# taz.de -- Falsche Rehabilitierung: Nicht noch ein Denkmal! | |
> Eine Verfilmung von Robert Harris Roman „Munich“ zeigt den englischen | |
> Premierminister Neville Chamberlain als klugen Mann. Dabei setzte er auf | |
> Hitler. | |
Bild: Jeremy Irons als Chamberlain | |
„Remember, remember the Fifth of November.“ Jedes britische Schulkind kennt | |
diesen Reim. Am 5. November 1605 wurde der katholische Verschwörer Guy | |
Fawkes bei dem Versuch festgenommen, das House of Lords in die Luft zu | |
jagen. Bis heute verbrennen die Briten deswegen routiniert am 5. November | |
Fawkes-Puppen auf großen Scheiterhaufen. Wer diese „Bonfire night“ nicht im | |
Nieselregen mit viel Alkohol erleben will, kann sich stattdessen Filme über | |
Guy Fawkes ansehen. Sie sorgen dafür, dass er der Landesverräter Nummer | |
eins bleibt. | |
Andere Persönlichkeiten der britischen Geschichte erleben momentan jedoch | |
starke Popularitätsschwankungen. Wie in Deutschland ist auch in | |
Großbritannien die damnatio memoriae in vollem Gange, und potthässliche | |
Politikerdenkmäler werden in regelmäßigen Abständen mit Farbe beworfen. | |
Umso überraschender ist es, dass es jetzt plötzlich eine unerwartete | |
Rehabilitierung gibt. Bei dem Auserwählten handelt [1][es sich um | |
Premierminister Neville Chamberlain (1869–1940)]. Bisher galt seine | |
Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler als allgemein anerkanntes | |
Desaster. Doch der Bestsellerautor Robert Harris vertritt eine andere | |
Meinung. Sein Roman „Munich“ ist jetzt verfilmt worden. | |
## Denken wie ein Geschäftsmann | |
Es ist ein künstlerisch durchaus beeindruckender Wurf [2][des Regisseurs | |
Christian Schwochow] mit wunderbaren Bildern von Frank Lamm. Der Film hat | |
nur einen einzigen Fehler: Er erzählt die falsche Geschichte. | |
1938 war ein gutes Jahr für Hitler. Im März „schloss“ er dem Deutschen | |
Reich sein Heimatland Österreich an. Als nächstes plante er die | |
„Zerschlagung“ der Tschechoslowakei. Neville Chamberlain hatte kein Problem | |
mit dem „Anschluss“ Österreichs und er war auch bereit, das Sudetenland f�… | |
Hitler zu opfern. | |
Chamberlain kam aus einer wohlhabenden Politikerfamilie und hatte lange im | |
Schatten seines Halbbruders, des Außenministers Austen Chamberlain | |
gestanden. Neville hielt sich für einen sehr viel begnadeteren | |
Außenpolitiker, und als er dann 1937 endlich Premierminister wurde, glaubte | |
er ernsthaft, Diktatoren wie Mussolini und Hitler zähmen zu können. Ihre | |
Regime erschienen ihm zwar etwas unappetitlich, aber Faschismus war in | |
seinen Augen immer noch besser als Kommunismus. | |
Tatsächlich dachte er in erster Linie wie ein guter Geschäftsmann. Die | |
bolschewistische Unterwanderung des britischen Empires und Chinas stellte | |
eine akute Bedrohung britischer Handelsinteressen dar und das musste man | |
bekämpfen. Eine Annäherung an die Sowjetunion – wie sein konservativer | |
Widersacher Churchill es forderte, um die Nazis zu bekämpfen – kam für ihn | |
daher nicht in Frage. Chamberlain setzte lieber auf Hitler. | |
## Akute Selbstüberschätzung | |
Robert Harris wirft trotzdem einen überraschend milden Blick auf diesen | |
irregeleiteten Premierminister. Sein Chamberlain wird von Jeremy Irons als | |
ein kluger Mann gespielt, der im Herbst 1938 einen Krieg vermeiden will und | |
Zeit gewinnen möchte, um Großbritanniens Luftwaffe aufzubauen. Dass die | |
Nationalsozialisten dank des Münchner Abkommens ebenfalls Zeit gewannen und | |
sich das beträchtliche tschechische Waffenarsenal unter den Nagel reißen | |
konnten, scheint Harris nicht zu interessieren. | |
Der reale, an akuter Selbstüberschätzung leidende Chamberlain glaubte | |
übrigens wirklich, mit dem Münchner Abkommen die Welt gerettet zu haben. | |
Fast alle britischen Zeitungen teilten diesen Irrglauben und feierten ihren | |
Premier als „Retter der europäischen Zivilisation“. Nur politische und | |
jüdische Emigranten erlebten das Münchner Abkommen etwas anders. | |
Friedrich Torberg, der 1938 versuchte, einen Freund aus dem [3][KZ Dachau] | |
zu befreien, schrieb an einen Journalisten: „Ich bitte Sie, mir möglichst | |
kurz und leicht faßlich zu erklären, wie es möglich ist, daß 20 km von | |
Dachau entfernt die europäische Zivilisation gerettet werden konnte. Ich | |
versteh das nicht.“ Es gibt viele Gründe, warum man Chamberlain nie ein | |
Denkmal in Westminster errichtet hat. Für ihn ist wirklich kein Platz mehr. | |
5 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Karina Urbach | |
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