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# taz.de -- Jahrestag der Befreiung des KZ Dachau: Gedenken schützt Demokratie
> Wie soll man umgehen mit der Erinnerung an die NS-Barbarei? Die
> Historikerin Kira G. Alvarez, Enkelin eines KZ-Häftlings, zur Aufgabe der
> Gedenkarbeit.
Bild: Am 29. April jährt sich der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers D…
Vor einigen Jahren saß ich mit anderen Nachfahren von Überlebenden in einem
Seminarraum der [1][KZ-Gedenkstätte Dachau]. Wir sprachen über unsere
Familiengeschichten und die schrecklichen Verbrechen, die unsere Vorfahren
an diesem Ort erlitten hatten.
Ich war noch relativ neu in Deutschland und die einzige US-Bürgerin in der
Gruppe. Es wurde mir aber klar, dass dies auch für viele meiner deutschen
Gesprächspartner:innen eines der ersten Male war, mit anderen offen
über ihre traumatische Familiengeschichte zu reden. Wir sprachen oft
zögerlich und suchten im Blick der anderen Bestätigung und Ermunterung, um
weiterzureden.
Am 29. April jährt sich der [2][Tag der Befreiung] des Konzentrationslagers
Dachau durch US-Truppen im Jahr 1945 zum 76. Mal. Sie befreiten auch meinen
Großvater, der seit 1940 im KZ Dachau inhaftiert war und dort gefoltert
wurde. Er wurde unter anderem von Dr. Claus Schilling, dem ehemaligen
Leiter der tropenmedizinischen Abteilung am Robert Koch-Institut und seinen
Assistenten, grausamen und unethischen medizinischen Experimenten
ausgesetzt.
Zeit seines Lebens hatte er schwer an den gesundheitlichen und psychischen
Folgen dieser „Experimente“ zu leiden. Mein Großvater überlebte diese
Torturen und konnte – wie auch andere KZ-Überlebende – später auch darüb…
sprechen. Viele andere fielen jedoch den Quälereien der SS, Krankheiten
oder Unterernährung zum Opfer. Und viele derjenigen, die die Hölle von
Dachau überlebten, waren aufgrund des erlittenen Traumas auch in ihrem
späteren Leben nach der brutalen Haft während des Zweiten Weltkriegs nicht
in der Lage, mit ihren Familien und Freunden über die Zeit im KZ zu
sprechen.
## Generationsübergreifende Traumata
Als eine Nachfahrin und Überlebende der dritten Generation weiß ich, dass
Traumata generationsübergreifend sein können, sich in der Familie eines
jeden Überlebenden einnisten und auch auf die Nachkommen übergehen.
Forschungen im Bereich der Epigenetik – zum Beispiel bei den Nachkommen der
früheren afroamerikanischen Sklaven – zeigen, dass die Erinnerungen und
Spätfolgen erlittener Qualen und Schrecken auch in nachfolgenden
Generationen weiterleben und ihre Gesundheit, ihre Lebensqualität,
beeinträchtigen können.
Das [3][Gedenken an den Holocaust] und andere repressive und genozidale
Ereignisse kann und sollte uns auch lehren, dass der Schmerz der
Vergangenheit nicht nur ein Teil politischer und historischer Narrative
ist, sondern auch menschliche Psychen nachhaltig beschädigt.
Die Erinnerung an [4][die Verbrechen des NS-Regimes] mahnt uns auch und
gerade heute, dass Demokratie und der Schutz von Menschenrechten ständiger
Verteidigung gegen autoritäre Gefahren bedürfen. Vor 76 Jahren beendeten
die Soldaten eines demokratischen Amerika die nationalsozialistischen
Verbrechen der Deutschen in Dachau. Doch in den letzten Jahren musste ich –
eine US-Amerikanerin in Deutschland – erleben, wie demokratische Prozeduren
und Menschenrechte in meinem Heimatland unter einem fortgesetzten Angriff
immer weiter erodierten.
