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# taz.de -- US-Filmemacherin Chloé Zhao: Mit dem Vorgefundenen erzählen
> Die Regisseurin Chloé Zhao ist mit „Nomadland“ für die Oscars nominiert.
> Auch ihr Debüt „Songs My Brothers Taught Me“ ist sehenswert.
Bild: Realitätsnah: Jashaun (Jashaun St. John) und Johnny (John Reddy) in �…
Wenn am 25. April die Oscars verliehen werden, wird der weltweit wichtigste
Filmpreis sehr anders aussehen als in den 92 Jahren zuvor. Das liegt nicht
nur an der pandemiebedingt eingedampften Zeremonie und dem Kinolockdown,
der den Streamingdiensten wohl einen Triumph über die klassischen
Hollywoodstudios bescheren wird. Es ist auch der diverseste Jahrgang in der
Geschichte, in allen wichtigen Kategorien finden sich People of Color, von
den fünf Nominierten für die beste Regie sind zwei Frauen, auch das ein
Rekord.
Eine von ihnen ist [1][Chloé Zhao, deren Roadmovie „Nomadland“] über
US-amerikanische Wanderarbeiter auch als haushoher Favorit für den
Hauptpreis gilt. Zu sehen ist er hierzulande bis auf Weiteres nicht,
ursprünglich sollte er pünktlich zur Verleihung starten, wird nun aber
wegen des verlängerten Lockdowns verschoben.
Die Filmemacherin der Stunde und neue große Regiehoffnung Hollywoods lässt
sich dennoch bereits jetzt entdecken, denn die Filmkunst-Plattform Mubi
zeigt ab morgen exklusiv Zhaos Spielfilmdebüt „Songs My Brothers Taught Me“
aus dem Jahr 2015. Es ist das melancholische Porträt eines indigenen
Jugendlichen in Pine Ridge, einem Reservat amerikanischer Ureinwohner in
South Dakota, der davon träumt, mit seiner Freundin in Los Angeles ein
neues Leben aufzubauen, aber Skrupel hat, seine kleine Schwester bei der
alkoholkranken Mutter zurückzulassen.
Gleich zu Beginn erklärt darin dieser Johnny (John Reddy), worauf es
ankommt, wenn man Wildpferde zureitet, ohne deren Geist zu brechen. Ein
Stück ihrer Rauheit soll erhalten bleiben, weil sie es brauchen, um „hier
draußen zu überleben“. Dieses Draußen ist der US-amerikanische Westen, wo
Chloé Zhao ihre bislang drei Spielfilme gedreht hat. Und dem sie sich, als
in Bejing geborene Einwanderin, auf ganz eigene Art nähert.
Die 38-Jährige dreht mit einer kleinen Crew, ihren Kameramann und
Lebensgefährten Joshua James Richards kennt sie seit der Filmhochschule.
Ein Großteil der Figuren ist mit Leuten besetzt, die aus dem Umfeld
stammen, in dem der Film spielt, und die meist bis dahin noch nie vor einer
Kamera gestanden hatten. Ihre chinesische Herkunft prägt ihren Blick auf
Amerika, sie schafft zugleich Neugier und Distanz, Zhao kann sich als
Außenstehende der indigenen Geschichte und Kultur des Landes ohne
kolonialistische Vorbelastung nähern.
## Marginalisierte Menschen
Als Stereotyp des armen Einwandererkinds taugt sie indes nicht. Ihr Vater
war zunächst in leitender Funktion bei einem der größten Stahlunternehmen
des Landes und verdiente später sein Geld mit Immobilien und
Kapitalbeteiligungen. Ihre Stiefmutter ist in China ein TV-Star. Zhao wuchs
mit westlicher Kultur auf, ab 14 ging sie in Großbritannien zur Schule,
2000 zog sie alleine nach Los Angeles, um dort die Highschool zu beenden.
Es muss ein Kulturschock gewesen sein. Was sie vorfand, hatte wenig mit dem
zu tun, was sie aus Filmen kannte. Sie will das wahre Amerika kennenlernen,
studiert zunächst Politik und zieht schließlich nach New York, um an der
NYU Regie zu lernen. Diese privilegierte Herkunft brachte ihr so manche
Kritik ein, gerade weil sie sich in ihren Filmen so dezidiert mit
marginalisierten Menschen auseinandersetzt. Ihr Prozess ist, zumindest in
ihren ersten drei Langfilmprojekten, dabei sehr ähnlich.
Sie verbringt lange Zeit in einer Community, taucht ein in eine ihr
unbekannte Kultur, versucht alles aufzusaugen und die Menschen
kennenzulernen. Bei „Songs My Brothers Taught Me“, den sie am Ende für
100.000 US-Dollar selbst finanzierte, dauerte es ein Jahr, bis die Bewohner
des Reservats Vertrauen fassten und Zhao langsam hinter die vorgefertigten
Narrative von Armut, Alkoholismus und historischen Traumata drang.
