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# taz.de -- Die Künstlerdynastie der Giacomettis: Der Stuhl mit der Maus
> In der Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence in Südfrankreich werden
> derzeit „Les Giacometti“ vorgestellt, Albertos ganze kreative Familie.
Bild: Alberto Giacometti, Le Chat, 1951, Bronze
Die Frau, die, um sich zu schminken und die Haare zu frisieren, auf diesem
Hocker Platz nimmt, ist eine couragierte Frau. Das jedenfalls behauptet der
Stuhl – mit der kleinen Maus, die sich klammheimlich in seiner filigranen
Verstrebung nach oben arbeitet.
Mit ihr erweist Diego Giacometti (1902-1985) Marguerite Maeght seine
Reverenz. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Galeristen Aimé Maeght, gründete
sie 1964 bei [1][Saint-Paul-de-Vence die Fondation Maeght], wo das
hinreißende Kunstwerk aus Bronze nun Teil der Ausstellung „Les Giacometti.
Une famille de créateurs“ ist, die am 3. Juli eröffnete.
Die Maeghts waren die Galeristen von Alberto und Diego Giacometti – und die
von Pierre Bonnard, Henri Matisse, Georges Bracques, Joan Miró, Marc
Chagall, Alexander Calder, Wassily Kandinsky, Kurt Seligmann und Germaine
Richier sowie jüngeren Talenten wie Ellsworth Kelly, Antoni Tàpies, Eduardo
Chillida oder Raoul Ubac.
Und damit waren sie, die noch in den 1930er Jahren einen Laden mit einer
kleinen Druckerei in Cannes betrieben hatten, wo sie auch Radios, Möbel und
Bilder lokaler Künstler verkauften, eine der ganz maßgeblichen Adressen der
Kunstwelt nach dem Zweiten Weltkrieg.
## Legendäre Erfolgsgeschichte
Marguerite Maeght hatte sich während des Krieges zu Pierre Bonnard getraut,
der in der Nähe wohnte. Sie bat ihn um Bilder für ihren Laden, wohl nicht
wirklich wissend, wer ihr da mit seiner Zusage nach einiger Verhandlung ins
Netz gegangen war.
So begann eine legendäre Erfolgsgeschichte, der hier in Südfrankreich mit
dem vom [2][katalanischen Architekten Josep Lluís Sert] erbauten privaten
Museum samt seinem Garten voller Skulpturen, Plastiken, Mosaiken und
Installationen großer Künstler der klassischen Moderne wie etwa Miró oder
Braques ein großartiges Denkmal errichtet wurde, als künstlerische wie
institutionelle Hinterlassenschaft.
Und weil die Fondation Maeght sich weiter als Institution der Kunstwelt
behaupten will, wird die ständige Sammlung immer wieder beiseite geräumt,
um Platz für Sonderausstellungen zu machen. Jetzt also für Die Giacomettis.
Die Ausstellung ist ein Wurf. Denn wie der Stuhl mit der Maus zeigt: Die
Schau ist voller Überraschungen.
So finden sich in ihr viele bislang öffentlich nie gezeigte Arbeiten. Und
dann präsentiert sie den Kunstmarktgiganten Alberto Giacometti (1901-1966)
in einer ungewohnten Perspektive, im Kontext seiner Familie, inmitten
lauter erfolgreicher, schöpferischer Männer.
## Wegbereiter der modernen Kunst in der Schweiz
Man lernt ihn als Sohn von Giovanni Giacometti (1868-1933) kennen, der am
Beginn des 20. Jahrhundert neben Ferdinand Holder und Cuno Amiet zu den
maßgeblichen Wegbereitern der modernen Kunst in der Schweiz zählt (und mit
letzterem auch Mitglied der Dresdner Künstlergruppe Die Brücke).
Dann als Neffen zweiten Grads des Malers Augusto Giacometti (1877-1947),
einem Cousin des Vaters, der zuletzt als einer der Pioniere der Abstraktion
wiederentdeckt wurde, neben Wassily Kandinsky, mit dem zusammen ihn 1925
das Kunsthaus Zürich ausgestellt hatte.
