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# taz.de -- 100. Geburtstag von Joseph Beuys: Raus aus dem Kino, rein ins Museum
> Happy Birthday, Joseph Beuys: Statt ihm weiter Altare zu bauen oder ihn
> als Hitlerjungen zu verdammen, sollte man sich seinem Werk zuwenden.
Bild: Joseph Beuys beim Aufbau seiner Installation „The pack“ 1979 im Gugge…
Im Hamburger Bahnhof, wo die Beuys-Arbeiten der Sammlung Marx zu Hause
sind, trifft man auf eine Barriere aus 21 Basaltsteinen, ergänzt um einen
Hubwagen und eine Brechstange: „Das Ende des 20. Jahrhunderts“, um 1983
entstanden, wirkt seltsam sakral, trotz der Maloche, für die der Hubwagen
spricht; das Ensemble scheint aber auch ein bisschen zu kalauern, mit
diesem Gestus der Tatkraft, den das schwere Gerät und die schweren Steine
heraufbeschwören; vor allem aber scheint es einigermaßen unerklärlich.
Reizt das Arrangement, mehr darüber zu erfahren? Oder erweckt es nicht den
Eindruck, es handle sich mehr um eine Memorabilie oder eine Art Reliquie
als um ein Kunstwerk? Ins kollektive Gedächtnis ist [1][Joseph Beuys
(1921–1986) als Aktionskünstler] eingeschrieben, als sprechender Künstler
und als politischer Künstler, dazu Aktivist der Friedensbewegung und der
Grünen.
Auch die, die ihn nie live gesehen haben, erinnern ihn so. Dem
Medienzeitalter des 20. Jahrhunderts gedankt, waren er und seine Aktionen
durch Film- und Tonaufzeichnungen sowie Fotografien im
bundesrepublikanischen Alltag der 1970er und 1980er Jahre omnipräsent.
Seine Kunstwerke scheinen ohne ihn kaum zu funktionieren, denkt man etwa an
die berühmte „Honigpumpe am Arbeitsplatz“, 1977 auf der documenta 6
installiert. Die ganzen 100 Tage war er anwesend, um im nahebei
eingerichteten Diskussionsforum der von ihm gegründeten Free International
University mit den Besucher:innen zu diskutieren.
## Kraftwerk der sozialen Skulptur
Er war das Kraftwerk der Sozialen Skulptur, auch wenn er anderen, wie
Gewerkschafter:innen, Rechtsanwält:innen, Schauspieler:innen,
Journalist:innen, Wirtschaftsexpert:innen, Musiker:innen und
vielen mehr das Wort überließ, während der mit Wasser verdünnte Honig durch
das Kreislaufsystem aus Röhren und Schläuchen gepumpt wurde. Man möchte
daher meinen, ohne ihn wirke das Arrangement schal und ohne Reiz.
Aber vielleicht täuscht das? Sollte man [2][Beuys’ hundertsten Geburtst]ag
nicht zum Anlass nehmen, ins Museum zu gehen und in seinen dortigen
Hinterlassenschaften noch einmal nach ihm zu schauen? Schließlich kann man
ja nicht ewig in [3][Andres Veiels Beuys-Film] sitzen bleiben und mit dem
Filmautor dem Charisma des Mannes verfallen, der in seinem Standard-Outfit
mit Filzhut, Jeans, weißem Hemd, Anglerweste (mit Hasenpfote als Talisman,
variabel ergänzt durch Militär- und Pelzmäntel, einer davon aus Luchsfell)
auch dem letzten Kunstbanausen eine bekannte Erscheinung war.
Und so sehr Beuys’ leuchtende Kinderaugen in seinem ausdrucksstarken
Gesicht faszinieren, die Passionsgeschichte, zu der der Regisseur Veiel
Beuys’ künstlerischen Werdegang hochjazzt, nimmt man ihm eh nicht ab. Warum
sollte man auch? Sich als Opfer zu sehen, wäre Beuys nicht in den Sinn
gekommen; sich etwa darüber zu beklagen, dass ihn die Grünen – obwohl er
ihnen so viel mediale Aufmerksamkeit beschert hatte – nach ihrem
erfolgreichen Einzug in den Bundestag 1983 abservierten.
Er war ja ein Star. Der berühmteste Künstler der Bundesrepublik. Mit seiner
Einzelausstellung im Solomon Guggenheim Museum in New York 1979
personifizierte er das Comeback der deutschen Kunst nach der Zeit des
Nationalsozialismus und den Nachkriegsjahren, Jahrzehnte bevor Gerhard
Richter diese Rolle angedient wurde.
## Selbststilisierung
Also doch mal die Werke anschauen. Weil man gar nicht mehr weiß: Wie sehr
verdankt sich Beuys’ Ruhm seiner Selbststilisierung? Oder dem Streit der
Biografen und Kritiker, die zuletzt in ihm nur noch den Esoteriker und
Rudolf-Steiner-Anhänger erkannten?
Wobei man, nebenbei bemerkt, gerne wüsste, wer von ihnen allen in
Waldorfschulen sozialisiert wurde. Seine Ideen sahen sie, wie die
Beuys-Forscher Frank Gieseke und Albert Markert, wesentlich aus
faschistischem und neurechtem Gedankengut hergeleitet, der
[4][Kunsthistoriker Beat Wyss sekundierte, indem er einen „ewigen
Hitlerjungen“] diagnostizierte.
