| # taz.de -- Das Buch Alice: Der geraubte Bestseller | |
| > „So kocht man in Wien!“ – Karina Urbach hat die Geschichte des arisiert… | |
| > Kochbuchs ihrer Großmutter erforscht. Lenkt der Reinhardt-Verlag nun | |
| > endlich ein? | |
| Bild: Karina Urbach forscht in Princeton und hat eine beeindruckende Familiench… | |
| Alice Urbach stammte aus einer angesehenen und wohlhabenden Wiener Familie. | |
| 1886 als Alice Mayer geboren, erlebte sie den Untergang der | |
| österreichischen Doppelmonarchie. Ihr Vater Sigmund Mayer lieferte sich vor | |
| dem Ersten Weltkrieg (1914–18) Rededuelle mit dem Antisemiten Karl Lueger, | |
| Wiens Bürgermeister von 1897 bis 1910. Mayer verfasste auch Schriften zu | |
| seiner Biografie („Ein jüdischer Kaufmann 1831–1911“) und zur | |
| Sozialgeschichte („Die Wiener Juden 1700–1900). | |
| Früh interessierte sich seine Tochter Alice für das Kochen, was dem | |
| bildungshungrigen Vater missfiel. Kochen galt als niedere Beschäftigung für | |
| Hausangestellte. Er verheiratete die Tochter mit dem Wiener Arzt Maximilian | |
| Urbach. Einem, wie sich allerdings herausstellen sollte, der Trunk- und | |
| Spielsucht verfallenen Mann. Urbach brachte Alice’ stattliche Mitgift | |
| durch, starb und ließ seine Frau als Witwe mit den zwei jungen Söhnen Otto | |
| und Karl 1920 zurück. | |
| Auch Vater Sigmund war inzwischen gestorben, das Vermögen der Familie | |
| dahingeschmolzen. Alice musste arbeiten gehen. | |
| Mit Hilfe ihrer Halbschwester Sidonie Rosenberg (ermordet 1942 im | |
| Vernichtungslager Treblinka) gelang es Alice in den 1920er Jahren, eine | |
| Kochschule in Wien zu etablieren. Zusammen gaben sie 1925 ein erstes | |
| Kochbuch heraus. Es war die Zeit des Aufbruchs in Wien, wie es schien, der | |
| Befreiung vom paternalistischen Stände- und Klassenregime der | |
| Habsburger-Monarchie. | |
| Frauen wie Alice besuchten die bislang den Männern vorbehaltenen | |
| Kaffehäuser. Bürgerliche Damen forcierten eine neue Salonkultur mit | |
| Bridge-Abenden, zu denen „Bridge-Bissen“ gereicht wurden. Salziges | |
| Fingerfood oder süße Petite Fours. | |
| Beliefert wurden diese Gesellschaften häufig von Alice Urbach. Die | |
| kommunikativ begabte und an Essens-, Haushalts- und Modereformen | |
| interessierte Frau war Wiens Caterer der ersten Stunde. Sie annoncierte in | |
| der Neuen Freien Presse – „Nachmittagskurse der modernen Kochkurse von Frau | |
| Alice Urbach, IV Goldeggasse 7 (neue moderne Räume) für Vorspeisen, | |
| Konditorei und aparte Fleischspeisen“. | |
| Und sie hielt Vorträge mit Titeln wie „Die Schnellküche der berufstätigen | |
| Frau“ oder „Das Girl am Herd“. | |
| ## Modern und feministisch | |
| Sie war eine bekannte Wiener Persönlichkeit, als 1935 ihr Kochbuch „So | |
| kocht man in Wien!“ erschien. 500 Seiten stark, glatte moderne Schrift auf | |
| dem Einband. Es verkaufte sich in Zehntausender-Schritten sehr gut. Von | |
| „Alice Urbach: So kocht man in Wien!“ erschienen bis 1938 drei Ausgaben im | |
| Ernst Reinhardt Verlag aus München. | |
| Das Buch war ein Bestseller, ein kulinarisches Kompendium des | |
| multinationalen Wiens – moderner Haushaltsführung verpflichtet, | |
| feministisch angehaucht. | |
| Doch was mit Alice und ihrem Kochbuch ab 1938 passierte, legt ihre Enkelin | |
