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# taz.de -- Debatte sowjetische Restauration: Trostlose Aussichten für Russland
> Es ist falsch, in die historische Mottenkiste zu greifen und Putin zu
> Stalin zu erklären. Die Machtverhältnisse erzählen etwas ganz anderes.
Bild: Wiedergänger von Stalin? Nein.
Glaubt man den hiesigen Mainstream-Medien, erlebt Russland derzeit eine Art
sowjetische Restauration. Es geht expansiv, autoritär, dikatorisch wie
früher zu. Wladimir Putin ist demnach dabei, das Imperium
wiederzuerrichten. Die Krim war nur der Anfang. Als Nächstes wird die
Ostukraine heim ins Reich geholt, danach Moldawien. Und damit ist längst
nicht Schluss.
Der US-Historiker Timothy Snyder, der hierzulande als Experte gilt, ist
überzeugt, dass in Moskau Rechtsextreme wie Alexander Dugin die Richtung
vorgeben. Das offizielle Ziel der russischen Außenpolitik sei ein von
Moskau dominierter Raum von Wladiwostok bis Lissabon. Um dieses eurasische
Projekt zu verwirklichen, werde Russland zuerst die Ukraine an sich
fesseln, um danach, unterstützt von Rechtsextremisten in ganz Europa, die
EU zerstören.
Die Ukraine ist in diesem Bild Schauplatz eines beginnenden Endkampfes
zwischen dem demokratischen, aber wie immer leider naiven Westen und der
russischen Machtmaschine. Putin dürfen wir uns dabei, laut Snyder, als
Wiedergänger von Stalin vorstellen.
## Die Ratlosigkeit des Westens
Das klingt recht bekannt nach Kaltem Krieg. Bemerkenswert ist, dass der
US-Historiker sich mit diesem zuletzt in der FAZ veröffentlichen Alarmismus
keineswegs als gefragter Experte disqualifiziert. Im Gegenteil: Gerade die
schneidende Freund-Feind-Rhetorik, die harsche Teilung in Gut und Böse,
fällt auf fruchtbaren Boden.
Im Grunde überdecken diese martialischen Worte, die man ähnlich auch von
einigen Grünen und konservativen US-Politikern hört, die Ratlosigkeit des
Westens. Den Einsatz von Militär gegen die Atommacht Russland schließen in
den USA und Europa erfreulicherweise alle aus. Doch jenseits dieser
beruhigenden Einsicht hat der Westen keinen Plan, weder für die Ukraine
noch für Russland. Um auf Moskaus Kurs angemessen zu reagieren, wäre es
nützlich, das Mögliche zu probieren und Schädliches zu lassen.
Schaufensterpolitik, wie die Reise von US-Vizepräsident Biden nach Kiew
samt der Ankündigung, ein paar Hundert Soldaten nach Polen zu verlegen,
lösen die Krise ebenso wenig wie Dämonisierungen der russischen Regierung.
Sie sind eher Munition für propagandistisch ausgerichtete russische Medien,
die Moskau gern als bedrohtes Opfer des Westens inszenieren.
Zudem ist es nützlich, sich die Machtverhältnisse vor Augen zu führen. USA
und EU sind Russland in jeder Hinsicht überlegen: ökonomisch, militärisch,
bei der Effektivität von Regierung und Verwaltung. Freiheitsversprechen und
hedonistischer Individualismus, die schon das Sowjetreich zum Einsturz
brachten, sind nach wie vor die wirksamsten Exportartikel des Westens.
Deshalb ist es verquer, den Westen als hilf- und schutzloses Reh zu
fantasieren, das gleich vom bösen Wolf gefressen wird.
## Trüber Neonationalismus
Aber ist Russland nicht doch eine Bedrohung für Europa – wenn auch nicht so
hypertroph, wie es sich Snyder & Co ausmalen? Putin hat sich in der Tat von
der Annäherung an den Westen verabschiedet und setzt, ähnlich wie Viktor
Orbán in Ungarn, auf trüben Neonationalismus. Dieser dient dazu, von der
Misere im eigenen Land, dem schroffen sozialen Gefälle zwischen Oligarchen
und verarmter Mittelschicht und dem ineffektiven Staatswesen abzulenken.
Das Regime setzt zudem verstärkt auf Rohstoffexport und damit auf ein
Wirtschaftsmodell, das erst recht Nepotismus und Korruption befördert.
All dies eröffnet für die Zukunft Russlands trostlose Aussichten. Aber
Putins Regime unsympathisch und zukunftsvergessen zu finden kann nicht
bedeuten, Russlands legitime Sicherheitsinteressen zu missachten. Die Nato
ist nicht Amnesty International, sondern ein Machtbündnis, das immer näher
an die russischen Grenzen herangerückt ist. Es war aus Moskauer Sicht nicht
bloß paranoid, die EU-Assoziierung der Ukraine als Vorstufe einer EU- und
Nato-Mitgliedschaft zu verstehen. Deshalb ist es nötig, verbindlich zu
garantieren, dass die Ukraine nicht gegen Russlands Willen Nato-Mitglied
wird. Im Gegenzug könnte ausgehandelt werden, dass Moskau die Sicherheit
der Grenzen der Ukraine verbindlich garantiert.
Die Hardliner fordern, dass man, statt auch noch Zugeständnisse an Moskau
zu machen, besser zu Sanktionen griffe. Sanktionen sind aber kein
Allheilmittel. Sie wirken, wenn überhaupt, in Jahren oder Jahrzehnten.
Derzeit wandert, auch ohne Wirtschaftssanktion, Kapital in Milliardenhöhe
aus Russland ab, der Rubel fällt, die Wirtschaftsaussichten sind finster –
ohne dass dies das Regime sonderlich beeindrucken würde.
Die USA drängen die EU, schnell härtere Maßnahmen – die sogenannte dritte
Stufe – zu verhängen. Das wirkt erst mal entschieden, selbstbewusst und
prinzipienfest – ist aber kurzatmig. Denn was kommt nach der dritten Stufe?
Ganz dolle Schimpfkanonaden Richtung Putin? Noch ein paar hundert
Nato-Soldaten an der russischen Grenze?
## Feinde können sehr nützlich sein
Klüger, als vorschnell an der Sanktionsschraube zu drehen, ist Diplomatie.
Das wirkt zwar weniger markig, hat aber den Vorteil, irgendwann zum Ziel
führen zu können. Und das ist kurzfristig, die Lage in der Ukraine zu
befrieden und dort Bürgerkrieg und Sezession zu verhindern. Dazu muss der
Westen als Gegenleistung für Finanzhilfe Kiew drängen, die
Übergangsregierung für Repräsentanten der Ostukraine zu öffnen.
Anders als im Fall der Krim ist die Ostukraine nicht mehrheitlich russisch,
das Interesse Moskaus an einer Annexion gering. Kompromisse sind möglich –
wenn der Westen mehr auf give and take als auf Drohungen setzt. Langfristig
birgt ein sanktionsbewehrter kalter Frieden des Westens mit Russland zudem
die Gefahr, Moskau in Richtung Peking zu drängen. Eine chinesisch-russische
Allianz aber kann nicht im Interesse des Westens sein.
Der Dramatiker Heiner Müller hat nach 1989 bemerkt, dass es verletzend ist,
von seinen Feinden verlassen zu werden. Feinde können ja sehr nützlich
sein, um sich selbst zu verstehen. Es mag verlockend sein, alte Bilder aus
der Schublade zu holen. Von Selbstbewusstsein zeugt es nicht.
26 Apr 2014
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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