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# taz.de -- Brief einer KZ-Überlebenden: An der Erinnerung unheilbar erkrankt
> Bela Winkens überlebte als Kleinkind das KZ Theresienstadt. In einem
> Brief an ihre Mutter berichtet sie von Schmerz und Trauma in ihrem Leben.
Bild: Gerettet, adoptiert und als Jüdin offen angefeindet: Bela Winkens am 1. …
Immer wieder derselbe Traum, fünfzig Jahre lang. Ein Albtraum. Sie ist
wieder ein kleines, hilfloses Mädchen, jede Nacht. Als eines der jüngsten
von etwa 1.600 Kindern wurde Bela Winkens, geborene Heymann, im Mai 1945
aus dem KZ Theresienstadt befreit. Sie war vier Jahre alt. Fünfzig Jahre
später begann sie einen Brief an ihre Mutter, an die sie keine Erinnerung
mehr hat.
Um ihr Kind zu verstecken, hatte die Mutter sich von ihr getrennt, bevor
sie zwei Jahre alt war. Später wurde sie in Auschwitz ermordet, wie auch
Bela Winkens Vater. Auch ihre Großeltern sah das Mädchen nie wieder, sie
wurden 1942 in Theresienstadt ermordet.
Bela Winkens wurde zu entfernten Verwandten gebracht. Da es dort
langfristig für sie zu gefährlich wurde, brachte man sie [1][in ein anderes
Versteck]. Immer wieder kam sie an neue Orte, zu unbekannten Menschen, bis
ihre jüdische Identität aufgedeckt wurde. Mit drei Jahren und neun Monaten
wurde sie ins KZ Theresienstadt deportiert.
In dem Brief, der 1996 fertig wurde, sucht Bela Winkens nach Ausdruck für
das Trauma, das sie ein Leben lang begleitet. Sie berichtet ihrer Mutter
und der Nachwelt von den geweinten und den ungeweinten Tränen, vom Schmerz
über ihre frühesten Erinnerungen und über das Fehlen derer, an die sie
keine Erinnerung mehr hat. Sie erzählt ihre eigene lückenhafte Geschichte,
die bis heute nicht vollständig rekonstruiert ist. Dort, wo Erzählung dem
Schmerz nicht mehr gerecht werden kann, ist der Brief von Gedichten
unterbrochen.
„Ich selbst sitze auf meiner ‚Schatzkiste der Erinnerung‘, zu der ich
keinen Schlüssel habe, die ich gewaltsam öffnen muss, um an den Inhalt zu
kommen.“ – Ungreifbare Erinnerungen verschwimmen mit nachrecherchierten
Informationen über [2][Theresienstadt], dem Konzentrationslager und
Propagandaprojekt der Deutschen. Bela Winkens beschreibt, wie perfide die
Kulisse des „Musterghettos“ aufgebaut wurde, sobald sich internationale
Untersuchungskommissionen ankündigten. Perfide nicht, weil der Trug leicht
zu durchschauen gewesen wäre, wenn man gewollt hätte, sondern weil die
Deutschen nicht nur kaschierten, was im Konzentrationslager geschah – sie
machten es auch noch als Vorzeigestadt in der Welt bekannt.
Über ihre wiederkehrenden Albträume widmet sich Bela Winkens ihrem Trauma
und den halbbewussten frühkindlichen Erinnerungen. Informationen über ihre
Eltern, wie deren Lebensdaten, musste sie in deutschen Archiven in
Totenlisten ausfindig machen. Viele Fragen, zum Beispiel, wie genau es sich
abspielte, als sie von ihrer Mutter in Berlin getrennt wurde und zu
Verwandten ins Ruhrgebiet kam, werden wohl für immer unbeantwortet bleiben.
Es gab schon 1996 niemanden mehr, der ihr von ihrer Familie erzählen
konnte. Einige Zeit nach ihrer [3][Befreiung aus Theresienstadt] fand Bela
bei Adoptiveltern – dem Ehepaar Winkens – ein Zuhause in Düsseldorf. Ihre
neue Mutter, ebenfalls Jüdin, hatte den Krieg im Versteck überlebt.
In ihrem Brief schildert Bela Winkens die Qual der Ohnmacht, angesichts des
Desinteresses der Deutschen an ihrem eigenen Verbrechen. Sie beschreibt den
offenen Antisemitismus, dem sie als Kind und Jugendliche im
Nachkriegsdeutschland ausgesetzt war. Das Unbehagen, wenn sie nach der
Schule zu Freundinnen nach Hause ging, und an der Wand die hellen Flecken
der nach dem Krieg abgehängten Führerporträts an der Wand sah.
Ein Antrag auf Entschädigung für die Trennung von den leiblichen Eltern und
das darauffolgende Leben in der Illegalität, den die Adoptiveltern für Bela
stellten, wurde abgelehnt: Sie sei noch zu klein gewesen, um sich der
Gefahr, in der sie schwebte, und dem Verlust der Eltern bewusst gewesen zu
sein. Immer wieder brach jedoch in ihrer Kindheit das Trauma aus ihr
heraus. Eine psychologische Betreuung bekam sie nicht, es gab dafür kein
Angebot.
Mitte der Fünfzigerjahre spielte die jugendliche Bela Winkens in einem
Theaterstück des Regisseurs Erich Schönlank in Holland die Rolle der Anne
Frank. Nach dem Abitur schloss sie eine Schauspielausbildung in Berlin ab
und arbeitete danach als Schauspielerin in Düsseldorf. Später entwickelte
sie ein Soloprogramm mit dem Titel „Ich bin an der Erinnerung unheilbar
krank“. In den Achtzigerjahren wurde Bela Winkens zweimal von Neonazis
angegriffen.
Trotz der Schwierigkeiten, eine Form für den unüberwindbaren Schmerz zu
finden, die schon in der Anrede an die unbekannte Mutter beginnen – Mami,
Mame, Mutti?, es bleibt dann doch bei Mutter – fühlt sich Bela Winkens
verpflichtet, Zeugnis abzulegen.
Fünfzig Jahre nach ihrer Befreiung aus dem KZ hatten die nächtlichen
Albträume noch kein Ende gefunden. Dreißig Jahre nachdem Bela Winkens ihren
Brief begonnen hatte, sind auch ihre kritischen Beobachtungen über die
deutsche Gesellschaft noch aktuell.
18 May 2025
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## AUTOREN
Rosa Budde
## TAGS
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