Gemeinsam mit ihnen entwickelte sie Figuren und Geschichten, die oft sehr
nah an den Lebensrealitäten der Darsteller sind. Es ist eine delikate
Gratwanderung, die Zhao macht, aber sie ist sich der Gefahr der
Objektivierung und Ausbeutung sehr bewusst. Und ihre Perspektive ist nie
wohlwollend von oben herab, sondern so weit möglich immersiv, von innen
heraus.
## Spontan reagieren
Sie arbeitet ohne klassisches Drehbuch, gibt dem Zufall Raum, oft schreibt
sie erst morgens neue Szenen für den Tag. Sie lässt die Wirklichkeit
einbrechen in ihre Filme, reagiert auf das, was um sie geschieht, auch sehr
spontan. Als das Haus der Familie von Jashaun St. John, die in „Songs …“
Johnnys Schwester spielt, abbrennt, bindet Zhao dieses Unglück mit
Zustimmung der Familie kurzerhand in die Handlung ein. Und fängt damit, als
Jashaun in der abgerannten Ruine nach Überresten ihres Hab und Guts sucht,
Momente von fast schmerzhafter Wahrhaftigkeit ein.
Die Grenzen zum Ausstellen von Leid sind da fließend, und sie gibt zu, den
Beteiligten oft viel abzuverlangen. Aber Zhao beteiligt die
Darsteller*innen auch an den Gewinneinnahmen des Films, weil ihr klar
ist, dass kaum jemand die Rolle als Visitenkarte zum Einstieg in eine
Filmkarriere braucht. Ihr Leben spielt sich weiter dort ab, wenn die
Kameras längst wieder eingepackt sind.
Für ihren zweiten Film kehrte Zhao nach Pine Ridge zurück, und [2][„The
Rider“] wirkt ebenso authentisch, auf eine Art sogar noch intimer als ihr
Debüt. Er handelt von einem Rodeoreiter, der bei einem Sturz eine schwere
Kopfverletzung erleidet und damit hadert, einen neuen Lebensinhalt zu
finden. Auch hier trägt der Protagonist nicht ohne Zufall den Vornamen des
Darstellers, Brady Jandreau, im realen Leben selbst Pferdetreiber.
Zhaos Charaktere sind keine Erfindungen, die auf dem Papier entstehen,
sondern fiktionalisierte Versionen von Vorgefundenem. Ihre Filme sind
deswegen jedoch keineswegs bloße Dokudramen, dazu sind sie bei aller
Beiläufigkeit und elliptischer Handlung zu exakt inszeniert und
geschnitten, evozieren mit ihren epischen Bildern und Topoi vielmehr
Erinnerungen an klassische Western und US-amerikanische Arbeiterdramen der
Rezessionszeit.
## Maschinenraum der Kinoindustrie
Mit „Nomadland“, in dem reale Wanderarbeiter und Schauspielprofis wie
Frances McDormand gemeinsam agieren, schließt Zhao nun eine Art Trilogie
über den oft übersehenen Teil Amerikas und ist mitten im Maschinenraum der
Kinoindustrie gelandet. Ihr nächster Film ist der bereits abgedrehte
Marvel-Superheldenfilm „The Eternals“, der Ende des Jahres ins Kino kommen
soll.
Gut möglich, dass der Sprung von Low-Budget-Indiefilmen zum
100-Millionen-Dollar-Blockbuster gar nicht so gewaltig ist, wenn sie sagt,
ihr gehe es vor allem darum, neue Welten zu erschaffen. Sie wird diesem
Nerd-Universum ihren Stempel aufdrücken, nicht zuletzt, weil sie als erste
asiatische Frau im Regiestuhl eines Comic-Franchise auch die bislang
diverseste Besetzung inszeniert, darunter Kumail Nanjiani, Salma Hayek und
Gemma Chan.
Geplant ist außerdem eine Dracula-Adaption, die ein „futuristischer
Sci-Fi-Western“ werden soll, angesiedelt am Rande der Gesellschaft.
Womöglich wirbelt Zhao also das Studiosystem Hollywood mehr durcheinander,
als die Strukturen und Begehrlichkeiten der Traumfabrik sie selbst
verändern.
Am Ende von „Songs My Brothers Taught Me“ kommt von Johnny, der nie viel
redet, noch einmal ein Satz, der eigentlich das Verhältnis der Indigenen zu
ihrem Land und dessen rauer Witterung beschreibt. „Wenn der Wind zu stark
weht, wissen wir, wie wir uns hineinlegen, damit er uns nicht wegbläst.“
Chloé Zhao scheint ihn verstanden zu haben.
8 Apr 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
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