# taz.de -- Joseph Beuys beerben: Er hält den Aufzug fest | |
> Im Mai wäre Joseph Beuys 100 geworden. Nun erklären Kunststudierende und | |
> Absolventen, welche Bedeutung der Konzeptkünstler heute für sie hat. | |
Bild: Max Pimpernelli (30), Absolvent der Kunstakademie Düsseldorf | |
Wenn die Museen in Nordrhein-Westfalen und anderen Bundesländern öffnen | |
dürften, würden viele Häuser gerade unter dem Label „Beuys 2021“ | |
Sonderausstellungen zum 100. Geburtstag des 1986 verstorbenen Künstlers | |
zeigen. Die Kunstsammlung in Düsseldorf hat seinen berühmtesten Satz zum | |
Titel gewählt: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“ Angelehnt an diesen Satz | |
lassen wir unter dem Motto „Jeder Mensch ist ein Beuys-Experte“ | |
Studierende, Absolventen und Werkstattleiter der Kunstakademien ganz | |
subjektiv über die Bedeutung von Beuys sprechen. | |
## Groß auch außerhalb der Kunstblase | |
Max Pimpernelli, 30, Absolvent der Kunstakademie Düsseldorf: Als | |
Abschlussarbeit habe ich im vergangenen Oktober einen Raum gestaltet, in | |
dem mehrere Dinge zu sehen waren: Eine Malerei hing an der Wand, andere | |
standen an die Wand gelehnt, so dass die Rückseiten zu sehen waren, die | |
beschriftet sind oder Zeichnungen tragen. Das zeigt die unsichtbare Arbeit, | |
die hinter einem guten Bild steht. | |
Außerdem gab es einen Arbeitstisch, auf dem ein Buch lag mit dem Titel „Und | |
es war noch warm“. Das ist der letzte Satz des Kinderbuchs „Wo die wilden | |
Kerle wohnen“ von Maurice Sendak. Dessen Protagonist heißt auch Max. Bei | |
meinem Abschluss hatte ich wie er das Gefühl, ich kann etwas abarbeiten, | |
ablegen. In meinem Buch sind übrigens nicht die wilden Kerle zu sehen, | |
sondern eine Dokumentation über meine Arbeitslosigkeit. Und vielleicht hat | |
das doch alles irgendwie mit Beuys zu tun. | |
Ich glaube, Beuys wird immer über der Akademie schweben, aber aktiv im | |
Dialog unter den Studierenden ist er tatsächlich nicht so ein großes Thema. | |
Man bezieht sich eher auf die Generation vor einem, die jetzt | |
Professor*innen sind. An denen arbeitet man sich ab. Aber die haben ja | |
alle zu Beuys’ Zeiten studiert oder auf ihn reagiert. Beuys hat unglaublich | |
viele Studierende hinterlassen, die jetzt manchmal in die Kunstakademie | |
kommen und Sachen sagen wie: „Ich habe mal bei Beuys studiert – und da hat | |
keiner gemalt. Jetzt malen wieder alle.“ | |
Man kommt an Beuys auch deshalb nicht vorbei, weil er außerhalb der | |
Kunstblase so ein großes Ding ist. „Jeder Mensch ist ein Künstler“ – di… | |
Satz ist sehr instagramabel. Genau wie sein Porträt mit dem melancholischen | |
Blick und dem Filzhut und sein ganzer Mythos. Dahinter steckt ja durchaus | |
ein Kalkül. Ich gehe allerdings eher mit Martin Kippenberger, der sagt: | |
„Jeder Künstler ist auch ein Mensch.“ Kippenberger, Helge Schneider, Sarah | |
Lucas und Saeio, die waren mir persönlich eher Referenzen als Beuys. | |
Ein Professor von uns hat oft erzählt, dass zur Beuys-Zeit alle politisch | |
sein mussten. Das war wie eine Mode. Heute sind die Studierenden eher | |
markthörig. Es gibt die Furcht, mit seiner Kunst nicht mehr unterzukommen. | |
Der Glaube an ein solidarisches Kollektiv fehlt oft. Kunst wird immer mehr | |
als Einzelkämpferding begriffen. Bei Beuys war ein kollektiver Gedanke drin | |
und er hat sich provokant gegenüber den Institutionen verhalten. Ich finde | |
