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# taz.de -- Drei Bücher zum Anschluss Österreichs: Was zusammenkam
> Vor 80 Jahren empfingen die Österreicher Hitler mit frenetischem Jubel.
> Der Mob war wie auf Knopfdruck entfesselt, sein erstes Opfer: die Juden.
Bild: Hitler in Wien, jubelnde Menge – vieles ist bekannt und doch überrasch…
In Wien wird viel gedacht in diesen Tagen. Am 11. März wurde eine Zeituhr
auf das Bundeskanzleramt projiziert, die 24 Stunden lang jeden Moment der
NS-Machtergreifung in Österreich sichtbar machte. Um 19:30 am 11. März
verabschiedete sich Kanzler Kurt Schuschnigg „mit einem deutschen Wort und
einem Herzenswunsch: Gott schütze Österreich!“ in einer Radioansprache. Er
sollte die folgenden sieben Jahre in verschiedenen Gefängnissen und
Konzentrationslagern verbringen.
Unzählige runde Jahrestage und Gedenktage später sollte man meinen, dass
alles gesagt und jedes Detail der Ereignisse im März 1938 erforscht und
beschrieben ist. Dennoch überraschen Historiker immer wieder mit neuen
Erkenntnissen. So hat Gerhard Botz in der überarbeiteten und erweiterten
Neuauflage seines Standardwerks „Nationalsozialismus in Wien“ etwa
Bildanalysen zu neu aufgetauchten Fotos von Demütigungsritualen geliefert.
Der Wiener Historiker Kurt Bauer macht in „Die dunklen Jahre“ die
Geschichte von 1938 anhand von Tagebüchern, Briefen und Autobiografien
lebendig. Der deutsche Schriftsteller Manfred Flügge greift in „Stadt ohne
Seele“ die neuere Forschung auf, dass Hitler nicht in Wien zum Antisemiten
geworden sei, sondern seine Dramatik [1][bei unzähligen Wagner-Opern]
studiert hätte. Der Judenhass sei erst ab 1919 beim Abdriften ins rechte
Lager dazugekommen und auf die Spitze getrieben worden.
Seit Österreich sich nicht mehr nur als Opfer Hitlers darstellt, sondern
auch zu seiner Täterrolle bekennt, wird darüber diskutiert, ob der
sogenannte Anschluss zu verhindern gewesen wäre. Als im Morgengrauen des
12. März die ersten Panzer der Wehrmacht bei Passau über eine Grenze
rollten, waren die Grenzbalken von eilfertigen österreichischen Beamten
bereits entfernt worden. Dass den deutschen Soldaten überall frenetischer
Jubel entgegenschlug, dürfte auch diese überrascht haben. Hitler hatte den
Befehl gegeben, allfälligen Widerstand rücksichtslos niederzuschlagen.
Dafür gab es keinerlei Anlass. Schuschnigg hatte das Bundesheer in die
Kasernen beordert. „Er wollte kein Blutvergießen“, sagt Manfred Flügge. �…
ist auch nicht ins Ausland gegangen, um eine Exilregierung zu bilden. Das
lag jenseits seines Denkens.“
## Der Ständestaat war eine katholische Diktatur
Schuschnigg war nach der Begegnung mit Hitler am Obersalzberg in
Berchtesgaden am 12. Februar bereits demoralisiert. Der Reichskanzler hatte
ihm mit sofortigem Einmarsch gedroht, wenn nicht sämtliche seiner
Bedingungen erfüllt würden. Darunter die Freilassung aller inhaftierten
illegalen Nationalsozialisten und die Einsetzung von Arthur Seyß-Inquart
als Minister für Inneres und Sicherheit. Der war zwar zu dem Zeitpunkt noch
kein NSDAP-Mitglied, galt aber als Krypto-Nazi, wie der Historiker Kurt
Bauer schreibt.
Vor allem Hermann Göring, beauftragt mit der Erstellung eines
Vierjahresplans der militärischen Aufrüstung, drängte auf eine rasche
Einverleibung Österreichs in das Deutsche Reich. Neben den Goldreserven der
Nationalbank, den Erzvorkommen und Industriekapazitäten in der Steiermark
sowie weiteren Bodenschätzen wie Erdöl und Blei waren es auch die Legionen
an arbeitslosen Facharbeitern, die für die Kriegsvorbereitungen interessant
schienen. Der Grazer Historiker Stefan Karner schätzt, dass durch den
Anschluss Österreichs die Aufrüstung um ein halbes Jahr vorangebracht
wurde.
Der christlich-soziale Ständestaat war eine katholische Diktatur. Nach dem
Bürgerkrieg vom Februar 1934 und der Ausschaltung des Parlaments im März
war die Sozialdemokratische Partei wie alle anderen Parteien verboten. Zu
spät erkannte Schuschnigg, dass er einen Schulterschluss mit dem
politischen Gegner brauchte, um Hitlers Plänen trotzen zu können. So suchte
er – auf Drängen ausgerechnet von Otto von Habsburg – Kontakte zu roten
Gewerkschaftern, um auszuloten, ob er den Klassenfeind als Verbündeten für
eine Volksabstimmung gewinnen könnte. Friedrich Hillegeist sagte die
Unterstützung der Sozialdemokraten zu, wenn sie denn wieder legal auftreten
dürften. Der Pakt war logisch, obwohl die Sozialdemokraten die
Christlichsozialen zutiefst hassen gelernt hatten.
