# taz.de -- Martin Scorseses neuer Film: Betrug an Indigenen | |
> Um eine Mordserie an indigenen Menschen dreht sich „Killers of the Flower | |
> Moon“ von Martin Scorsese. Es ist sein zehnter Film mit Robert De Niro. | |
Bild: Begehrte Bräute: Mollie Burkhart (Lily Gladstone, 2. v. l.) und ihre… | |
Man wundert sich: Wagt sich der Maestro des zeitgenössischen | |
US-amerikanischen Kinos in seinem Spätwerk also doch noch an das wohl | |
amerikanischste aller Filmgenres. Wirklich fremdes filmisches Terrain | |
betritt [1][Martin Scorsese] mit seinem neuen Werk allerdings nicht, wie | |
sich im Laufe der Spielzeit immer deutlicher zeigen wird, obgleich sich | |
„Killers of the Flower Moon“ zunächst als Western präsentiert. | |
Wenn auch in einer moderneren Spielart, die sich ungleich besser mit dem | |
Zeitgeist vereinen lässt als eine Glorifizierung von „Cowboys“ als Urtypus | |
des amerikanischen Helden und der Mythen um die „Eroberung“ des Wilden | |
Westens, die am Ende doch nur ein recht taktloser Euphemismus für die | |
Unterwerfung, Verdrängung, gar gezielte Ausrottung der indigenen | |
Bevölkerung des Landes ist. | |
Das Drehbuch, das Scorsese in Kooperation mit dem bewährten Drehbuchautor | |
Eric Roth („Dune“) verfasste, setzt sinnigerweise später ein: In den früh… | |
1920er Jahren ist den Ureinwohnern des Osage-Stammes nach der | |
voranschreitenden Landnahme durch die Weißen längst ein eigenes Reservat im | |
Staat Oklahoma zugewiesen worden. Ein karges Steppengebiet wohlgemerkt, das | |
die Regierung als ertragsarm und wertlos erachtete. | |
Doch wie Rodrigo Prietos Kamera ([2][„The Irishman“]) zu Beginn des Films | |
in einer vielsagend zwischen Euphorie und Elegie changierenden Einstellung | |
offenbart, verbarg sich unter der Erde sehr wohl ein enormes Vermögen: In | |
Zeitlupe springen junge Stammesmitglieder mit von Erstaunen verzerrten | |
Gesichtern durch eine schwarze Fontäne, die sich gerade unter ihren Füßen | |
auftat. | |
Die Osage hatten gewissermaßen Glück im Unglück, zumindest ehe daraus | |
erneut ein Unglück wurde: [3][Um die Jahrhundertwende wurde Erdöl auf dem | |
Land des Stammes entdeckt,] was das Volk per capita zum reichsten der Welt | |
machte. Obwohl das Setting zwischen staubigen Sandstraßen, riesigen | |
Rinderfarmen und sonnigen Südstaaten-Veranden an die weite Ödnis des | |
Western erinnert, scheinen die Verhältnisse in „Killers of the Flower Moon“ | |
also von Grund auf andere zu sein. | |
Denn wie Martin Scorsese und Eric Roth kurz darauf durch die nicht weniger | |
erstaunten Augen von Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio) aufzeigen, der | |
als kriegsverwundeter Veteran anreist, um bei seinem Onkel William Hale | |
(Robert De Niro) eine Arbeit zu finden, sind es die Weißen, die sich in der | |
Stadt um die Gunst der Osage – genauer: deren Geld – bemühen. Sie sind es | |
wiederum, denen auf offener Straße Dienstleistungen an- und Waren | |
feilgeboten werden. | |
Wo das Geld wohnt, ist die Gier bekanntlich nicht weit. Kaum auf dem | |
Achtung gebietenden Anwesen seines Onkels angekommen, weiht ihn dieser | |
schrittweise in das sinistre Stratagema ein, mit dem er den Besitz der | |
Osage in den der eigenen Familie überführen will. | |
## Auffällig hohe Sterblichkeit | |
Von der Kränklichkeit der Stammesmitglieder ist dabei zunächst die Rede, | |
von ihrer Unfähigkeit, ihre finanziellen Mittel sinnvoll zum Einsatz zu | |
bringen. Ja, dass sie regelrecht daran zugrunde gehen würden. Thelma | |
Schoonmaker, die seit über 40 Jahren immer wieder mit Scorsese | |
zusammenarbeitet, stellt in ihrem scharfsinnigen Schnitt den anrüchigen | |
Ausführungen von William Hale Bilder von bereits ums Leben gekommenen Osage | |
gegenüber. | |
Mal soll es schlechter „Moonshine“ gewesen sein, der sie ins Grab | |
beförderte. Mal eine Diabetes, die viele Ureinwohner entwickelten, weil | |
ihre Verdauung nicht an die gehaltvollen Speisen der Weißen gewöhnt ist. | |
Man müsse sich also nur durch eine Heirat an eine Osage binden, um eher | |
früher denn später an Landrechte und Reichtum zu gelangen, erläutert der | |
Onkel seinem von der Aussicht auf Wohlstand ganz fiebrig gewordenen Neffen. | |
Robert De Niros mit erstaunlicher Leichtigkeit zwischen gekünstelter Güte | |
und grauenerregender Kälte wechselnde Miene tut ihr Übriges: Auch weil De | |
Niro, der zum zehnten Mal in einem Film von Scorsese auftritt, mit feinem | |
Zwirn im Ohrensessel drapiert wie ein Mafia-Pate aus „GoodFellas“ wirkt, | |
ist auch ohne Kenntnisse der realen Vorlage schnell klar, dass dem frühen | |
Ableben tatkräftig nachgeholfen wird. | |
Für Ernest, der nicht nur aufgrund seiner körperlichen Einschränkungen, | |
