit der Einheimischen hat sich auch im Jahr 2021 wenig | |
| geändert. Im Lake District trifft man auf keine Hancocks, Camerons oder | |
| Raabs. Windermere und Westminster sind zwar nur 430 Kilometer voneinander | |
| entfernt. Es könnten aber auch zwei völlig unterschiedliche Planeten sein. | |
| 3 Sep 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Karina Urbach | |
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