Auslöser der Debatte war unter anderem die Legende um seine Rettung durch
Tataren nach dem Abschuss seines Sturzkampfbombers auf der Krim. Im Katalog
der Guggenheim-Ausstellung erstmals groß ausgebreitet, wurde die Erinnerung
von der US-amerikanischen Kritik sofort und zu Recht angezweifelt. Der
Kunsthistoriker Benjamin Buchloh vermutete, Beuys hätte diesen Mythos von
Filz und Fett als heilendes Material aufgebracht, um seine Beteiligung an
Krieg und Faschismus zu verdrängen.
Doch was hat Beuys eigentlich jenseits dieser Saga mit dem Fett und dem
Filz gemacht? Dieser Frage geht der Schweizer Kunsthistoriker Philip
Ursprung in seiner Monografie zu Beuys nach („Joseph Beuys. Kunst Kapital
Revolution“, Beck 2021), und zwar anhand von dessen berühmtem „Stuhl mit
Fett“. Ursprungs Recherchen zufolge entstand der Stuhl im Wintersemester
1963 in der Akademie in Düsseldorf, wo Beuys die Professur für
Monumentalbildhauerei hatte.
## Fett gegen NS-Körperkult
Mutmaßlich wollte Beuys die Grundlagen der Plastik erläutern, und weil er
sich – wie es seine Kritiker richtig bemerkt, aber vielleicht etwas allzu
einseitig interpretiert hatten – in seinen Ideen tatsächlich auf die
NS-Zeit bezog, sah seine Körperplastik gewöhnungsbedürftig aus.
Beuys stand der Abstraktion, über die sich die Mehrheit der
Künstler*innen nach dem Krieg von der nationalsozialistischen
Ikonografie zu distanzieren suchte, skeptisch gegenüber. Sein Weg, sich von
den gepanzerten Heroen des NS wie der Abstraktion zu unterscheiden, fand er
nach Ursprung im Bild des durchlässigen, verwundbaren und vergänglichen
Körpers.
„Fett und Körperflüssigkeiten standen im Gegensatz zu Muskeln und Haut, die
für die nationalsozialistische Körperdarstellung typisch waren. Stuhl mit
Fett ist somit das Gegenteil eines heroischen Standbilds.“
Die Zeitgenossen erkannten sehr wohl, wenn auch nur unbewusst, die
Blasphemie dieser Sitzfigur aus einem hingesunkenen Torso ohne Arme und
Beine, dafür mit einem aufgeblähten Bauch, darauf lassen die aufgebrachten
und sehr aggressiven Reaktionen auf die Arbeit schließen. Beliebt und
entlarvend sind die misogynen Geschichten von den Putzfrauen, die angeblich
das Fett wegräumten und saubermachten, weil Kunst da ja wohl nicht
erkennbar war.
## Idee des Neubeginns hat ihn nicht interessiert
Aber säubern, was Beuys angeht, wollen das womöglich gar nicht die Frauen,
die putzen, sondern vor allem Männer, die sich in der öffentlichen Debatte
zu profilieren suchen? Ist nicht Abräumen, mit etwas endgültig fertig sein,
ihr Ding? Beuys hat die Idee des Neubeginns nicht interessiert, „die tabula
rasa“, bemerkt Ursprung richtig, „kommt in seinem Werk nicht vor“.
Lange bevor Beuys seine Erfahrungen verbalisierte und mystifizierte, waren
der Zweite Weltkrieg und – ganz anders als sonst in der Kunst der
Nachkriegszeit, wo er verdrängt wurde – der Holocaust bildnerisch von
Anfang an in seinen Arbeiten gegenwärtig.
Die Vitrine „Auschwitz Demonstration“ (1956–1964), kleinteilig mit
Wurstzipfeln, einer toten Ratte, zwei Fettblöcken, einem Zollstock, einem
Kruzifix sowie der Zeichnung einer verletzten Frau auf einer Bahre
bestückt, mag zunächst in ihrer Aussage undeutlich erscheinen. Allerdings,
wird man dann der wie ein Leporello aufgefalteten Panoramafotografie des
Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau gewahr, lädt sich das Arrangement
schlagartig mit der Geschichte dieses Menschheitsverbrechens auf.
Daher erstaunt, dass die Vitrine die längste Zeit nicht wahrgenommen wurde.
Weder als Beuys sie erstmals am rechten Ort, nämlich dem Münchener Haus der
Kunst, aufbaute und der Spiegel sie zwar fotografisch abbildete, freilich
ohne ihren Titel zu nennen.
Noch wurde die „Auschwitz Demonstration“ in Götz Adrianis mit Winfried
Konnertz und Karin Thomas 1973 verfasster Monographie „Joseph Beuys“
erwähnt. Und auch 1979 in New York, wo die Vitrine den Auftakt seiner
Ausstellung im Guggenheim Museum bildete, gab es darauf so gut wie keine
Reaktion, während um die Tataren der große Streit entbrannte.
Was dann doch sehr viel über die Rezeption von Beuys’ Werk aussagt und
darüber, wo man eher weg- und wo man eher hinschaute. Vielleicht lohnt es
aber, jetzt noch einmal neu hinzuschauen. „Das Ende des 20. Jahrhunderts“
im Hamburger Bahnhof in Berlin befindet sich ja in einer Stadt, in der
inzwischen Peter Eisenmans Holocaust-Mahnmal berühmt ist, mit seinen
Betonstelen, gar nicht so unähnlich Beuys’ Basaltsteinen.
11 May 2021
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## AUTOREN
Brigitte Werneburg
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Joseph Beuys
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