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# taz.de -- Regisseur Michel Franco über seinen Film „Sundown“: „Ich spi…
> Michel Franco hat einen Streifen über Kriminalität in Mexiko gedreht. Ein
> Gespräch über Gangster in Uniform und den einstigen Urlaubsort Acapulco.
Bild: Eine scheinbar gleichgültige Figur: Neil (Tim Roth) in „Sundown“
Ein Mann (Tim Roth) nutzt den Familienurlaub im Luxusressort in Acapulco,
um auszusteigen. Als die Nachricht eines Todesfalls Alice [1][(Charlotte
Gainsbourg)] und die Kinder zur Rückkehr nach England zwingt, gibt Neil
vor, seinen Pass nicht zu finden und bleibt allein zurück. Er will seine
Ruhe, raus aus allen Verpflichtungen. Oder steckt mehr dahinter? Der
[2][mexikanische Regisseur Michel Franco („New Order“)] inszeniert in
„Sundown“ ein ambivalentes Katz-und-Maus-Spiel mit einem Protagonisten, aus
dem man lange nicht schlau wird. Und zeigt zugleich Mexiko als
Klassengesellschaft, die angesichts der grassierenden Kriminalität
zunehmend abstumpft.
taz: Herr Franco, wie schon in Ihrem vorherigen Film „New Order“ geht es
auch in „Sundown“ um Gewalt, die in die scheinbar geschützte Welt der
Mittel- und Oberschicht einbricht. Ihr neuer Film ist dabei fast noch
verstörender, weil er zeigt, wie die Urlauber am Strand von Acapulco
scheinbar gleichgültig auf einen Mord reagieren …
Michel Franco: Das ist die Realität. Ich entschuldige das nicht, ich zeige
es nur. Nach der Schießerei, bei der die Badenden schnell zur Tagesordnung
übergehen und seelenruhig Tacos essen, laufen auf dem kleinen Bildschirm in
der Strandbar Aufnahmen des realen Ereignisses, das Vorlage für diese Szene
war.
Damals kamen die Killer auf Jetskis und eröffneten das Feuer. Die lokalen
Zeitungen nannten das Attentat später „James Bond Style“, als wäre die
Schießerei ein Spektakel und gar nicht real. Damals wurde der Tatort
tatsächlich nur ein paar Meter weit abgesperrt und die Touristen ließen
sich beim Sonnenbaden nicht weiter stören. Diese Gewalt ist alltäglich und
die Leute sind davon abgestumpft. Auch die Figur von Tim Roth reagiert
gleichgültig, hat aber ihre ganz eigenen Gründe.
Sie selbst sind in Mexico City aufgewachsen. Wie gut kannten Sie Acapulco?
In meiner Kindheit sind wir sicher sieben-, achtmal pro Jahr zum Baden
hingefahren, oft nur übers Wochenende. Bis Ende 20 war ich regelmäßig dort,
dann fing es an, gefährlich zu werden. Vor drei Jahren bin ich dann zum
ersten Mal seit Langem wieder hin und es war einerseits toll, aber dann
wurden wir im Auto von ein paar Polizisten mit Maschinengewehren angehalten
und ziemlich aggressiv angegangen, ohne Grund. Meine nichtmexikanische
Freundin wusste nicht, was zur Hölle passierte. Sie wollten Geld, es waren
Gangster in Uniform. Es ging zum Glück glimpflich aus.
Diese Gegend galt lange als Urlaubsparadies. Was hat sich verändert?
Der Caleta Beach, wo wir gedreht haben, ist das Acapulco, das man aus
Elvis-Presley-Filmen kennt. Der Tourismus dort ist ein Riesengeschäft,
nicht nachhaltig und hochgradig korrupt. Das Ausmaß an organisierter
Kriminalität und Gewalt, das seit Jahrzehnten das Land und die Gesellschaft
prägt, betraf früher vor allem den Norden Mexikos, das Grenzgebiet zu den
Vereinigten Staaten, jetzt ist es überall.
Und Acapulco gehört mittlerweile zu den gefährlichsten Orten in ganz
Südamerika. Täglich werden Dutzende Menschen ermordet, Frauen werden
vergewaltigt oder verschwinden ganz. Und wenn man es anzeigt, wird es meist
nur schlimmer, weil die Polizei selbst korrupt ist.
Wie sicher fühlten Sie sich bei den Dreharbeiten?
Wir wurden von den Behörden vor Ort unterstützt. Aber noch wichtiger war
der Support der Anwohner selbst, wir konnten viele von ihnen für den Film
gewinnen, als Komparsen und für kleinere Nebenrollen. Ich reiste vorab
mehrere Male dorthin und erklärte, was wir vorhaben. Ich fragte sie, ob sie
ein Problem damit haben, wenn ich ihren Strand so zeige, und sie meinten,
das sei harmlos verglichen mit der Realität.
Ihr Protagonist ist britischer Tourist. Hätte diese Geschichte auch mit
einer mexikanischen Oberschichtfamilie funktioniert?