| Karina Urbach in der ungewöhnlichen Familien- und Kriminalgeschichte „Das | |
| Buch Alice“ dar. Die Lektüre ihres Buches bietet ein Lehrstück in Sachen | |
| Niedertracht, Antisemitismus, Habgier und Gewissenlosigkeit bis in unsere | |
| heutige Zeit – es ist aber auch ein Dokument des Widerstands und der | |
| beharrlichen Verweigerung, sich dem Unrecht zu beugen. | |
| Und eine wahnsinnig spannend aufgeschriebene Lektüre. Mit Quellen | |
| gesättigt, ohne dass diese den Lesefluss in irgendeiner Form erschweren | |
| würden. | |
| ## Bekannte Historikerin | |
| Alice’ Enkelin Karina Urbach ist eine prominente Historikerin, die in | |
| Princeton forscht und in London lehrt. Als Wissenschaftlerin [1][förderte | |
| sie im Streit mit den Hohenzollern um deren Vermögen] immer wieder Quellen | |
| zu Tage, [2][die eindeutig belegen, wie antisemitisch, antidemokratisch | |
| und] profaschistisch [3][die deutsche Kaiserfamilie nach 1918] eingetellt | |
| war. Dass sie sich mit „Das Buch Alice“ nun der eigenen Familiengeschichte | |
| annahm, hat sie, wie sie sagt, große Überwindung gekostet. | |
| Ihr Mut, sich der persönlichen Familiengeschichte zu stellen, hat sich | |
| gelohnt. „Das Buch Alice“, im Einband dem Kochbuch ihrer Großmutter | |
| nachempfunden, repräsentiert in herausragender Weise moderne | |
| Geschichtsschreibung. Es verschränkt allgemeine Zeitereignisse mit | |
| konkreten Biografien und kann so komplexe Geschichte prägnant und spannend | |
| auffächern. | |
| Von der Machtübernahme durch die Nazis im März 1938 in Österreich war die | |
| Familie Karina Urbachs in Wien unmittelbar betroffen. Die Mayers, die | |
| Urbachs und die Rosenbergs waren jüdische Österreicher. [4][Antisemitische | |
| Ausschreitungen, Plünderungen, Misshandlungen setzten in der „Ostmark“ | |
| unmittelbar mit dem 12. März 1938] in großen Maßstab ein. Auch Alice Urbach | |
| war davon betroffen. | |
| ## Aus Urbach wird Rösch | |
| Karina Urbach zitiert aus einer Festschrift des Reinhardt-Verlags von 1974 | |
| den damaligen Verlagschef Hermann Jungk: „Nach dem Anschluss Österreichs | |
| sah ich mich genötigt, für das Kochbuch einen neuen Verfasser zu suchen, da | |
| Alice Urbach Jüdin war und das Kochbuch sonst nicht mehr hätte vertrieben | |
| werden können.“ Eine „Nötigung“, die nicht schwerfiel. | |
| Man reinigte „Alice Urbach: So kocht man in Wien!“ von international und | |
| feministisch klingenden Stellen. Und als angeblicher Verfassser firmierte | |
| fortan ein gewisser Rudolf Rösch, „langjähriger Küchenmeister und | |
| Mitarbeiter des Reichsnährstandes“. Unter dem Namen Rösch wurde es auch | |
| nach 1945 weiter fleißig verkauft. | |
| Wer dieser „Rösch“ sein soll, blieb bis heute unklar. Auf Nachfragen | |
| mauerte der Verlag in der Vergangenheit. Schriftsätze seien im | |
| Verlagsarchiv verschwunden, so hieß es. Gerüchte wurden gestreut. | |
| Karina Urbach beschreibt auch, wie es anderen jüdischen Autoren des Verlags | |
| erging. Etwa Paul Wessel. Er hat laut Karina Urbach für den Verlag | |
| „Reinhardts naturwissenschaftliche Kompendien“ entworfen. Sie waren ein | |
| Vorläufer der zumindest bis in die vordigitale Zeit bei Studierenden so | |
| beliebten roten UTB Universitäts-Taschenbuchreihe. | |
| Wessel wurde als Herausgeber und Verfasser ab 1938 von Viola Riederer von | |