sondern auch wegen seines einfachen Gemüts zu keinem anderen Einsatz taugt, | |
soll sich als Fahrer eine Möglichkeit auftun. Mit Mollie (Lily Gladstone), | |
ein Osage-Stammesmitglied, ist ein Einfallstor fix gefunden. | |
## Mollies Motive bleibt der Film schuldig | |
Eine Erklärung, weshalb sich die als überaus gescheit eingeführte junge | |
Frau zu einer Ehe mit dem einfältigen Ernest entscheidet, der mit Unterbiss | |
und Mittelscheitel obendrein keinen einnehmenden Eindruck hinterlässt, | |
bleibt der Film allerdings schuldig. Ebenso, wie Ernest die als aufrichtig | |
dargestellte Liebe zu ihr mit den bald beginnenden Gräueltaten gegen | |
Mitglieder ihres Stammes verbinden kann. | |
Wovon „Killers of the Flower Moon“ erzählt, ist frappierend: Basierend auf | |
den Recherchen von David Grann, die 2017 in Form eines gleichnamigen Buchs | |
erschienen sind, ein Bestseller in den USA, beleuchtet der Film mit den | |
„Osage-Morden“ ein besonders düsteres Kapitel im Umgang der Weißen mit der | |
indigenen Bevölkerung. Allerdings nahezu niemals aus deren Perspektive. | |
Man wundert sich, erneut: Scorsese inszeniert den historischen Stoff | |
zunehmend als eine giganteske Gangstergeschichte um Geld, Gier und Gewalt. | |
Und die wird, wie schon in „GoodFellas“, „Gangs of New York“ oder zulet… | |
„The Irishman“ vor allem aus Sicht derer erzählt, die wahlweise danach | |
trachten, sie in sich tragen oder sie ausüben und in Auftrag geben. | |
Wie in besagten Filmen, für deren Typus Martin Scorseses Schaffen in erster | |
Linie bekannt und beliebt ist, bedient auch „Killers of the Flower Moon“ | |
die gesamte Klaviatur der Gewalt – von Genickschüssen bis hin zu | |
riesengroßen Explosionen. Statt an einer Introspektion der Figuren zeigt | |
sich der Plot zuerst daran interessiert, das Publikum durch die | |
Abgebrühtheit des Systems zu erschüttern, in dem diese Gewalt geschieht, | |
und durch die Nüchternheit derer zu schockieren, die sie ausüben. | |
## William Hale's Show | |
Psychologische Tiefe bleibt dabei ebenso auf der Strecke wie jedwede | |
charakterliche Entwicklung. Wie in Mollie niemals der Verdacht wächst, dass | |
die Verantwortlichen für den Tod ihrer Schwestern, ihrer Mutter und über | |
ein Dutzend weiterer Stammesmitglieder aus ihrem angeheirateten | |
Familienkreis stammen könnten, bleibt so eine weitere Leerstelle. | |
Die exorbitante Spielzeit von beinahe dreieinhalb Stunden wird | |
hauptsächlich darauf verwendet, in aller Ausführlichkeit aufzuzeigen, wie | |
William Hale, der als Gönner des Reservats auftritt, seinen Neffen und eine | |
immer größere Schar an zwielichtigen Gestalten dafür benutzt, sich nach und | |
nach das Vermögen der Osage unter den Nagel zu reißen. | |
In diesem Punkt unterscheidet sich „Killers of the Flower Moon“ allerdings | |
auf ganz kritische Art und Weise von den Scorsese’schen Gangstersagas: Mit | |
aller Deutlichkeit arbeitet der Film heraus, dass die Morde an den Osage | |
nicht die Machenschaft einer einzelnen „Gang“ gewesen sind, sondern einer | |
ganzen Gesellschaft. | |
Als das noch junge FBI sträflich spät im Reservat ermittelt, wird das volle | |
Ausmaß ersichtlich, in dem sich etwa Ärzte, örtliche Ordnungshüter und | |
Bestatter an den Verbrechen beteiligten, sie vertuschten oder schlicht | |
wegsahen. Dass die anschließende Gerichtsverhandlung, in der Brendan Fraser | |
und John Lithgow sehenswerte Gastauftritte haben, einen enttäuschenden | |
Ausgang findet, kann angesichts der bis heute nur schleppenden Aufarbeitung | |
der Schreckenstaten an der indigenen Bevölkerung kaum überraschen. | |
Wodurch „Killers of the Flower Moon“ somit letztlich vor allem überzeugt, | |
sind mehr die ausführliche Archivarbeit, die Wahl eines wichtigen Themas | |
und exzellente schauspielerische Darbietungen denn eine Experimentierfreude | |
im Erzählen und echtes Erkenntnisinteresse. Spannend ist das allemal, | |
schließlich tut Martin Scorsese wieder genau das, worin er am besten ist. | |
Für den Stoff hätte es allerdings gedankenvollere und tiefgründigere Bühnen | |
als die gegeben, die der Maestro in einer großen Geste am Ende sogar selbst | |
betritt. | |
Man kann sich darüber freuen, dass es derartig episches Kino, das nicht | |
zuletzt durch enorme Schauwerte überzeugt, überhaupt noch gibt. Oder aber | |
man wundert sich ein weiteres, ein letztes Mal: Darüber, dass Martin | |
Scorsese, der seiner Abneigung gegenüber Streamingdiensten schon mehrmals | |
Luft machte, das dafür notwendige Budget von 200 Millionen Dollar, nachdem | |
er bereits für „The Irishman“ mit Netflix zusammenarbeitete, erneut von | |
einem solchen, diesmal von AppleTV+, erhielt. | |
17 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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