„Sie wussten, Hitler wird sie nicht schonen“, sagt Manfred Flügge: „Sie
haben ja gesehen, was mit den deutschen Genossen geschehen war. In
Deutschland waren die Sozialisten und Kommunisten die ersten Opfer. In Wien
waren es die Juden.“ In einer streng vertraulichen Sitzung schlug
Schuschnigg als letzten Ausweg eine Volksbefragung für den 13. März vor.
Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass die Protokollführerin das
Staatsgeheimnis an den deutschen Militärattaché in Wien ausplaudern würde.
Das hat die Ereignisse beschleunigt. Die Volksabstimmung, die binnen
weniger als einer Woche stattfinden sollte, war äußerst improvisiert.
Manfred Flügge: „Weder die Durchführung noch die Finanzierung oder die
Stimmzettel waren vorbereitet.“
## Unaufhaltsamer Umsturz
Während Otto von Stein, der deutsche Geschäftsträger in Wien, vergeblich
bei Bundespräsident Wilhelm Miklas intervenierte, die Volksabstimmung
abzublasen, tobte in den Straßen der Wahlkampf in Form von Sprechchören von
Nazis und Anhängern der Vaterländischen Front. Die Nazis hatten die Parole
„Die Volksabstimmung ist ein Schwindel! Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“
ausgegeben und riefen zum Boykott des Plebiszits auf. Schuschnigg gab
schließlich dem Druck aus Berlin nach und sagte die Volksabstimmung ab, um
den drohenden Einmarsch abzuwenden. Als Göring sich damit nicht
zufriedengeben wollte und seinen Rücktritt forderte, knickte der Kanzler
nach und nach ein.
Dass der Umsturz unaufhaltsam war, noch bevor der erste deutsche Soldat
einen Fuß auf österreichischen Boden gesetzt hatte, wurde allen Wienern
klar, die nach Schuschniggs Abschiedsrede auf die Straßen gingen. Der
Historiker Gerhard Botz zitiert den englischen Journalisten George E. R.
Gedye: „Es war ein unheimlicher Hexensabbat – Sturmtruppleute, von denen
viele kaum der Schulbank erwachsen waren, marschierten mit umgeschnallten
Patronengürteln und Karabinern, als einziges Zeichen ihrer Autorität die
Hakenkreuzbinde auf dem Ärmel, neben den Überläufern aus den Reihen der
Polizei.“
Vor dem Rathaus, das Bürgermeister Richard Schmitz mit 100 Mann der
Rathauswache verteidigen wollte, erschien der erste Vizebürgermeister Fritz
Lahr mit SA-Leuten und verlangte das Hissen der Hakenkreuzfahne. Schmitz
wurde unter Hausarrest gesetzt und wenige Tage später bis zum Ende des
Krieges im KZ Dachau weggesperrt. Als Hitler am 15. März auf dem
Heldenplatz seine berühmte Rede hielt, in der er den „Anschluss meiner
Heimat an das Deutsche Reich“ verkündete, war der Rathausplatz bereits in
Adolf-Hitler-Platz umgetauft. In den Straßen erschallten Sprechchöre mit
„Sieg Heil!“, „Schuschnigg an den Galgen!“ und „Juda verrecke!“.
In den folgenden Tagen war der Mob vollends entfesselt: Hausmeister oder
Nachbarn denunzierten Menschen, die jüdisch aussahen, die man dann zwang,
die Parolen des Schuschnigg-Regimes und die Kruckenkreuze des Ständestaats
wegzuwaschen. „Reibpartien“ nannte man das zynisch. Menschen begannen, ihre
jüdischen Nachbarn aus der Wohnung zu werfen oder deren Wertgegenstände zu
plündern.
Nach Gerhard Botz handelte es sich um einen „dreifachen Weg zur
Machtübernahme im März 1938“. Nämlich durch die halblegalen einheimischen
Nazis aus dem Inneren heraus; durch eine militärische und polizeiliche
Intervention der Wehrmacht von außen und durch eine „eruptive Formen
annehmende Erhebung der österreichischen Nationalsozialisten und deren
Mitläufer von unten“.
## Hohe politische Unterwanderung
Gerhard Botz ist zwar überzeugt, dass die NSDAP in Österreich über Wahlen
nie an die Macht gekommen wäre. Doch der Grad der politischen
Unterwanderung war enorm und wird schon durch die Tatsache illustriert,
dass die Polizisten gleich nach der Schuschnigg-Rede ihre Hakenkreuzbinden
aus der Tasche zogen und über den Arm streiften. Insgesamt schätzt man die
politische Unterwanderung der Institutionen auf 20 Prozent. In der
Nationalbank wusste man sogar von 40 Prozent, die illegal für die Nazis
arbeiteten. Die Massenekstase, so Botz, die Hitlers Triumphzug entfachte,
habe dann den Umschwung gebracht. Die 18 Kamerateams, die Hitler
begleiteten, verstanden es, jubelnde Massen ins Bild zu rücken. Von der
anderen Seite kündet dann die Selbstmordstatistik, die in den ersten Wochen
gewaltig nach oben ausschlägt.
Wie wichtig die ständige historische Aufarbeitung jener Zeit für die
Gegenwart ist, zeigt die jüngste Umfrage, wonach sich 43 Prozent in
Österreich einen starken Mann an der Spitze wünschen. Dass das
menschenverachtende Gedankengut noch immer brodelt, belegen die
hasserfüllten Reaktionen auf Vizekanzler Heinz-Christian Straches (FPÖ)
Gedenkworte für die Opfer des Nationalsozialismus. Die Facebook-Seite des
Mannes, der sich in seiner Jugend mit Neonazis herumtrieb, wurde Schauplatz
eines braunen Shitstorms.
25 Mar 2018
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## AUTOREN
Ralf Leonhard
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