# taz.de -- Umweltministerin über EU-Klimaziel: „Wir brauchen 55 Prozent“ | |
> Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft setzt Svenja Schulze nicht | |
> auf neue nationale Ziele. Stattdessen will sie EU-weite Vorgaben | |
> verschärfen. | |
Bild: Will sich eher am Machbaren als am Notwendigen orientieren: Svenja Schulz… | |
taz: Frau Schulze, nach zwei Jahren Verhandlungen gibt es jetzt eine | |
[1][Einigung über den Kohleausstieg]. Aber ist der Kompromiss nicht schon | |
wieder überholt? Die Unternehmen bekommen viel Geld, auch wenn ihre | |
Kraftwerke kaum noch etwas verdienen – und 2038 ist für unsere Klimaziele | |
viel zu spät – sowohl fürs Klima als auch für das neue EU-Ziel. | |
Svenja Schulze: Das sehe ich wirklich anders. Ich bin sehr froh, dass wir | |
endlich ein Ergebnis haben. Und unser Pfad ist flexibel, um etwas zu | |
ändern, wenn wir ein europäisches Klimagesetz bekommen. | |
Deutschland wird sein Klimaziel 2020 durch die Coronakrise | |
[2][wahrscheinlich erreichen]. Aber wie soll es weitergehen mit der | |
CO2-Reduktion? Wir wollen ja nicht jedes Jahr ein neues Virus haben. | |
Nein, auf keinen Fall. Wirtschaftskrise ist keine Klimapolitik. Mit dem | |
Klimapaket der Bundesregierung kommen wir in Deutschland nach unseren | |
Berechnungen ja schon sehr nah an die 55-Prozent-Reduzierung bis 2030. | |
Jetzt haben wir noch ein weiteres Paket aufgelegt im Rahmen der | |
Konjunkturhilfen, da kommen wir dem Ziel noch näher. Wir haben viel zu tun, | |
etwa im Verkehr passiert noch zu wenig, aber da haben wir ja auch ein | |
großes Paket gepackt: mehr Investitionen in den öffentlichen Verkehr, mehr | |
Ladesäulen, noch stärkeren Anreiz für E-Fahrzeuge. | |
Das deutsche Ziel bleibt also bei minus 55 Prozent gegenüber 1990 bis 2030? | |
Deutschland muss doch für die versprochene Klimaneutralität deutlich mehr | |
machen. | |
Es geht jetzt darum, dass die Europäische Union insgesamt mehr macht. Wir | |
übernehmen diese Woche die EU-Ratspräsidentschaft, und deshalb habe ich mit | |
all meinen Kolleginnen und Kollegen in den 27 EU-Ländern in bilateralen | |
Videoschalten darüber geredet, was wir wie beim Klima erreichen können. | |
Unsere Ziele sind klar: Wir müssen als EU bei der UNO bis Ende 2020 einen | |
neuen Klimaplan mit einem neuen Klimaschutzziel, dem sogenannten NDC, | |
anmelden, und wir brauchen noch 2020 ein EU-Klimaschutzgesetz. Allen ist | |
klar: Das ist eine Herkules-Aufgabe, auch weil uns Corona bisher gebremst | |
hat und wir eigentlich nur gut zwei Monate Zeit haben zwischen der | |
Folgenabschätzung der EU-Kommission Ende September und dem NDC-Beschluss im | |
Dezember. | |
Wie begeistert waren denn Ihre Kolleginnen und Kollegen, gerade in Ländern, | |
die eher bremsen wie Polen und Tschechien? | |
Allen ist bewusst, wie schwierig das wird. Wir wollen nach jetzigem Stand | |
bis 2030, also in vierzig Jahren seit 1990, insgesamt 40 Prozent der | |
Emissionen reduzieren. Wenn wir bis 2050 auf null runterwollen, und das | |
wollen wir, hieße das: In lediglich zwanzig Jahren müssten wir die | |
restlichen 60 Prozent schaffen. Ein so plötzliches Anziehen des Tempos | |
hätte große Risiken wirtschaftlicher und sozialer Brüche. Das will ich | |
vermeiden. Deshalb müssen wir jetzt mehr machen und 50 bis 55 Prozent bis | |
2030 als neues Ziel festlegen, wie es die EU-Kommission vorgeschlagen und | |
auch die Bundeskanzlerin befürwortet hat. Für einige Länder ist es noch | |
schwer, sich das vorzustellen. | |
Dabei müssten die Ziele sogar noch strikter sein. Das EU-Parlament will 65 | |
Prozent, die Wissenschaft sagt, wir brauchen sogar noch mehr. | |
Als Umweltministerin sage ich, wir brauchen 55 Prozent. Darüber Einigkeit | |
