| # taz.de -- Forscherin über Exil in Shanghai: „Für die wichtigen Auskünfte… | |
| > Die Hamburger Forscherin Sophie Fetthauer hat die Briefe der | |
| > Musikerfamilie Fruchter herausgegeben. Sie flohen 1941 vor dem NS-Regime | |
| > nach Shanghai. | |
| Bild: Umsichtige Briefschreiberin: Paula Fruchter um 1930 | |
| taz: Frau Fetthauer, warum flohen so viele Menschen vor den Nazis nach | |
| Shanghai? | |
| Sophie Fetthauer: Weil zugleich mit der Radikalisierung der Verfolgung und | |
| der Reichspogromnacht 1938 immer mehr Länder ihre Grenzen für jüdische | |
| Flüchtlinge aus Deutschland schlossen. Einzig in Shanghai gab es im Zuge | |
| der japanischen Besatzung von Anfang 1938 bis August 1939 weder | |
| Grenzkontrollen noch Visazwang, sodass gut 18.000 Jüdinnen und Juden | |
| dorthin fliehen konnten. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das „Deutsc… | |
| Reich“ 1938 war die jüdische Bevölkerung auch dort bedroht. Das Wiener | |
| Musikerehepaar Fruchter, dessen Briefe ich jetzt ediert habe, floh nach | |
| vergeblichen Versuchen, in die USA zu gelangen, im April 1941 mit der | |
| kleinen Tochter per Sondergenehmigung nach Shanghai. Das nötige Geld hatte | |
| ihnen eine wohlhabende Bekannte gegeben. | |
| taz: Wie verlief die Flucht? | |
| Fetthauer: Das ist ambivalent: Nachdem sie einmal bezahlt war, war die | |
| Reise durch die deutschen Behörden extrem gut organisiert. Denn damals | |
| waren die Grenzen noch offen. Man wollte, dass die jüdische Bevölkerung | |
| ausreist. Die Fruchters fuhren mit dem Zug von Wien über Berlin durch das | |
| von Deutschland besetzte Polen, dann mit der Intourist-Reisegesellschaft | |
| durch die Sowjetunion, durch Mandschukuo und weiter mit dem Schiff nach | |
| Shanghai. Es wirkte teils wie eine touristische Reise. Dabei gab es zu der | |
| Zeit bereits erste Deportationen, und der deutsche Angriff auf die | |
| Sowjetunion stand kurz bevor. Die Nervosität, die Grenzen unbeschadet zu | |
| passieren, muss enorm gewesen sein. | |
| taz: Klingt das in den Briefen an? | |
| Fetthauer: Nur bedingt. Die ersten der rund 70 meist von Paula Fruchter | |
| verfassten Briefe, die mir ihr Enkel gab, entstanden auf der Flucht. Da | |
| steht zwar auch, Warschau scheine „sehr beschädigt“, vor allem schwärmt | |
| Paula Fruchter aber ihrer in Wien gebliebenen Mutter von | |
| Landschaftseindrücken vor. Es sei eine „wunderbare Reise“, steht da einmal. | |
| Genau diese Kluft zwischen dem dramatischen Anlass und dem teils scheinbar | |
| leichten Ton macht diese Briefe so interessant. | |
| taz: Und wie realistisch schreibt Paula Fruchter über ihr Leben in | |
| Shanghai? | |
| Fetthauer: Zurückhaltend. Es geht um Alltägliches wie den Berufsalltag und | |
| Erziehungsprobleme. Aber die schwierigen Lebensumstände im Stadtteil | |
| Hongkou, wo sie wie die meisten jüdischen Flüchtlinge leben, erwähnt sie | |
| nicht. Die Situation im Ghetto Hongkou, das die japanischen Besatzer, | |
| Verbündete des Deutschen Reichs, dort 1943 errichten und brutal bewachen, | |
| beschreibt sie nur ansatzweise im Rückblick. Ebenso die Abhängigkeit von | |
| der jüdischen Gemeinde, weil sie aus dem Ghetto heraus ihren Berufen kaum | |
| noch nachgehen können. | |
| taz: Welche Berufe waren das? | |
| Fetthauer: Sie haben musiziert und unterrichtet wie viele andere | |
| Flüchtlinge. Der in Ungarn geborene Josef Fruchter, der sich in Wien von | |
| der jüdisch-orthodoxen Tradition seiner Herkunftsfamilie entfernt hatte und | |
| Sänger im Opernchor und in der israelitischen Kultusgemeinde geworden war, | |
