| # taz.de -- Buch über Voraussetzungen der Shoah: Nur Staatlichkeit schützt vo… | |
| > Der Holocaust war kein Staatsverbrechen, sondern wurde möglich, weil | |
| > Strutkuren zerstört wurden. Timothy Snyders neues Buch „Black Earth“. | |
| Bild: Snyders These: Auschwitz war möglich, weil Staatlichkeit systematisch ze… | |
| Das neue Buch des US-amerikanischen Historikers Timothy Snyder „Black | |
| Earth“ stellt weit mehr als nur eine Vertiefung [1][seines umstrittenen | |
| Buches „Bloodlands“] (dt. 2011) dar. Dort war er um den Nachweis bemüht, | |
| dass der Holocaust vor allem in jenen Regionen die meisten Opfer forderte, | |
| in denen sich die Interessensphären von Hitlers Deutschland und Stalins | |
| Sowjetunion widersprüchlich überschnitten. | |
| Nun geht es nicht nur um einen genaueren Blick auf die Rolle des damaligen | |
| polnischen Staates, sondern auch darum, ob und – wenn ja – welche | |
| strukturellen Bedingungen ein solches „präzedenzloses Verbrechen“ (Jehuda | |
| Bauer) wie den Holocaust auch in Zukunft ermöglichen könnten. | |
| Seit Jahren wird innerhalb und außerhalb Polens anlässlich des von Polen an | |
| Juden verübten Pogroms von Jedwabne im Juli 1941 erörtert, ob Polen am | |
| Holocaust nicht doch eine größere Mitverantwortung trägt als bisher | |
| bekannt. Diese Frage hat für Snyder systematische Bedeutung, obwohl er sie | |
| eher negativ beantwortet. | |
| In den ersten Kapiteln seines Buches geht Snyder minutiös den | |
| Gemeinsamkeiten und Unterschieden von nationalsozialistischem und | |
| polnisch-nationalistischem Antisemitismus nach. Der wesentliche Unterschied | |
| zwischen dem Antisemitismus der polnischen Regierungen vor dem 1. 9. 1939 | |
| und dem NS-Regime bestand demnach darin, dass es dem polnischen Regime | |
| „lediglich“ darum ging, die Juden, möglichst alle Juden, etwa drei | |
| Millionen Menschen, geografisch aus Polen zu entfernen, dem | |
| Nationalsozialismus jedoch darum, alle Juden auf dem ganzen Erdball | |
| unwiderruflich auszurotten. | |
| ## Polnische Einflussnahme | |
| Bisher war durchaus bekannt, dass erste Überlegungen zur „Umsiedlung“, zur | |
| Vertreibung der Juden nach Madagaskar gar nicht von den | |
| Nationalsozialisten, sondern von polnischen Stellen angestellt wurden; dass | |
| aber prozionistische polnische Politiker zudem mit dem Gedanken spielten, | |
| im Nahen Osten, im damaligen Palästina Einfluss zu nehmen, hat so erst | |
| Snyder deutlich machen können. | |
| Er weist nicht nur nach, dass der heute die israelische Politik bestimmende | |
| rechte Zionismus von Beginn bis Netanjahu dem romantischen polnischen | |
| Nationalismus, einem nationalen Messianismus, nachgebildet war, sondern | |
| auch, dass es polnische Militärs waren, die vor dem September 1939 Tausende | |
| jüdischer Jugendlicher (para)militärisch schulten, um Palästina zu erobern, | |
| ein Territorium für die zu verpflanzenden polnischen Juden zu schaffen und | |
| so dem polnischen Staat in Konkurrenz zu Großbritannien in Nahost | |
| weltpolitischen Einfluss zu verschaffen. | |
| ## Mordhelfer fanden sich auch ohne Antisemitismus | |
| Snyder will weiterhin nachweisen, dass es jedenfalls nicht der jeweils | |
| lokale Antisemitismus sein konnte, der Menschen aus den vom Deutschen Reich | |
| eroberten europäischen ostmitteleuropäischen Staaten dazu motivierte, sich | |
| an der Ermordung der Juden zu beteiligen. Was aber dann? Snyder benennt vor | |