| Paar „beerbt“. Nach 1945 machte sich der Verlag in Anekdoten über den | |
| inzwischen verstorbenen „Bittsteller“ Wessel lustig. | |
| ## Flucht nach England | |
| Alice Urbach gelang es mit Hilfe ihres bereits emigrierten Sohnes Otto, im | |
| November 1938 aus Nazi-Österreich heraus zu kommen und nach England zu | |
| flüchten. Ihrem jüngeren Sohn Karl wurde am Tag nach der Reichsprogromnacht | |
| im November 1938 von SA und Gestapo in Wien eine Falle gestellt. | |
| Er wurde von den Sadisten brutal gefoltert und ins KZ Dachau verschleppt. | |
| Doch er war jung, unbekannt – und überlebte. Nach der Freilassung gelang | |
| ihm 1939 mit Hilfe seines Bruders Otto sowie amerikanischer Freunde die | |
| Ausreise über Holland in die USA. Die drei Wiener Schwestern von Alice | |
| sowie andere Familienmitglieder hatten dieses Glück nicht. | |
| Alice Urbach schlug sich in England zunächst als Hausangestellte und Köchin | |
| durch. Dann leitete sie in Newcastle und später im Lake District zusammen | |
| mit Paula Sieber ein Heim für unbegleitete jüdische Flüchtlingskinder. Die | |
| Kinder wussten damals noch nicht, dass sie fast alle Waisen sein würden. | |
| Auch Zeitzeugen-Interviews mit noch Lebenden der „Kinder von Windermere“ | |
| fließen in Urbachs Erzählung um das Kochbuch ihrer Großmutter ein und | |
| tragen zu dem bewegenden Gesamtbild der Geschichte bei. | |
| Allein in Wien wollten Hunderttausende von den Plünderungen, Morden und | |
| Arisierungen profitieren. Karina Urbach beziffert die Zahl in Wien 1938/39 | |
| arisierter Wohnungen auf 45.000. | |
| ## Und weiter kocht „Rösch“ | |
| Als Alice 1949 ihrer Heimatstadt einen Besuch abstattete, entdeckte sie ihr | |
| Kochbuch in einem Buchladen wieder. „Rudolf Rösch: So kocht man in Wien!“ | |
| Ihre Versuche, in der Folge beim Reinhardt-Verlag ihr Autoren- und | |
| Urheberrecht geltend zu machen, blieben erfolglos. | |
| Auf der Flucht hatte sie die Autorenverträge verloren. Geld für einen | |
| Anwalt hatte sie nicht. Und angesichts von allein 1,5 Millionen Kindern, | |
| die im Holocaust starben, schien ihr der Verlust ihres Kochbuchs zu | |
| unbedeutend. Doch noch im hohen Alter sprach sie in einer Sendung des | |
| US-Fernsehens davon, wie viel ihr ihr geklautes Kochbuch bedeutet. | |
| Nun wenige Tage nach Erscheinen von Karina Urbachs „Das Buch Alice“ hat | |
| sich der Reinhardt-Verlag doch zu einer Stellungnahme durchgerungen. Dem | |
| Spiegel gegenüber bezeichnet er das „damalige Verhalten des Verlages heute | |
| als moralisch nicht vertretbar“. | |
| Werden dem Bedauern auch Taten folgen? Etwa die Neu-Edition von „Alice | |
| Urbach: So kocht man in Wien!“? Es wäre ein überfälliges Zeichen von Reue | |
| derer, die von den Arisierungen stillschweigend profitierten. Eine | |
| sichtbare Anerkennung für eine Frau, der in Österreich alles genommen wurde | |
| und die sich in der Emigration selbstlos engagierte. Deren älterer Sohn | |
| Otto [5][für die Befreiung vom Faschismus kämpfte und nach 1945 bei] | |
| Entnazifizierung und Demokratisierung mithalf. | |
| Letzeres ein Kapitel aus der Familiengeschichte, das aber erst noch | |
| geschrieben werden muss. | |
| 10 Oct 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
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