| gab Gesangsunterricht, Solokonzerte, wurde Kantor der jüdischen Gemeinde | |
| und Professor am Konservatorium. Seine Frau Paula, eigentlich | |
| Sprechtherapeutin und Amateurpianistin, begleitete ihren Mann bei allen | |
| Konzerten, Proben und im Unterricht am Klavier. Gut bezahlt war all dies | |
| nicht. Trotzdem schrieb Paula ihrer Mutter stets, es gehe ihnen gut und die | |
| Tochter habe genug zu essen. | |
| taz: Warum dieses Verschweigen? | |
| Fetthauer: Aus einer Mischung aus Zensur und Selbstzensur: Einerseits | |
| wurden alle ins Deutsche Reich gehenden Briefe zensiert. Andererseits | |
| wollte sie ihre Mutter nicht beunruhigen. Für die wirklich wichtigen | |
| Auskünfte nutzte sie Codes: „Ist dieser oder jener gesund?“ bedeutete: „… | |
| er deportiert?“ Tatsächlich wurden ihre Schwester, ihr Schwager und der | |
| Lebensgefährte der Mutter ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Dieser | |
| Lebensgefährte überlebte nicht. Die anderen sahen einander nach dem Krieg, | |
| nach einem kurzen Aufenthalt der Fruchters in Israel, in Wien wieder. Die | |
| Tochter wollte nicht zurück und blieb in Israel. | |
| taz: Wie gehen Sie als Wissenschaftlerin mit solch verklausulierten Briefen | |
| um? | |
| Fetthauer: Genau das ist die Aufgabe – zu hinterfragen: Was schreibt sie, | |
| welche Intention mag dahinterstecken, was ergibt der Vergleich mit späteren | |
| Briefen? In einem 1949 auf dem Schiff von Shanghai nach Israel verfassten | |
| Brief heißt es: „Ich konnte darüber nicht schreiben, da die Zensur doch | |
| Stichproben machte“ – gemeint waren Wohnungseinbrüche, also die gefährlic… | |
| Lebenssituation. In diesem Fall war die chinesische Zensur gemeint, die | |
| negative Bemerkungen vielleicht geahndet hätte. | |
| taz: Sie haben diese Briefe jetzt publiziert. Warum sind solche Dokumente | |
| aus dem Shanghaier Exil so selten? | |
| Fetthauer: Weil die Briefe meist an Menschen gingen, die dann deportiert | |
| wurden. Wer an Verwandte in Berlin oder Wien schrieb, sah sie in der Regel | |
| nicht wieder. Und mit der Deportation gingen Wohnungseinrichtungen und auch | |
| Briefe verloren. Paula Fruchters Mutter – der jüdische Vater war 1924 | |
| verstorben – hat nur deshalb überlebt und die Briefe aufbewahren können, | |
| weil sie als Nichtjüdin nicht verfolgt war. | |
| taz: Verändern die Briefe der Fruchters den Blick auf das Shanghaier Exil? | |
| Fetthauer: Ja. Bislang hat man das Shanghaier Exil der NS-Zeit häufig aus | |
| der Perspektive der deutschsprachigen Exilpresse betrachtet. Sie legt den | |
| Blickwinkel fest: In Musikkritiken wird beschrieben, was wie gespielt | |
| wurde, aber nicht: Wer hat wann und wie privat Musikunterricht gegeben? | |
| Noch größer ist der blinde Fleck in Bezug auf Frauen: Natürlich kommt Paula | |
| Fruchter als Klavierbegleiterin gelegentlich in den Musikkritiken vor. Aber | |
| da sie nie einen eigenen Klavierabend gab, steht da oft nur: „Sie hat | |
| begleitet.“ Man erfährt nicht, was sie wirklich leistete. Ihre Briefe | |
| ändern den Blick vollkommen. | |
| taz: Inwiefern? | |
| Fetthauer: Plötzlich erfährt man: Paula Fruchter hat ihren Mann | |
| ununterbrochen begleitet – als Konzertsänger, aber auch bei seiner | |
| Vorbereitung als Kantor. Sie hat in seinen Gesangsunterricht ihre | |
| Fähigkeiten als Sprechtherapeutin und Klavierbegleiterin eingebracht. Und | |
| man begreift, welch wichtige Rolle diese Musikerin spielte. Denn ihr Mann | |
| hätte all dies ohne sie nicht leisten können. | |
| 24 Nov 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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