bei Künstler*innen eigentlich immer interessant, wenn es eine Art | |
weltfremden Idealismus gibt: „Die Welt, in der ich leben möchte, die gibt | |
es noch nicht.“ | |
## „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ | |
Anna Verena Lumma, 30, Studentin der Kunsthochschule Kassel und | |
Umweltaktivistin: Ich habe angefangen, Kunst zu studieren, weil es für mich | |
der einzige Weg war, die Gesellschaft kritisch zu spiegeln. [1][„Soziale | |
Plastik“] ist ein toller Begriff dafür. In Beuys habe ich jemanden | |
entdeckt, der das lange vor meiner Geburt verstanden hat. Ich kannte ihn | |
vor meinem Studium der bildenden Kunst wenig, aber dann stellte ich fest, | |
was für ein wichtiger Künstler er noch heute ist. | |
Für mich ist er eine Lichtgestalt, mich begeistert seine Art, ganzheitliche | |
Kunst zu machen. Es gibt Künstler, die sich nur mit Materialien | |
beschäftigen und damit Spannungen erzeugen wollen. Das ist interessant, | |
aber es berührt mich nicht nachhaltig. Für mich ist essentiell, das Ganze | |
zu sehen. Beuys tut das. Er stellt nicht nur verrückte Sachen in den Raum | |
und sagt: Das ist jetzt Kunst. | |
Vor 39 Jahren schon ist sein Kunstwerk mit den 7.000 Bäumen entstanden, die | |
er in Kassel pflanzte oder pflanzen ließ. Das ist älter als ich, die Bäume | |
sind größer als ich. Sie prägen das Stadtbild von Kassel. Das ist mal eine | |
Kunst, die wirklich nachhaltig ist! Gerade in Kassel, einer Stadt, die so | |
sehr vom Autoverkehr geprägt ist, in einem Bundesland, wo man immer noch | |
Autobahnen durch gesunde, intakte Wälder baut, sollte man den Titel dieses | |
Kunstwerks heute wieder ernst nehmen: „Stadtverwaldung statt | |
Stadtverwaltung.“ Beuys beklagte schon 1982, dass die Bäume und die Natur | |
überhaupt entrechtet wurden und wollte mit seiner Sozialen Plastik ein | |
Zeichen für Naturschutz und Wiederaufforstung setzen. | |
Ich hoffe, dass das Beuys-Jahr dazu beiträgt, dass man die Soziale Plastik | |
wieder aufleben lässt, dass es die aktivistische Kunst aktiviert. 7.000 | |
Bäume in einer Stadt zu pflanzen hat ja auch etwas Größenwahnsinniges und | |
es ist sehr beeindruckend, dass das jemand geschafft hat, sogar über seinen | |
Tod hinaus. Das Skurrile, Mythische, Beuys’ Taktik, Aufmerksamkeit zu | |
generieren – das ist seine Kunst. Das Ganze, die Aktion in ihrer Gesamtheit | |
schließt mehr ein, eine Gefühlsebene, Symboliken, eine Verbindung zwischen | |
Mensch und Natur. Er hat eben nicht einfach Bäume gepflanzt oder Fettecken | |
irgendwo hingeschmiert, sondern immer komplexe Aktionen daraus gemacht. | |
## Da kann man plötzlich anders springen | |
Herbert Willems, 54, Absolvent und Werkstattleiter der Kunstakademie | |
Düsseldorf: Ich finde gut, dass Sie mich fragen. Dazu fällt mir ein Zitat | |
von Hanns Dieter Hüsch ein: „Der Niederrheiner hat von nix eine Ahnung, | |
aber zu allem was zu sagen.“ Und wie Beuys komme ich vom Niederrhein. | |
Auf dem Gymnasium hatte ich einen Lehrer, der bei seiner Ausbildung viel in | |
Beuys’ Klassen unterwegs war. Er hat Beuys’ Satz zitiert: „Jeder Mensch i… | |
ein Künstler“, und dieser Optimismus und dieser Aufbruch sind Ende der | |
1980er Jahre bei mir hängen geblieben. Meine Eltern hatten einen Bauernhof. | |
Bei uns hat niemand studiert, es gab wenig Kulturdiskussion. Mir hat Beuys’ | |
erweiterter Kunstbegriff Mut gemacht: Wenn man das ganze Leben als | |
künstlerisches Projekt betrachtet, entstehen andere Parameter. Dann kann | |
