# taz.de -- Essay von Jürgen Habermas: Ein neues Narrativ wider die Skepsis | |
> Die EU auf dem Weg zum Weltparlament. Jürgen Habermas plädiert dafür, das | |
> Versprechen des europäischen Verfassungsprojekts wiederzubeleben. | |
Bild: Das EU-Parlament als Zwischenstufe? Habermas malt sich ein demokratisches… | |
Just zu dem Zeitpunkt, zu dem das Bundesverfassungsgericht die deutsche | |
Fünfprozentklausel für die Wahlen zum Europäischen Parlament für nichtig | |
erklärt hat, erscheint ein neuer Essay von Jürgen Habermas unter dem Titel | |
"Die Krise der Europäischen Union im Lichte einer Konstitutionalisierung | |
des Völkerrechts - Ein Essay zur Verfassung Europas". | |
Eingebettet in schon publizierte kürzere Stellungnahmen sowie einen | |
überarbeiteten Beitrag zum Zusammenhang von Menschenrechten und | |
Menschenwürde scheint dieser brandneue Essay von höchster, nein | |
allerhöchster Aktualität zu sein und offenbart doch nicht weniger als das | |
Auseinanderklaffen von Idee und Wirklichkeit. | |
In scharfer Polemik gegen den in der Krise entbundenen | |
"Exekutivföderalismus" von Merkel und Sarkozy und deren | |
"intergouvernementale Aushöhlung der Demokratie" will Habermas, der jetzt | |
die Theorie der "Postdemokratie" übernommen hat, nicht weniger präsentieren | |
als ein "neues überzeugendes Narrativ: | |
Die Europäische Union lässt sich "als entscheidender Schritt auf dem Weg zu | |
einer politisch verfassten Weltgesellschaft begreifen". Wen, so fragt man | |
sich, soll dieses Narrativ überzeugen: Fachkollegen, die Angehörigen der | |
politischen Klasse, das Feuilleton oder gar eine breitere Öffentlichkeit? | |
## Konkrete Utopie | |
Doch geht es nicht nur um aktuelle Politik, sondern auch um | |
Geschichtsphilosophie: Habermas weiß nicht nur, sondern betont es auch, | |
dass er mit diesem Essay an Immanuel Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" und | |
dessen Ideen zu einem "Weltbürgerrecht" anschließt. Eine mehr als | |
zweihundert Jahre alte Schrift, deren Grundgedanke, eine weltweite | |
Föderation von Republiken, noch lange nicht erreicht ist. | |
Das zielt auf nicht weniger denn auf eine materiale Geschichtsphilosophie | |
beziehungsweise auf eine - Habermas zitiert ihn - "konkrete Utopie" im | |
Geiste Ernst Blochs. Im Geiste der Aufklärung soll es heute darum gehen, | |
das geistige Hindernis "falscher politischer Begriffe" beiseitezuräumen und | |
damit das ursprüngliche Versprechen des "europäischen Verfassungsprojekts" | |
wiederzubeleben. Inhalt dieses Versprechens sei die "zivilisierende Kraft | |
demokratischer Verrechtlichung". | |
In der einem Essay angemessenen, eher beschworenen denn entfalteten | |
hegelmarxistischen Manier vermerkt Jürgen Habermas den Widerspruch zwischen | |
dem "systemischen Zusammenwachsen einer multikulturellen Weltgesellschaft" | |
hier und einer "anhaltenden politischen Fragmentierung in der Welt" dort. | |
Dabei ist er Realist genug, um zu erkennen, dass dieses Europa als | |
Zwischenstufe auf dem Weg zur politisch verfassten Weltgesellschaft weder | |
Staatenbund noch Bundesstaat sein kann, weshalb er dankbar höchst | |
umstrittene Überlegungen jüngerer Staatsrechtslehrer aufgreift, wonach es | |
wirksame Verfassungen auch ohne Staat geben kann. | |
## Bürger Europas | |
Die Annahme von wirksamen Verfassungen jenseits nationalstaatlicher Gewalt | |
aber zieht tiefgreifende Korrekturen am herkömmlichen Begriff der | |
Souveränität nach sich: So muss zwischen der Souveränität des | |
demokratischen Staatsvolks auf der einen Seite und der außenpolitischen | |
Handlungsvollmacht des Staats als eines internationalen Akteurs sorgfältig | |
unterschieden. | |
Motor einer politischen Vergemeinschaftung jenseits von Staatenbund und | |
Bundesstaat sei daher die europäische Rechtsentwicklung, wie sie in den | |
europäischen Übereinkünften bis zum Vertrag von Lissabon beschlossen worden | |
sind. | |
Mit diesem Hinweis will Habermas seine Leserschaft darauf aufmerksam | |
