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# taz.de -- Filmfestspiele in Venedig: Verlust als politische Geste
> Die 77. Filmfestspiele in Venedig haben gezeigt: Auch in der Pandemie ist
> ein internationales Filmfest möglich.
Bild: Frances McDormand im Preisträger-Film „Nomadland“ der Regisseurin Ch…
Bisher lief alles gut. Auf dem Lido sind am Sonnabend die 77.
Internationalen Filmfestspiele von Venedig zu Ende gegangen, ohne dass die
„Mostra“ als Corona-Infektionsherd in die Schlagzeilen geriet. Dass dieses
Festival, unter erschwerten Bedingungen wohlgemerkt, abgehalten werden
konnte, ist die eigentliche Sensation. Wenngleich diese das Schicksal
vieler guter Nachrichten teilt, weit weniger spektakulär zu sein als der
Katastrophenfall.
Den Veranstaltern muss man dazu unbedingt gratulieren. Völlig angemessen
zeigte sich der neue Präsident der Biennale von Venedig, Roberto Cicutto,
in seiner Rede während der Abschlusszeremonie denn auch stolz auf das
Erreichte. Dass viele der Künstler gar nicht angereist waren und
stattdessen ihren Dank in Videobotschaften formulierten, war eine der
weiteren Besonderheiten dieser 77. Ausgabe, die ihrer besonderen Umstände
wegen ohne Übertreibung als historisch bezeichnet werden kann.
Dieser Erfolg ist ebenso ein Verdienst der Festivalbesucher, die sich in
der großen Mehrheit an die strengen Regeln gehalten haben.
Selbstverständlich ist es keine Freude, den ganzen Tag mit Atemmaske
herumzulaufen, wie es nun in Venedig erforderlich war. Doch ohne diese
Einschränkung hätte es überhaupt keine Filmfestspiele gegeben. Ganz
nebenbei bekommt man so einen Eindruck davon, unter welchen Bedingungen
Krankenpfleger, Kellner oder Friseure derzeit arbeiten müssen. Ein Lob
daher auch an die Aufseher, die während der Vorführungen jeden Zuschauer
mit unvollständig angelegter Maske notfalls wiederholt aufforderten, sowohl
Mund als auch Nase zu bedecken.
Nimmt man mit Mund-Nase-Schutz die gesehenen Filme anders wahr? Lenkt der
Eigengeruch der Maske womöglich den Gesichtssinn ab? Das ist im Rückblick
schwer zu sagen. Im Verlauf der elf Tage war es eher so, dass man sich ein
wenig an diesen Zustand der kollektiven Teilvermummung gewöhnte. Und sich
mitunter wunderte, dass auf der Leinwand die Menschen weder Abstand
voneinander hielten noch die Atemwege vor den Blicken der anderen
verbargen.
## Abgeklärte Leere in der Geisterstadt
Was die Filme anbelangt, waren die 77. Filmfestspiele von Venedig vor allem
ein Festival der Frauen. Bei 8 von 18 Wettbewerbsfilmen hatte eine
Regisseurin das Sagen, und bei vielen dieser Filme bildeten starke
Frauenfiguren das Kraftzentrum der Geschichte. So auch im Siegerfilm, Chloé
Zhaos US-amerikanischem Beitrag „Nomadland“, der den Goldenen Löwen für d…
besten Film erhielt.
Frances McDormand spielt die Hauptfigur. Ihre Fern ist eine Frau in den
besten Jahren, selbst wenn es scheint, dass sie ihre besten Jahre schon
hinter sich hat. Ihr Blick drückt weniger das ungläubige Staunen aus, das
McDormand vielen ihrer Figuren verleiht, als vielmehr eine abgeklärte
Leere. Fern hat viel gesehen, ihr Mann ist gestorben, ihre Stadt, Empire in
Nevada, mutierte zur Geisterstadt, nachdem die Fabrik am Ort geschlossen
wurde. Die Einwohner wurden, bis auf eine Hand voll Personen, umgesiedelt.
Hierin folgt der Film dem wahren Schicksal der Stadt Empire.
Fern will jedoch nicht einfach an einen anderen Ort ziehen. Sie kauft einen
Transporter, baut ihn zum Wohnmobil um und geht on the road. Sie fährt
dorthin, wo es Arbeit gibt, bei Amazon etwa, oder in einem Naturreservat.
Zwischendurch reist sie zu einem Camp mit Gleichgesinnten, das geleitet
wird von Bob Wells. Diesen Mann gibt es wirklich, er spielt sich im Film
selbst, wie die meisten der anderen Leute, die Fern unterwegs trifft, Linda
May, ihre Arbeitskollegin beim Versandhandel zum Beispiel.