man plötzlich anders springen, dann ändern sich die Spielregeln. | |
Ich habe damals verstanden: Es gibt nicht nur Schule und Arbeitsplatz. Ich | |
kann mich auch anders fortbewegen, verwirklichen. Kurz bevor mein Vater mit | |
97 Jahren gestorben ist, hat er mir noch gesagt: Ich hätte nicht gedacht, | |
dass du das damit schaffst. Mit der Kunst. Aber ich habe jetzt hier eine | |
sichere Stelle. | |
Es gibt in der Kunstakademie noch Hinterlassenschaften von Beuys: Im Raum | |
001, der sein Klassenraum war, wo er unterrichtet und diskutiert hat, gibt | |
es Rudimente seiner Fettecke, die ja verschwunden worden ist. Und er hat | |
etwas an die Wand geschrieben, da ist jetzt eine Plexiglasscheibe davor und | |
ein Rahmen drum. Aber eigentlich ist er kein Säulenheiliger hier. Wir sind | |
ja eine freie Akademie. | |
Die Studierenden wechseln die Klassen, studieren mal bei dem und bei dem. | |
Es kommt vor, dass mal jemand eine Geschichte erzählt über Beuys, aber er | |
wird nicht regelrecht studiert. Er taucht eher auf als Wert, als Material. | |
Heute Morgen habe ich noch von einem Kollegen gehört, der mit einem | |
Professor in unseren extrem langsamen Aufzug gestiegen ist. Da hat der | |
Professor gesagt: Der Beuys sitzt unten und hält ihn fest. | |
## In Kontakt treten | |
Emily Goede, 27, Studentin der Kunstakademie Düsseldorf: Ich glaube, dass | |
Beuys nach wie vor eine unglaublich große Bedeutung hat, weil er ein Mensch | |
ist, der uns einen Weg vorbereitet hat. Mein Eindruck ist, dass er sich | |
viel abverlangt hat, dadurch, dass er sich permanent in Kontakt mit | |
Menschen und in politische Diskussionen begeben hat. Es ging ihm darum, | |
dass Kunst nicht etwas Elitäres ist, sondern dass es jeden betrifft, alle | |
Schichten, dass jeder Kreativität in sich hat und diese für alles nutzbar | |
ist und nicht nur für die Kunst. | |
Er hat Kunst als Ausweg gesehen aus hergebrachtem gesellschaftlichem Denken | |
und Verhalten. Das wurde und wird bis heute an vielen Punkten gar nicht | |
verstanden und auch ins Lächerliche gezogen. | |
Für mich ganz persönlich und meine Arbeit ist er allerdings gar nicht so | |
präsent, außer dass ich seinen Namen unglaublich oft höre. Das geht an der | |
Kunstakademie wohl gar nicht anders. Ich arbeite gern räumlich, intuitiv, | |
gefühlsgeleitet, mit Materialexperimenten. Ein großer Einfluss für mich ist | |
eher Eva Hesse. Sie hat einen sehr sensiblen Weg, ihre Materialien | |
einzusetzen. | |
Aber ich denke, es hat mit Beuys zu tun, wenn ich für mich spüre, dass es | |
mehr als Marktdenken gibt, dass man mit der Kunst, die man macht, auch in | |
eine Kommunikation mit der Außenwelt tritt. Ich glaube, an der | |
Kunstakademie wird immer noch sehr auf Menschen gezielt, die mit großer | |
Kunst viel Geld verdienen können. Es wird viel von uns erwartet und man | |
geht auch in der Erwartung dahin. Ich frage mich oft, ob wir das, was wir | |
tun, aus den richtigen Gründen tun. | |
Beuys ist mit den Menschen in Kontakt getreten, mit allen Menschen. Aber es | |
gibt eben auch Künstler, die sich zurückziehen auf ihren Erfolg. Manchmal | |
denke ich fast: Wir können die größten Kapitalisten sein. Wenn wir in die | |
Lage kommen, dann können wir für einen kleinen Handgriff unglaublich viel | |
Geld nehmen. | |
30 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Max Florian Kühlem | |
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