Mir war wichtig, dass er die Sprache und die Codes nicht versteht, dass er
verloren ist in diesem Paradies. Er entscheidet sich, einfach dazubleiben
und am Strand Bier zu trinken und nichts zu tun. Der vermeintliche
Aussteigertraum. Er hat Gründe für sein Verhalten, er hat nichts mehr zu
verlieren. Ich spiele mit Erwartungen und Vorurteilen, wie wir Menschen
schnell in gut und böse einordnen, und überlasse es dann dem Publikum, sich
einen Reim auf ihn zu machen.
Wie haben Sie Ihrem Hauptdarsteller Tim Roth diesen doch sehr enigmatischen
Neil erklärt?
Bei unserer ersten Zusammenarbeit, „Chronic“ von 2015, hatte ich ihn noch
konkret gefragt, wie ich die Rolle für ihn umschreiben soll. Hier war es
anders, ich war so müde, deprimiert und verloren, dass diese Figur wie von
selbst entstand. Ich schrieb das Drehbuch in zwei Wochen, ohne zu wissen,
ob es etwas taugt.
Als ich es Tim schickte, sagte er sofort zu und hatte nur minimale
Anmerkungen. Anstrengend wurde es erst beim Dreh, weil er dann doch Fragen
hatte, viele Fragen, die ich ihm nicht alle beantworten konnte und die er
selbst für sich klären musste. Aber wenn ich jemanden wie Tim Roth besetze,
will ich ja gerade, dass er sein Ding macht, etwas von sich einbringt.
Warum steckten Sie damals in einer Krise?
Ach, aus persönlichen Gründen, die nicht so interessant sind. Ich hatte
einige schlechte Entscheidungen in meinem Privatleben getroffen und war
sehr unglücklich, eine massive Midlifekrise. Auch beruflich war ich
ausgebrannt, ich hatte fast fünf Jahre gekämpft, um „New Order“ drehen zu
können, und es war bis zum Schluss nicht klar, ob es gelingt. Alle rieten
mir dazu, aufzugeben, die Finanzierung, die Drehgenehmigungen auf den
Straßen von Mexico City, alles schien unmöglich. Ich war sehr
niedergeschlagen und in dem Zustand schrieb ich „Sundown“.
Die scheinbar gleichgültige Hauptfigur irritiert dabei ebenso wie der
Tonfall zwischen Familiendrama und Thriller …
Und Komödie! Wenn auch eine düstere. Der Film ist auf eine kaputte Art sehr
lustig. Die erste Fassung hatte ich intuitiv geschrieben, erst danach las
ich Camus’ „Der Fremde“ und Melvilles „Bartleby, der Schreiber“ und
erkannte darin einen ähnlichen Tonfall, tragikomisch und absurd. Früher
nahm ich alle möglichen Filme als Referenzen, um meine eigene Stimme zu
finden, war sehr radikal in meinem Stil.
Heute habe ich mehr Selbstvertrauen, Neues auszuprobieren und mich auf
meine Intuition zu verlassen. Auch mein Regelwerk ist nicht mehr so strikt
wie früher. Die Kamera muss nicht minutenlang in einer festen Einstellung
verharren, sie darf sich auch mal bewegen!
Sie haben „Sundown“ gedreht, während „New Order“ noch im Schnitt war.
Laufen Sie immer auf Hochtouren?
Ich kann es mir nicht anders vorstellen. Mir wurde schon öfter geraten, mal
eine Schaffenspause einzulegen. Wozu? Was soll ich in drei Monaten ohne
Arbeit tun? Zum einen muss ich meinen Lebensunterhalt verdienen. Ich drehe
ja keine Blockbuster, die irre Summen einspielen. Ich bekomme als Regisseur
keine Gage, weil ich meine Filme selbst produziere und mich nicht bezahle.
Ich weiß immer erst am Ende, ob noch Geld übrigbleibt. Und ich finde es
auch leichter, in Bewegung zu bleiben, Filmemachen ist eine Übungssache.
Man wird mit der Zeit besser, hoffe ich zumindest. Davon abgesehen muss ich
aber auch zugeben: Ich habe im Grunde kein Privatleben, bin nicht
verheiratet, habe keine Kinder. Ist das traurig? Vielleicht. Aber Filme
wurden mein Leben. Ich sehe es nicht als Opfer oder Verzicht, es ist, was
ich immer wollte, seit meiner Jugend.
Was wollen Sie mit Ihren Filmen erreichen?
Der erste Schritt zu einer Veränderung ist, Missstände anzusprechen und ein
Bewusstsein dafür zu schaffen. In Mexiko werde ich oft dafür angegriffen
und als Nestbeschmutzer beschimpft. Schon „New Order“ wurde in Mexiko zum
Skandal aufgebauscht, bevor er überhaupt zu sehen war, nur aufgrund des
Trailers. Viele Menschen wurden wütend, weil ich Seiten des Landes zeige,
die sie lieber verschweigen würden. Und weil sie eine „Botschaft“
vermissen. Ich bin nicht euer Lehrer! Aber vielleicht war die Kontroverse
am Ende sogar für etwas gut, weil eine Debatte in Gang kam. Und das
passiert mit „Sundown“ hoffentlich auch.
11 Jun 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
## TAGS
Mexiko
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