„Nomadland“, nach dem gleichnamigen Sachbuch von Jessica Bruder betitelt,
dokumentiert einen unterrepräsentierten Teil der USA, der wirtschaftlich
abgehängt ist, sich aber zu behelfen versucht, statt einfach Trump zu
wählen oder immer mehr Schulden aufzuhäufen. Es sind moderne Aussteiger.
Fern wird Teil von ihnen, knüpft neue Freundschaften, will allerdings
unabhängig bleiben. Ein neues Zuhause sucht sie nicht, seit ihr altes
abhanden gekommen ist.
## Ein verdienter Goldener Löwe
Viele der Aussteiger im Film haben wie Fern persönliche Verlusterfahrungen
gemacht. Sie sind in ihren alten Leben nicht mehr heimisch und zu Nomaden
geworden. „Nomadland“ ist so zunächst eine ruhige gehaltene, stille
Meditation über das Abschiednehmenmüssen im Leben, zugleich ist es eine
Allegorie auf die wirtschaftlich gebeutelten USA in der Folge der
Finanzkrise von 2008. Ein verdienter Goldener Löwe in einem allemal
soliden Jahrgang.
Zu den eigensinnigsten und begeisterndsten Filmen zählte dabei Chaitanya
Tamhanes indischer Wettbewerbsbeitrag „The Disciple“ über einen an seinen
hohen Zielen scheiternden Schüler klassischer indischer Musik. Dessen
nächtliche Motorradfahrten in Zeitlupe zu Raga-Drones waren eines der
schönsten und seltsamsten Bilder des Festivals. Desgleichen die Fahrten,
diesmal auf dem Motorroller, die Davud (Orkhan Iskandarli), die Hauptfigur
in Hilal Baydarovs aserbaidschanischem Wettbewerbsfilm „In Between Dying“
unternimmt. Baydarov verband dabei eine surreal anmutende Poesie in karger,
gern ungastlich matschiger Landschaft mit lakonischem Witz. Lediglich
Tamhane erhielt am Ende den Preis für das beste Drehbuch.
Der Große Preis der Jury ging dafür an „Nuevo Orden“ des mexikanischen
Regisseurs Michel Franco. Ob man diese Auszeichnung für zwingend hält,
hängt vermutlich davon ab, ob man den nicht allzu weit von der Realität
entfernten autoritären Schreckensstaat, den Michel Franco entwirft, in
seiner zynischen Konsequenz bewundert – oder ob man findet, dass es der
Aussichtslosigkeit nicht am Ende etwas zu viel ist. Darüber hinausführende
Ideen fehlten zumindest.
Mit dem Silbernen Löwen für die beste Regie, die der Japaner Kiyoshi
Kurosawa für seinen Film „Wife of a Spy“ erhielt, kann man Recht zufrieden
sein. Seine Geschichte aus dem Jahr 1940, in der erneut eine Frau, Satoko
(Yu Aoi), die Frau des Unternehmers Yutaka (Issey Takahashi), sich von der
Rolle als unbedarfte Hausfrau zu einer zivilen Kämpferin gegen den
Faschismus wandelt, ist konventionell, doch überzeugend stringent erzählt,
mit eleganten Einfällen wie einem Film im Film und einer Folterszene, in
der Kurosawa seine Herkunft aus dem Horrorgenre dezent in Erinnerung ruft.
## Kinosäle bis an die Kapazitätsgrenze voll – oder leer
Auch die Nebensektionen enttäuschten nicht. In der Reihe Orizzonti war mit
„Genus Pan“ von Lav Diaz die Arbeit eines altgedienten Filmemachers
vertreten, der etwa im Jahr 2016 im Wettbewerb von Venedig den Goldenen
Löwen für „The Woman Who Left“ erhalten hatte. „Genus Pan“, ein
schwarz-weißes Sittenbild der heutigen Philippinen, mit zwei Stunden und
vierzig Minuten für Diaz’ Verhältnisse sehr kurz und vom Erzähltempo her
fast „actionlastig“, war einer der herausragenden Filme dieses Jahrgangs.
Zu Recht bekam er den Preis für die beste Regie in der Sektion.
Nicht zuletzt bestätigte der Besucherandrang den Zuspruch für das Festival.
Fast immer waren die Kinosäle in diesem Jahr bis an die Kapazitätsgrenze
besucht. Was unter den aktuellen Bedingungen bedeutete: halb voll – oder
halb leer. Für die Kinobranche ist das auf mittlere Sicht zu wenig. Das
Zeichen, das in Venedig gesetzt wurde, sollte jedoch allen Betroffenen Mut
machen: Sie werden noch gebraucht, und es kann weitergehen. Wenngleich
nicht ganz wie vorher.
13 Sep 2020
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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