machen, dass zwischen ihnen und den Organen der Europäischen Union eine | |
unmittelbare Rechtsbeziehung besteht, womit eine vom Recht der | |
Mitgliedstaaten "unabhängige Rechtsebene" entstanden sei. | |
Die von ihm gewünschte Weiterentwicklung des europäischen Projekts setzt | |
dann aber voraus, dass alle politisch bewussten Bürger sich darüber klar | |
werden, sowohl Bürger Europas als auch ihres jeweiligen Nationalstaats zu | |
sein. Dabei soll es ihnen gelingen, beide unterschiedlichen - einander | |
eventuell widersprechenden - Rollen in sich und ihrem politischen Milieu zu | |
vereinen. | |
Diesem Test - so möchte der Rezensent anmerken - sollte sich ein jeder | |
gedankenexperimentell unterziehen: Welches genau sind meine Interessen als | |
Unionsbürger und wo widersprechen sie meinen Interessen als Bürger der | |
Bundesrepublik Deutschland, als Steuerzahler, Umweltfreund, | |
Menschenrechtsaktivist oder Wirtschaftsbürger? Welche Kompromisse oder | |
Übereinkünfte kann ich dabei mit mir schließen? | |
## Die Idee | |
An dieser Stelle ist ein Manko des von Habermas vorgelegten Programms zu | |
notieren: die völlige Abstraktion von allen wirklichen, materiellen Lagen | |
und Interessen der Bürgerinnen und Bürger von EU und Eurozone, die den von | |
ihm vorgeschlagenen Weg zur Weltgesellschaft mitgehen sollen. | |
Auffällig bei einem Autor, der noch vor knapp dreißig Jahren | |
"Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus" (1973) analysierte und seinen | |
Weg als Theoretiker immerhin mit einem Buch über "Erkenntnis und Interesse" | |
(1968) begonnen hat. | |
Wenn Habermas überhaupt an ein Interesse appelliert, dann an die in seiner | |
Generation noch nachwirkende Erinnerung an die erste Hälfte des 20. | |
Jahrhunderts. Es ist der Wunsch, die mörderische Gewalt eines | |
nationalstaatlich verfassten Europas unwiderruflich hinter sich zu lassen. | |
Wesentliches Ergebnis dieser Bändigung staatlicher Gewalt könnte | |
schließlich eine Weltgemeinschaft sein, die als politisch verfasste nur | |
zwei Aufgaben haben soll: Friedenssicherung und Wahrung der Menschenrechte. | |
Im Anschluss an die stets hinter seinen Überlegungen stehende | |
Friedensschrift Kants malt sich Habermas hier zwar keinen Weltstaat, wohl | |
aber ein aus zwei Kammern bestehendes, demokratisches Weltparlament aus, | |
das sich - aus direkten Vertretern wie aus Vertretern der einzelnen Staaten | |
gewählt - einzig den Aufgaben des Menschenrechtsschutzes beziehungsweise | |
des innerstaatlichen oder zwischenstaatlichen Friedens widmet. | |
Dass diese gedankliche Verfassung der Welt all das, was sie einmal | |
erreichen soll, auf ihrem Weg dahin schon als gegeben voraussetzen muss, | |
braucht die Philosophie nicht bekümmern. | |
## Die Wirklichkeit | |
Die Wirklichkeit sieht anders aus: Wer schon vermag sich demokratische | |
Wahlen zu einem Weltparlament auf einem Globus vorstellen, dessen | |
bevölkerungsreichste Staaten von Gruppen regiert werden, die genau das | |
nicht wollen? Ohnehin ist zu fragen, ob das fragile europäische Projekt | |
nicht damit überfrachtet wird, auch noch Zwischenstufe zu einer politischen | |
Weltgemeinschaft zu sein. | |
Es war Karl Marx, der in seiner 1844 erschienenen "Einleitung zur | |
Hegelschen Rechtsphilosophie" feststellte: "Es genügt nicht, dass der | |
Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum | |
Gedanken drängen." | |
Drängt die europäische Wirklichkeit von Euro, Ratingagenturen, dem | |
bankrotten Griechenland und dem gerade noch davongekommenen Italien zum | |
Habermasschen Gedanken? Stellt die zu Wintereinbruch ob der Kälte | |
bröckelnde Occupy-Wall-Street-Bewegung jene Macht dar, die die Verhältnisse | |
gegen den "Exekutivföderalismus" zum Tanzen bringt? | |
Jürgen Habermas ist mit dieser Schrift eine geschichtsphilosophische Wette | |
eingegangen. Man wird sehen! | |
17 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
Micha Brumlik | |
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