Schließlich sieht man ihn an der Seite seines Bruders Diego, der in Paris
nicht nur sein Lieblingsmodell ist und sein Atelier organisiert, sondern
selbst als herausragender Gestalter und Bildhauer bekannt wird. Und zu
guter Letzt ist da noch das Geige spielende Kind, als das Alberto seinen
jüngsten Bruder Bruno Giacometti (1907-2012) porträtierte.
Als Architekt ist er ein wichtiger Repräsentant der Nachkriegsmoderne in
der Schweiz, international bekannt für seinen Entwurf des Schweizer
Pavillons auf der Biennale von Venedig, der 1952 in den Giardini eröffnet
wird. Damit war Bruno der zweite Giacometti der Biennale, nach Augusto, dem
dort 1932 eine Retrospektive gewidmet war und vor Alberto, der 1962 den
Großen Preis für Skulptur zugesprochen bekam.
## Keine chronologische Abfolge
Ganz [3][bewusst ordnet Peter Knapp] die mehr als 300 Werke, Zeichnungen,
Gemälde, Skulpturen, Möbel und Architekturmodelle, die er als Kurator der
Schau zusammengetragen hat, nicht in chronologischer Abfolge, und genau so
wenig kümmern ihn biographische Gesichtspunkte. Jeder Künstler bekommt
seinen eigenen Raum und die Kunstwerke darin wiederum ihren besonderen
Platz, je nach ihrem Reiz und ihrer künstlerischen Relevanz.
Dass diese unorthodoxe Installation tadellos funktioniert, mag damit
zusammenhängen, dass Peter Knapp – in den 1960er und 1970er Jahren neben
Hans Feurer international erfolgreicher Schweizer Modefotograf – als
Künstlerischer Leiter der Pariser Elle zu den wichtigen Erneuerern des
Zeitschriftenlayouts und großen visuellen Vermittlern zählt.
Und so trifft man nach Giovanni Giacomettis dem Divisionismus und besonders
dessen Spielart bei Giovanni Segantini verpflichteten Landschaften und
Porträts, und nach den abstrakten Pastellfarbstudien, die Augusto
Giacometti in den 1920er Jahren beginnt und den Beispielen, die ihn als
Erneuerer der Glasmalerei, als bedeutenden Wandmaler und Plakatgestalter
zeigen, in einem harten Schnitt unmittelbar auf Bruno Giacometti und das
Modell des Hallenstadions Zürich-Oerlikon, das er 1938 als Angestellter im
Büro Karl Engender verantwortete.
Bruno, der 1930 sein Studium bei [4][Otto Rudolf Salvisberg] abgeschlossen
und sich in den 40er Jahren selbstständig gemacht hatte, experimentierte
bei seinen Entwürfen mit modularer Holzbauweise, auch mit vorfabrizierten
Bauteilen, und zeigte die rohen Betonwände. Wie sein berühmter Lehrer baute
er Krankenhäuser und Kliniken, vor allem aber blieb er in Kontakt mit dem
Bergell, dem engen Tal im Kanton Graubünden, in dem Stampa, das Heimatdorf
der Giacomettis, liegt.
## Das Bergell als Bezugspunkt und Inspiration
Seine Pläne zur Telegrafenstation d’Albigna sind ein Beispiel dafür, wie er
in den 1950er und 60er Jahren die industrielle Moderne in das abgelegene
Tal brachte, wo er auch die Dorfschule in Stampa baute. Das Modell des
kleinen Zollpavillons von Castasegna zeigt ihn als Planer, der seine Bauten
adäquat in die Landschaft einzufügen weiß.
Das Bergell ist auch bei Diego Giacometti die Quelle, aus der sich seine
offenkundige Freude speist, seine Möbel und Interieurs ganz
selbstverständlich mit Tieren, Pflanzen und Bäumen zu bevölkern, ja ihre
wunderbar eigensinnigen Formen und Gestalten daraus abzuleiten. So sind die
schlanken Beine seiner Tische, Stühle und Vitrinen knotig und knubbelig wie
Äste.