| allem zwei Faktoren: Es waren erstens die Abwesenheit von Staatlichkeit und | |
| zweitens der Kampf um Ressourcen des Überlebens ganzer Bevölkerungen, um | |
| Nahrungsmittel, die den Holocaust ermöglichten. Exekutoren von Morden aber | |
| fanden sich trivialerweise immer – seien sie nun Antisemiten gewesen oder | |
| nicht. | |
| Diese Sicht führt den Autor dazu, Adolf Hitler als staatsfeindlichen, | |
| anarchistischen Denker einer sozialdarwinistisch verstandenen | |
| Globalisierung ernst zu nehmen; als einen „Theoretiker“, dem schon früh der | |
| ganze Erdball zum Platz des gnadenlosen Kampfes um Ressourcen, vor allem um | |
| Nahrungsmittel wurde. Juden galten in dieser paranoiden Weltsicht als jene | |
| Größe, die das Überleben der germanischen Rasse bedrohten. | |
| Snyder belegt statistisch, dass vor allem jene Juden, die jeder | |
| Staatsangehörigkeit beraubt waren, ermordet wurden, während jene, die sogar | |
| im nationalsozialistisch beherrschten Europa (etwa in Frankreich) in | |
| irgendeiner Weise den Schutz ihres jeweiligen Staates genossen, deutlich | |
| größere Überlebenschancen hatten. Als Beispiel dienen ihm zudem Ungarn und | |
| das faschistische Italien. | |
| ## Deutung des Holocaust | |
| Mit diesen historischen Analysen sind die künftigen Gefahren für Snyder | |
| ebenso benannt wie die Bedingungen, unter denen sie vermieden werden | |
| können. Der Holocaust war kein Staatsverbrechen, sondern ein Verbrechen, | |
| das möglich wurde, weil Staatlichkeit systematisch zerstört wurde: Die | |
| neuere Genozidforschung etwa zu Ruanda belegt, dass genau dies nach 1945 | |
| immer wieder zutrifft. | |
| Damit bietet Snyder eine „rechtshegelianische“ Perspektive auf die Zukunft | |
| der Weltgesellschaft. Die absehbaren Konflikte um wahrscheinlich knapper | |
| werdende Ressourcen werden nur dann ohne völkermordähnliche Katastrophen | |
| ausgetragen werden können, wenn – um welchen Preis auch immer – die | |
| Weltgemeinschaft staatlich organisiert bleibt. Wenn überhaupt, dann können | |
| nur Staaten, d. h. Rechtssysteme, sogar wenn sie undemokratisch organisiert | |
| sind, Leib und Leben ihrer Bürger oder Untertanen schützen. | |
| ## Snyder provoziert – argumentiert aber auch | |
| Der Autor scheut sich am Ende seines Buches nicht, eine zumal in | |
| Deutschland vorherrschende Deutung des Holocaust zu kritisieren – die | |
| Perspektive der „Kritischen Theorie“. Horkheimer und Adorno – so Snyder | |
| wörtlich – „unterschieden (wie Hitler) nicht zwischen Wissenschaft und | |
| Technologie. Während Hitler die Juden zu Urhebern falscher Universalismen | |
| erklärte, die lediglich der Verschleierung jüdischer Weltherrschaft | |
| dienten, kritisieren Adorno und Horkheimer alle Universalismen generell als | |
| Herrschaftsinstrumente.“ | |
| Für beide, so Snyders Resümee, „sei die Ermordung der Juden nur ein | |
| Beispiel für die generelle Intoleranz gegenüber der Vielfalt gewesen, die | |
| notwendig zu dem Versuch gehörte, die instrumentelle Vernunft zum Leitfaden | |
| der Politik zu machen“. | |
| Snyders neues Buch stellt eine gewollte Provokation dar. Sie empört | |
| zurückzuweisen wird freilich angesichts der von ihm penibel aufgeführten | |
| Argumente und Belege nicht zureichen. Man wird sich auf ihn einlassen | |
| müssen. | |
| 16 Oct 2015 | |
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