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# taz.de -- Rückblick auf Historikerstreit: Habermas missverstehen
> Mathias Brodkorbs Rückblick auf den Historikerstreit vor 25 Jahren ist
> gründlich misslungen. Den Begiff "herrschaftsfreier Diskurs" hat er dabei
> küchenpsychologisch aufgeladen.
Bild: Prof. Dr. Jürgen Habermas auf dem SPD-Kulturforum 2007 in Berlin.
Jürgen Habermas entfesselte vor 25 Jahren den Historikerstreit, als er der
These Ernst Noltes entgegentrat, wonach "der Archipel Gulag ursprünglicher"
sei "als Auschwitz" und der "Rassenmord" der Nazis ursächlich mit dem
vorangegangenen "Klassenmord" im Namen von Leninismus und Stalinismus
zusammenhänge. Noltes These beruht entweder auf geschichtsphilosophischer
Spekulation wie sein Satz, "ohne Marxismus kein Faschismus" oder auf dem
Taschenspielertrick, mit dem das zeitlich Frühere pauschal als Ursache des
Späteren erklärt wird (post hoc propter hoc).
Mathias Brodkorb, ein sozialdemokratischer Landtagsabgeordneter, nahm das
runde Datum zum Anlass für einen Rückblick. Sein Sammelband "Singuläres
Auschwitz? Ernst Nolte, Jürgen Habermas und 25 Jahre Historikerstreit"
enthält zehn Beiträge von Journalisten und Historikern, darunter ein
Interview mit Ernst Nolte. Rund ein Drittel der 179 Seiten füllt der
Herausgeber selbst.
Jürgen Habermas verweigerte sowohl einen Beitrag zum Buch und ein Gespräch
mit Nolte wie auch ein Interview mit dem Herausgeber. Brodkorb lud Habermas
zur Mitarbeit ein mit dem Hinweis, es sei "endlich einmal Zeit für den
,herrschaftsfreien Diskurs der Intellektuellen'" und unterstellt Habermas
nach dessen Absage, er sei nicht nur "diskursunwillig", sondern obendrein
"vorrational, voraufklärerisch und damit auch vormodern". Brodkorb hat
Habermas entweder nicht gelesen oder nicht verstanden. Der Begriff
"herrschaftsfreier Diskurs" bezeichnet keine moralische Norm und schon gar
nicht einen "echten Dialog" (Brodkorb) - was immer das meint -, sondern
eine notwendige, idealisierende Voraussetzung kommunikativen Handelns.
Damit überhaupt ein Gespräch zustande kommen kann, müssen die Sprecher sich
gegenseitig bestimmte Geltungsansprüche (Verständlichkeit, Richtigkeit,
Wahrhaftigkeit, Wahrheit) zubilligen, notfalls auch kontrafaktisch: A
vermutet, dass B lügt, aber auch A muss unterstellen, zumindest B halte die
Lüge für wahr. Brodkorb lädt den Begriff "herrschaftsfreier Diskurs"
küchenpsychologisch auf und interpretiert die Weigerung Habermas als
"Charakterfrage", den Historikerstreit insgesamt als "Überreagieren" und
Gezänk im Sandkasten.
## Brodkorbs bodenlose Behauptung
Ferner meint Brodkorb, der Historikerstreit habe sich um die Frage gedreht,
ob Auschwitz ein singuläres Ereignis gewesen sei. Zwar benutzte Habermas
das Wort "Singularität", aber nur im metaphorischen Sinne, um die Bedeutung
der Judenvernichtung zu betonen und diese gegen trivialisierende Vergleiche
abzuschirmen. Brodkorb stellte die bodenlose Behauptung auf, es sei bis
heute "unzulässig, nicht nur den Holocaust mit anderen Genoziden zu
vergleichen, sondern hinsichtlich seiner regressiven Qualität mit diesen
gleichzusetzen".
Spätestens in der Debatte um das "Schwarzbuch des Kommunismus" (1997/98)
wurden solche Scheinprobleme geklärt: Ohne Vergleiche kommt kein Historiker
aus. Die Vermutung, mit dem Vergleich von Verbrechen relativiere man diese
automatisch, ist haltlos. Erstens setzt auch die These der Einzigartigkeit
einen Vergleich - zumindest stillschweigend - voraus, und zweitens führt
ein sachgerechter Vergleich nicht zur Gleichung rot gleich braun, wie sie
die Totalitarismustheorie einst vertrat.
Weder Nolte noch Habermas sind für das Singularitätsdogma verantwortlich.
Die These der Einzigartigkeit von Auschwitz ist eine Improvisation, die der
Politikwissenschaftler Dan Diner eine Zeit lang vertrat. Sie diente ihm zur
Einhegung des Jahrhundertverbrechens in einen quasi-sakralen Bereich, der
rationalem Denken und Vergleichen angeblich nicht zugänglich sei, ohne das
Verbrechen zu banalisieren. Der Rostocker Althistoriker Egon Flaig und
Brodkorb selbst polemisieren in dem Buch gegen die Improvisation des
Singularitätsdogmas, obwohl daran "in der Geschichtswissenschaft heute kein
ernsthafter Denker mehr festhält" (Wolfgang Wippermann).
Flaig schreibt das Dogma Habermas zu und bezichtigt diesen, ein
"Denkverbot" zu verhängen, "keine Ahnung" zu haben und "Lumpenjournalismus"
zu betreiben. Flaig argumentiert auf einem intellektuellen Niveau, das für
sich selbst spricht. Anders die Historiker Christian Meier und Heinrich
August Winkler: Sie machen in ihren Beiträgen im Buch klar, worum es im
Historikerstreit ging - um Geschichtspolitik. Aus der Sicht von Habermas um
die Zurückweisung des Versuchs von Nolte und anderen, die deutsche
Geschichte im Windschatten von Helmuth Kohls "moralisch-politischer Wende"
zu "normalisieren" und zu begradigen.
17 Aug 2011
## AUTOREN
Rudolf Walther
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