Auf sie setzte er wie beim „Table hiboux et grenouilles“ von 1961 eine
kleine Eule, oder er lässt wie bei der „Promenade des amis“, einer Anrichte
aus dem Jahr 1976, Pferd und Hunde hintereinander aufmarschieren, wobei
einer der Hunde das Bein hebt, um an den Baum zu pinkeln, während der
andere ihn beschnüffelt.
Dass Diego der Handwerker hinter Albertos Skulpturen war, zeigt sich auch
daran, dass er ganz analog seine Möbel und Objekte zunächst aus Metall,
Eisendraht, Werg und Gips gestaltete, um sie dann in Bronze zu gießen. Hier
und da patinierte er sie mit Gold wie beim Ensemble mit dem Stuhl mit der
Maus.
## Albertos Türbeschläge
Zwar stattete er schon 1964 [5][das Café der Fondation Maeght] mit Tischen,
Stühlen und Lampen aus, aber seine Karriere nahm doch erst nach dem Tod
Albertos 1966 Fahrt auf. Spät wurde er noch zum Star, beauftragt mit der
Innenausstattung des Musée Picasso, das im September 1985 eröffnete. Von
ihm stammen nicht nur Mobiliar, sondern auch Treppengeländer, Türbeschläge
und Deckenlampen des Hauses.
Die Türbeschläge in der Fondation Maeght, die man ihm gerne zuschreiben
möchte, stammen freilich von Alberto Giacometti. Man darf sie als
Reminiszenz an die Anfangszeiten des großen Bildhauers betrachten, als er
zusammen mit Diego für den einflussreichen Möbeldesigner Jean-Michel Frank,
den sie 1929 durch Man Ray kennengelernt hatten, dekorative Wandleuchten
und Vasen aus Gips herstellte, was ihren Lebensunterhalt sicherte.
Eine ganze Reihe schöner Stehleuchten, die er in der Zeit von 1933 bis 1936
schuf, und ein Hocker aus dem Jahr 1939 machen die Ausstellungsbesucher mit
einem weniger bekannten Aspekt seines Schaffens bekannt.
Interessanterweise kehrt Alberto Giacometti immer wieder zu dieser
angewandten Formgebung zurück. 1949 gestaltet er einen hinreißenden
Deckenleuchter mit vier Armen, die in Blütenkelche mit dem Leuchtmittel
münden, auf einem der Arme tanzt ein Vogel-Mensch-Mischwesen, auf einem
anderen schreitet die bekannte spindeldürre Giacometti-Figur dahin, die
Hände zu Fäusten geballt wie ein Boxer.
## Das Quaken der Frösche
Eine goldene Schale von 1948 prunkt in sakralem Minimalismus. Weitere
großartige Deckenleuchten entstehen in den 1950er Jahren.
Selbstverständlich ist auch sein freies bildhauerisches Werk in all seinen
Facetten zu sehen, die Kollektion der Fondation Maeght ist eine der großen
Giacometti-Sammlungen.
Im Kontext von Les Giacometti gewinnt auch dieses bekannte Werk eine
frische Ausstrahlung, jenseits der historisch-musealen Wahrnehmung. Diego
Giacomettis Arbeiten erscheinen sowieso absolut zeitgemäß. Wer würde heute
den Zauber seiner Gestaltung nicht verstehen? Wo wir den Verlust der
Frösche fürchten, die wir in seinen Möbeln entdecken?
Wenigstens im Dorf der Fondation Maeght – als solches hatte Josep Lluís
Sert seinen architektonischen Entwurf konzipiert – war ihr Quaken während
der abendlichen Eröffnungsfeier laut zu hören. Gerade in dieser Idylle,
darauf weisen mit feinem Raffinement Les Giacometti hin, ließe sich die
zeitgenössische Kunst aus dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts
wunderbar ausstellen. Ja, man sollte das unbedingt tun.
7 Jul 2021
## LINKS
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[3] /Archiv-Suche/!665937&s=Peter+Knapp&SuchRahmen=Print/
[4] /Archiv-Suche/!1043764&s=Otto+Rudolf+Salvisberg&SuchRahmen=Print/
[5] http://www.fondation-maeght.com
## AUTOREN
Brigitte Werneburg
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Weniger bekannt ist seine manische Suche nach der perfekten Konstellation
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