## Die hässliche Fratze der Gegenwart
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben ihre hässliche Fratze in
unverstellter Offenheit gezeigt. Immer neue Einwanderungsbeschränkungen und
die brutale Behandlung der Kinder von Schutzsuchenden an der
mexikanisch-amerikanischen Grenze, die Morde an Eric Garner, George Floyd
und vielen anderen Afroamerikanern durch Polizisten, der versuchte
Staatsstreich eines rechtspopulistischen Mobs vom 6. Januar 2021 und
zuletzt die Welle von Angriffen gegen US-Bürger:innen asiatischer
Abstammung – all das hat mich so bestürzt wie die meisten Amerikaner:innen.
Aber es hat mich nicht überrascht.
Als Tochter von Immigranten bin ich mit dem ständigen Kampf meiner Eltern
aufgewachsen, täglich beweisen zu müssen, dass sie „amerikanisch“ sind.
Die Demokratie ist fragil, und Vorkehrungen zum Schutz von Menschenrechten
haben sich immer wieder als löchrig erwiesen. Die Pandemie hat auch große
und demokratiegefährdende Ungleichheiten aufgedeckt, die bisher ignoriert
wurden. Wie können Gesellschaften heute der Erosion von demokratischen
Institutionen und Menschenrechtsverletzungen effektiv entgegentreten? Ein
Weg beginnt mit Bildungsarbeit. Die KZ-Gedenkstätten sind als materielle
Überreste und Zeugen von unvorstellbarer Grausamkeit wichtige Lernorte für
Menschen aus aller Welt.
## Das Vermächtnis ernst nehmen
Doch die damaligen Täter waren oft keine Wahnsinnigen, äußerlich ähnelten
sie nicht Monstern, sondern schienen ganz normale Menschen zu sein, die
angeblich nur ihre Arbeit machten. Wir müssen den wenigen noch Überlebenden
des [5][Holocaust] zuhören, ebenso wie denen anderer Genozide. Wir müssen
ihr positives Vermächtnis ernst nehmen – und zugleich ein Bewusstsein für
die noch lange weiterlebenden negativen Folgen ihrer Misshandlungen und
ihres Leids entwickeln. Und wir müssen unsere theoretische Einsicht mit der
Praxis unseres Lebens verbinden. Wir sollten in unserem Alltag versuchen,
uns gegen alltägliche Diskriminierungen zu stellen.
Mein Großvater blieb trotz des dunklen Schattens, den die Jahre im KZ
Dachau auf sein späteres Leben warfen, bis zum Ende ein unermüdlicher
Verfechter demokratischer Werte. Er wies beim Rückblick auf die
schmerzliche Vergangenheit stets darauf hin, dass Umstände erforscht werden
müssten, die es möglich machten, dass das kultivierte und zivilisierte
Deutschland der nationalsozialistischen Barbarei verfiel. Folgen wir ihm in
seinem Aufruf zur [6][aufklärenden Bildungsarbeit]. Denn nur so können wir
demokratische Strukturen schützen und mit Leben erfüllen, und die Rechte
von Menschen künftig wirksamer schützen.
29 Apr 2021
## LINKS
[1] /Angriffe-auf-KZ-Gedenkstaetten/!5684941
[2] /75-Jahre-Befreiung-von-Buchenwald/!5711225
[3] /65-Jahre-Befreiung-KZ-Auschwitz/!5148650
[4] /Buch-ueber-Voraussetzungen-der-Shoah/!5238668
[5] /Timothy-Snyder-ueber-den-Holocaust/!5246075
[6] /Erinnerung-an-NS-Zeit-aufrechterhalten/!5756698
## AUTOREN
Kira G. Alvarez
## TAGS
KZ
Befreiung
Trauma
Erinnerungskultur
NS-Gedenken
Kolumne Blast from the Past
Joseph Beuys
100. Geburtstag
Holocaustüberlebende
Shoa
Schwerpunkt Sport trotz Corona
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