# taz.de -- Historikerstreit recycelt: Hellenische Übermenschen | |
> Egon Flaig fordert in einer Polemik gegen Habermas in der "FAZ" ein Recht | |
> auf "Normalität" für die Deutschen. Ihre Geschichte lässt er in Athen | |
> beginnen. | |
Bild: Wird derzeit von Egon Flaig angegriffen: Jürgen Habermas. | |
Der sogenannte "Historikerstreit" wird derzeit recycelt. Die Frage der | |
Interaktion zwischen dem industrialisierten Judenmord und der | |
stalinistischen Vernichtungspolitik wird der Sache nach anhand der eben auf | |
Deutsch erschienenen Studie "Bloodlands" des US-amerikanischen Historikers | |
Timothy Snyder noch einmal verhandelt. Mit Angriffen gegen Jürgen Habermas | |
sorgt der Rostocker Althistoriker Egon Flaig für die nationalistische | |
Begleitmusik. | |
Flaig hat wichtige Anstöße zur Frage der vernachlässigten Rolle islamischer | |
Gesellschaften am transatlantischen Sklavenhandel geliefert. Doch in einem | |
Beitrag für die FAZ vom 13. Juli folgt er Diskursstrategien, die er selbst | |
kritisiert: "Im massenmedialen Feld gilt das Gesetz, ein Maximum an | |
Aufmerksamkeit zu erringen." Flaig hält Habermas vor, Zitate gefälscht zu | |
haben, um denunziatorische Urteile zu fällen. Er langt unter dem | |
Deckmäntelchen der "Polemik" brutalstmöglich zu und befindet, "es hätte | |
keine Nachsicht" mit Habermas "geben dürfen". | |
Beim "Historikerstreit" ging es um zwei eng miteinander verbundene Fragen. | |
Erstens, ob und in welcher Hinsicht der nationalsozialistische | |
Antisemitismus, der noch die letzte jüdische Greisin aus Charlottenburg im | |
Baltikum ermorden ließ, moralisch einzigartig war. Zweitens, ob dies eine | |
nachvollziehbare Reaktion auf die Schrecken der Russischen Revolution | |
gewesen ist. | |
Die Frage nach dem Kausalnexus - das haben die Studie Snyders und die seit | |
Langem veröffentlichte Studie Omer Bartovs über die "Ostfront" ergeben - | |
kann so weit als geklärt gelten, als die wechselseitige Brutalisierung des | |
Krieges im Osten lediglich eine Bedingung dafür schuf, den Mord an den | |
Juden, der unabhängig davon geplant und gewollt wurde, zu exekutieren. | |
Die Gaskammern von Birkenau und Treblinka hatten ihre Wurzeln nicht in der | |
Angst vor den Bolschewiki. Sie waren Folge eines Sozialdarwinismus, der | |
sich vor dem Mord an den Juden an der Ermordung psychisch Kranker erprobte, | |
sowie des völkischen Antisemitismus, der bis ins neunzehnte Jahrhundert | |
zurückgeht. | |
## Pseudoreligiöse Sinnstiftung | |
Flaig protestiert gegen eine angebliche Erpressbarkeit der Deutschen in der | |
Völkergemeinschaft. Die Deutschen sollten ihr Recht auf "Normalität" | |
wahrnehmen dürfen und nicht durch die Verantwortung für zwölf Jahre | |
Nationalsozialismus stigmatisiert werden, fordert er. So will Flaig als | |
moralisches Recht einklagen, anderes als nur die Schoa für einzigartig zu | |
halten und damit gegen deren Sakralisierung angehen. Die Behauptung der | |
"Einzigartigkeit" der Schoa münde in pseudoreligiöse Sinnstiftung. Warum | |
das so sein muss, begründet er nicht. Dass derlei durchaus passiert, ist | |
nicht zu bestreiten. | |
Dort, wo Flaig geschichtsphilosophische Betrachtungen anstellt, erweist | |
sich die verdummende Wirkung des nationalen Ressentiments: So wärmt Flaig | |
jene Gymnasialideologie wieder auf, wonach "die Vergangenheit der Deutschen | |
als Teil der europäischen Kultur mindestens bis zur griechischen Klassik | |
zurückreicht". Welche "Deutschen"? Hermann der Cherusker? Die Ostgoten? | |
Otto der Große? | |
Der Weg der "Deutschen" in die Geschichte bedurfte eines langen Anlaufs. In | |
der griechischen Antike begann er sicher nicht. Hier beerbt Flaig Elemente | |
eines nationalsozialistischen "Dritten Humanismus", der die | |
Griechenlandsehnsucht der Weimarer Klassik missbrauchte, um die Hellenen | |
der klassischen Zeit zu arischen Übermenschen zu machen. Gewollt provokativ | |
- gegen den Stachel der "Political Correctness" zu löcken, macht sich in | |
der neurechten Szene immer gut - will Flaig die athenische Demokratie für | |
ebenso einzigartig wie die Schoa halten: "Sie ist nämlich für mich | |
bedeutsamer als die Schoa." Wenn damit mehr gemeint ist als eine | |
persönliche Vorliebe, ist diese Behauptung ungefähr so sinnvoll wie | |
diejenige, dass Frieden bedeutsamer als Krieg, Freiheit bedeutsamer als | |
Sklaverei sei. | |
Indem Flaig die Prädikate "besser" und "bedeutsamer" nicht | |
auseinanderhalten kann, offenbart er, was man früher als "Mangel an | |
Dialektik" bezeichnete. Insofern ist er der beste Beweis für das, was er so | |
wortreich beklagt: "Wir sind Zeugen geworden eines Kulturbruchs, nämlich | |
einer weitgehenden Negierung der Errungenschaften des Griechentums." | |
15 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
Micha Brumlik | |
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