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# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Ein existenzieller Prozess
> Neues zum Fall des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer: Er hat Verfahren
> gegen NS-Juristen eingestellt. Tragik oder der Wille zum Rechtsstaat?
Bild: Richter und Staatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968).
Es war eine unauffällige Mitteilung, die die taz am 26. 10. brachte.
Demnach habe Generalstaatsanwalt Fritz Bauer – er hat den Auschwitz-Prozess
in Gang gebracht – etwa 100 Ermittlungsverfahren gegen NS-Juristen
eingestellt. Dies geht auf einen Beitrag im Herbstbulletin des
Fritz-Bauer-Instituts zurück, in dem Georg D. Falk, ehemals Vorsitzender
Richter am OLG Frankfurt sowie Mitglied des Hessischen Staatsgerichtshofs
aus seinen Forschungen berichtet.
Demnach steht fest, dass Bauer die Verfolgung eines Mordes an einem
jüdischen Mädchen in Lemberg 1943 unbegründet eingestellt hat: „Die
fachlich verfehlte und aus heutiger Sicht“, so Falk „unverständliche
Einstellung setzt fort, was vorher massenhaft geschehen war.“
Ermittlungsverfahren im Zuge der „Blutrichterkampagne“ gegen beschuldigte
Juristen waren eingestellt worden.
„Auch in Hessen hatte der GStA (also Fritz Bauer, M. B.) Verfahren gegen
mehr als 100 an Todesurteilen beteiligte NS-Richter eingestellt.“ Falk
schreibt von „Tragik“ und stellt „gründliche Untersuchungen“ in Aussic…
um gleichwohl festzustellen, dass Fritz Bauer für studierende Juristen in
den Sechzigern „ein Leuchtfeuer“ gewesen sei. Lars Kraumes Film „Der Staat
gegen Fritz Bauer“ mag der Lösung dieses Rätsels näher sein als etwa die
Biografien von Irmtrud Wojak oder Ronen Steinke.
Ist Falk zuzustimmen, wenn er von „Tragik“ spricht? Gemäß der Dramentheor…
ist von Tragödie zu sprechen, wenn Helden, indem sie das Gute und Gerechte
anstreben, sich und andere ins Verderben stürzen – zum Beispiel Ödipus, der
die Stadt Theben rettete, um dann unwissend die eigene Mutter zu heiraten.
## Keine Angst vor Erpressung
Tragik in Frankfurt? Der zeitliche Ablauf erhellt die Angelegenheit: Bauers
Einstellungsverfügung im Mordfall Krüger datiert vom Februar 1964. Der
erste, von ihm in die Wege geleitete Auschwitz-Prozess begann bereits am
20. Dezember 1963. Drei Monate danach verzichtete Bauer auf eine
Strafverfolgung des Mörders. Somit lässt sich die Hypothese, Bauer habe aus
Angst vor Erpressung beziehungsweise aus Sorge darüber, den Prozess nicht
in Gang bringen zu können, auf die Strafverfolgung verzichtet, nicht
halten.
Vielmehr weist die Einstellung darauf hin, dass es ihm tatsächlich nicht
auf Sühne individueller Verbrechen ankam, sondern auf einen strikt
rechtsstaatlichen Schauprozess, der die (west-)deutsche Gesellschaft
aufklären sollte. „Gerichtstag halten über uns selbst“ – war Bauers Red…
wenn es um diesen Prozess ging. Bauer, der auch sonst als Justizreformer in
Erscheinung trat, dem es nicht um Sühne und damit auf „Übelzufügung“ ank…
sondern darauf, die jeweiligen gesellschaftlichen Mechanismen offenzulegen,
die zu kriminellen Handlungen führten, unterlag dann gerade keiner Tragik!
Lebensgeschichtliche Motive krimineller Handlungen Einzelner interessierten
ihn demnach nicht. Wenn dem so ist, war Fritz Bauer das, was Jahrzehnte
später der Organisationssoziologe Stefan Kühl wurde: jemand, der verstanden
hat, dass NS-Verbrechen von Normalbürgern im Rahmen ansonsten ganz normaler
Organisationen verübt wurden. Mehr noch: Bauer hätte demnach
vorweggenommen, was kürzlich der US-Historiker Timothy Snyder zur Debatte
gestellt hat: dass dort, wo staatliche – das heißt rechtsstaatliche –
Strukturen fehlen, brutaler Willkür Tür und Tor geöffnet sind.
Indes: „Der Staat gegen Fritz Bauer“ zeigt, dass Bauer und sein Leben
keineswegs nur Ausdruck einer sozialen Lage waren, sondern Ergebnis eines
vielfältigen, geradezu existenziellen Prozesses, der von Schuld und Scham,
von Angst, Furcht, dem Willen zur Umkehr und einem unbändigen Willen zu
Gerechtigkeit und Wahrheit gezeichnet war. Zu sehen ist, was die Forschung
inzwischen bestätigt, dass der Sozialdemokrat Bauer 1933 – anders als sein
Mithäftling Kurt Schumacher – ein Treuebekenntnis zugunsten des NS-Staates
abgegeben hat, um aus dem KZ freigelassen zu werden; eine Handlung, die ihn
bis zum Schluss quälte und ihm die Energie verlieh, nicht nur Eichmann zu
jagen, sondern auch den Auschwitz-Prozess in die Wege zu leiten.
Dann aber wäre sehr wohl von Tragik zu reden: Sie bestünde darin, dass
jemand, der wie nur wenig andere mit sich selbst gerungen hat, die
Individualität anderer nicht in den Blick nehmen wollte.
4 Nov 2015
## AUTOREN
Micha Brumlik
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Fritz Bauer
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