# taz.de -- Nachruf auf Yehuda Bauer: Gleichzeitig Israeli und Weltbürger | |
> Yehuda Bauer hat mehr als sein halbes Leben lang über den Holocaust | |
> geforscht. Beim Judenhass der islamistischen Hamas erkannte er Parallelen | |
> zur SS. | |
Bild: Yehuda Bauer hält einen Vortrag während einer Veranstaltung zum Interna… | |
„Nein.“ So kurz und bündig war Yehuda Bauers Antwort auf die Anfang dieses | |
Jahres von der taz gestellte Frage, ob die Menschen etwas aus den | |
Ereignissen in der NS-Zeit gelernt hätten. „Ich weiß es nicht“, antwortete | |
er auf die Frage, ob seine Arbeit als einer der bekanntesten Forscher über | |
den Holocaust etwas bewirkt hätte. Zum Lebensende hin war der israelische | |
Historiker von Skepsis geprägt, über sich, die Zukunft des Staates Israel, | |
die Zukunft der Welt. | |
Yehuda Bauer, der am vergangen Freitag im Alter von 98 Jahren verstorben | |
ist, zählte neben wenigen anderen wie [1][Saul Friedländer] zu der immer | |
kleiner werdenden Gruppe von Historikern, die den Holocaust noch selbst als | |
Zeitgenossen miterleben mussten. Trotzdem oder gerade deswegen wurde die | |
Erforschung dieses Menschheitsverbrechens zu seiner Berufung. | |
Yehuda Bauer hat Verwandte verloren, die in Europa von den Nazis ermordet | |
wurden. Auf die Frage, was ihn zur Arbeit motiviert habe, antwortete Bauer | |
kurz vor seinem 98. Geburtstag: „Die Antwort kommt von Sir Edmund Hilary, | |
als er gefragt wurde, warum er den Mount Everest bestieg; weil er da ist. | |
Weil die Schoah stattfand.“ | |
Ihm selbst gelang im allerletzten Moment die Flucht aus Europa. Yehuda | |
Bauer wurde 1926 als Martin Bauer in Prag geboren. Sein Vater, ein | |
Ingenieur, tendierte zur deutschen Sprache, die Mutter, die eine Werkstatt | |
für Damenmoden betrieb, bevorzugte das Tschechische. Fast zur Familie | |
gehörte das kommunistische Kindermädchen Katja. Der Vater war ein | |
engagierter Zionist und betrieb die Auswanderung der Familie nach | |
Palästina, aber sehr religiös ging es zu Hause nicht zu. | |
Yehuda Bauer konnte sich an keine antisemitischen Vorfälle in seiner Prager | |
Schule erinnern. Einmal, auf dem Wenzelsplatz, habe er tschechische | |
Faschisten erlebt, die „Juden raus!“ gebrüllt hätten. Vier jüdische Freu… | |
seien sie damals gewesen, sagte er vor einigen Jahren dem Westdeutschen | |
Rundfunk. Einer starb später an den Folgen der Nazi-Haft, einer emigrierte | |
nach Los Angeles, einer lebte später in London und er, Bauer, sei nach | |
Jerusalem gekommen. | |
## Er kannte Max Brod und Martin Buber | |
Es dauerte lange, bis die Familie die ersehnten Visa für das britisch | |
verwaltete Völkerbund-Mandatsgebiet Palästina erhielt. Ausgerechnet am 14. | |
März 1939 verließen die Bauers Prag, einen Tag vor dem Einmarsch deutscher | |
Truppen in die tschechoslowakische Hauptstadt. Es ging zunächst in Richtung | |
Polen. „An der Grenze waren schon SA-Männer, die in den Zug kamen. Aber die | |
wussten nicht, was sie mit uns anfangen sollen. Und so fuhren wir weiter | |
nach Polen, dann nach Rumänien und von dort nach Palästina“, sagte Bauer | |
2019 dem Deutschlandfunk. | |
Dort wurde aus Martin Yehuda. Die Familie lebte in der Küstenstadt Haifa. | |
In der Schule freundete sich Yehuda Bauer mit dem zwei Jahre älteren Sohn | |
des Schriftstellers Arnold Zweig an, der vor den Nazis nach Palästina | |
emigriert war, dort aber nicht glücklich wurde. Im Hause Bauer gaben sich | |
Intellektuelle von Max Brod bis [2][Martin Buber] die Klinke in die Hand. | |
Bauer freundete sich mit kommunistischen Ideen an, nahm davon später aber | |
wieder Abstand. „Ich kenne mich mit dem Marxismus sehr gut aus. Ich habe | |
all das Material von A bis Z gelesen. Es hat eine Zeit lang gedauert, da | |
wieder herauszukommen“, sagte er 2023. | |
„Ich habe den Holocaust nicht mitgemacht. Ich habe Fußball gespielt“, sagte | |
Bauer bei einer Veranstaltung in Berlin zu seiner Zeit in Haifa. Das | |
stimmte, und war doch nur zur Hälfte wahr. Schon damals, Mitte der 1940er | |
Jahre, war die Schoah das wichtigste Thema unter den Juden Palästinas – | |
neben dem Kampf für einen jüdischen Staat. Bauer war noch nicht 16 Jahre | |
alt, da wurde er Mitglied der zionistischen paramilitärischen Truppe | |
Haganah. Später ging er zum Eliteverband Palmach und lebte im Kibbuz | |
Schoval im Negev, wo er als Melker arbeitete. | |
## Als Soldat im Unabhängigkeitskrieg | |
Der Kibbuz gab Yehuda Bauer die Erlaubnis zum Studium der Geschichte und | |
Philosophie in Jerusalem – damals alles andere als eine | |
Selbstverständlichkeit. Dort beeindruckte der Student so sehr, dass er ein | |
Stipendium in Großbritannien erhielt. Bauer konzentrierte sich immer mehr | |
auf die jüngste Vergangenheit – den Holocaust und seine Ursachen. Im Jahr | |
1948 kehrte er nach Israel zurück und nahm als Soldat am | |
Unabhängigkeitskrieg teil. | |
Bauer zählte zu den ersten jüdischen Historikern, die nach dem Krieg in | |
deutschen Zeitschriften publizierten. Er wusste sehr wohl zwischen | |
Faschisten und Antifaschisten zu unterscheiden. „Meine Freunde in | |
Deutschland waren nicht die Nazis, sondern die Gegner der Nazis“, bemerkte | |
er dazu. 1998 hielt er die Hauptrede anlässlich des Holocaust-Gedenktags am | |
27. Januar im Bundestag. | |
„Das Fürchterlichste an der Schoah ist eben nicht, dass die Nazis | |
unmenschlich waren; das Fürchterlichste ist, dass sie menschlich waren – | |
wie Sie und ich. Wenn wir sagen, dass sie anders waren als wir und dass wir | |
in Ruhe schlafen können, weil wir keine Nazis sind, so ist das eine billige | |
Ausflucht“, sagte er dort. Schon damals antworte er auf die Frage, ob wir | |
etwas gelernt hätten, mit „ziemlich wenig“, verband dies aber mit einer | |
Hoffnung: „Die Hoffnung ist doch da – auch in dem traumatisierten Volk, zu | |
dem ich gehöre. Sie, meine Damen und Herren, wie auch Mitglieder anderer | |
demokratischer Parlamente, haben eine besondere Verantwortung – besonders | |
als Europäer, besonders als Deutsche.“ | |
## Einzigartigkeit des Holocaust | |
Als wichtigste Ursache für den Holocaust identifizierte Bauer den | |
Antisemitismus „als Hauptgrund, nicht als einziger Grund“. Einzigartig sei | |
der Massenmord an den Juden deshalb aber nicht, denn das würde bedeuteten, | |
dass sich ein solches Verbrechen nicht wiederholen könnte, argumentierte | |
er. Deshalb nannte er den Massenmord an den Juden „präzedenzlos“. | |
„Die Menschen sind die einzigen Säugetiere, die einander in riesigen Mengen | |
vernichten. Wir sind eine Bedrohung für uns selbst. Der Holocaust wird in | |
zunehmendem Maße das Symbol hierfür“, schrieb Bauer 2004. Es seien vor | |
allem zwei Dinge, die den Holocaust unter den Genoziden so einzigartig | |
machten. Zum einen sei dies der Wille der Nazis gewesen, sämtliche für sie | |
greifbare Jüdinnen und Juden zu ermorden. | |
Zum anderen beruhte dieser Massenmord auf einer „unpragmatischen Ideologie“ | |
– der Legende von der angestrebten jüdischen Weltherrschaft. Daraus folgt | |
für Bauer: „Der Holocaust ist ein Genozid unter vielen und zugleich ohne | |
Vorbild. Dies macht ihn universell, denn jede Gruppe von Opfern wird immer | |
singulär sein. Keine Gruppen können sicher sein, dass sie nicht die | |
nächsten Juden sein werden.“ | |
Den islamistisch motivierten Antisemitismus nannte Bauer eine Gefahr für | |
die Gesellschaft. „Die Hamas ist eine radikale islamistische und genozidale | |
Bewegung, mit der man nicht diskutieren kann. Die SS war etwas anderes, | |
obwohl gewisse Parallelen existieren“, sagte Bauer nach dem Pogrom vom 7. | |
Oktober der taz. Im Unterschied zur politischen Rechten, die mit der | |
Religion wenig zu tun habe, begründe sich der Judenhass der Islamisten „in | |
der fundamentalistischen Einstellung des radikalen Islam“. | |
## Neubewertung israelischer Politik | |
13 Bücher und unzählige Aufsätze hat Yehuda Bauer geschrieben, und die | |
Themen spannen sich von Verhandlungen mit NS-Vertretern zum Freikauf von | |
Juden bis zum islamistisch motivierten Antisemitismus. Seit 1960 lehrte er | |
als Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem, mit | |
Gastaufenthalten in den USA. Von 1996 bis 2000 fungierte er zudem als | |
Leiter des International Centre for Holocaust Studies bei der Gedenk- und | |
Forschungsstätte Yad Vashem. | |
Als israelischer Bürger unterstützte Yehuda Bauer eine | |
[3][Verhandlungslösung im Konflikt mit den Palästinensern]. Die Begründung | |
eines arabisch-palästinensischen Staates an der Seite von Israel nannte er | |
„die einzig mögliche Lösung, die auch im israelischen Interesse wäre“. E… | |
Neubewertung der israelischen Politik sei dringend notwendig, meinte er: | |
„Aber wir haben die dümmste Regierung, die man sich vorstellen kann, | |
geleitet von radikalen Politikern, die einen extremen Nationalismus | |
predigen. Fürchterlich.“ | |
Bauer, der gleichzeitig Israeli und Weltbürger war, der mit der deutschen | |
Sprache aufgewachsene Jude tschechischer Herkunft, der Friedensfreund und | |
Soldat im Unabhängigkeitskrieg, konnte sich aufregen. Vor allem aber war er | |
jenseits der Behandlung seines Lebensthemas ein überaus freundlicher | |
Mensch. | |
Mehr als 40 Jahre lang war Yehuda Bauer Kibbuz-Mitglied. Seine letzten | |
Jahre verbrachte er in einem Jerusalemer Altersheim, in Israel Elternheim | |
genannt, nicht weit entfernt von der Gedenkstätte Yad Vashem. | |
20 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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