herzustellen, darauf will ich mich konzentrieren. | |
Müssten Sie als Vorsitzende der Umweltminister nicht viel mehr fordern? Um | |
das Ziel von 1,5 Grad Erwärmung im Auge zu behalten, bräuchten wir 65 oder | |
68 Prozent minus, sagen Studien. | |
Ich bin in der Rolle der EU-Ratspräsidentschaft diejenige, die alle Seiten | |
zusammenbringen muss. Und 65 Prozent ist da schwer vorstellbar. Ich weiß | |
nicht, wie man das einstimmig hinkriegen sollte. Und selbst wenn alle | |
Umweltminister dafür wären – am Ende wird das von den Staats- und | |
Regierungschefs entschieden. Wir sollten nicht riskieren, dass wir am Ende | |
gar kein Klimagesetz und gar keinen NDC bekommen. Da nehme ich lieber die | |
55 Prozent. | |
Wie wollen Sie das als Vorsitzende der EU-Umweltminister in den nächsten | |
sechs Monaten erreichen? | |
Der EU-Emissionshandel sollte einen wesentlichen Beitrag leisten. Die | |
Kohleausstiege in Deutschland und Spanien sind noch nicht eingepreist. Wenn | |
wir weniger CO2 emittieren, müssen diese Lizenzen vom Markt verschwinden, | |
so haben wir es bei unserem Kohleausstieg ja auch vereinbart. | |
Das wird nicht ausreichen. Wollen Sie auch die nationalen Ziele | |
verschärfen? | |
Eine Einigkeit über neue Ziele in allen Mitgliedstaaten, auch die damit | |
verbundenen Verteilungsfragen, halte ich für ausgesprochen schwierig. | |
Was heißt das für das deutsche Klimaziel für 2030? Bleibt das auch bei den | |
bisher vorgesehenen 55 Prozent? | |
Wir müssen alle mehr tun, auch in der EU. Wir haben uns in Paris dazu | |
verpflichtet, 2020 verbesserte Klimaziele vorzulegen. Und um das zu | |
erreichen, gibt es viele Instrumente. | |
Was schlagen Sie stattdessen vor? | |
Wir sollten nicht nur auf Emissionshandel und die nationalen | |
Klimaschutzziele schauen. Klar ist, dass auch die Emissionen außerhalb des | |
Emissionshandels – von Verkehr, Gebäuden und Landwirtschaft – weiter | |
runtermüssen. Wir können bei gemeinsamen EU-weiten Zielen und Regeln | |
ansetzen und so den Klimaschutz verstärkt voranbringen: etwa bei den | |
Regelungen zu Energieeinsparung, zu Erneuerbaren oder zur Effizienz in | |
Gebäuden. | |
Und was ist mit den Grenzwerten für Pkws und Lkws? | |
Die Grenzwerte sind ja gerade erst in mühsamen Verhandlungen angepasst | |
worden. Viele Experten sind sich einig, dass wir sie auf dem Weg bis 2030 | |
noch einmal verschärfen müssen. Ich stimme dem zu. Aber dafür wird es in | |
den sechs Monaten unserer Ratspräsidentschaft kaum eine Mehrheit geben, da | |
bin ich realistisch. Vielversprechender ist es, über einen europaweiten | |
CO2-Preis auch beim Verkehr und den Gebäuden zu diskutieren. | |
So wie der, der jetzt [3][in Deutschland eingeführt wird]? | |
Genau. Dafür werde ich werben. Das würde unmittelbar wirken. Unter den | |
EU-Kollegen gibt es da auch eine Offenheit, das System gibt es ja schon in | |
anderen Ländern. Wenn wir es langsam entwickeln, wenn wir Geringverdiener | |
schützen und die Industrie im Land halten, ist da eine große Offenheit. Da | |
sollten wir ein europaweites Instrument draus machen. | |
Sie sagen: Lasst uns die harten Einschnitte nicht zwischen den Ländern | |
verteilen, sondern über Brüsseler Normen festlegen, die dann in Landesrecht | |
umgesetzt werden müssen. Aber wie erreichen Sie dann diese CO2-Senkungen in | |
den Ländern? | |
Die Richtlinien werden auf der EU-Ebene gemacht und müssen dann in | |
nationales Recht umgesetzt werden. | |
Was Sie da planen, gibt es ja so ähnlich schon: Beim Ausbau der | |
Erneuerbaren ist die Quote für die gesamte EU verpflichtend, aber nicht auf | |
einzelne Länder heruntergerechnet. Der Effekt: Wer machen will, macht mehr, | |
wer nicht, der eben nicht. Dieses Schicksal droht doch nun auch in den | |
Bereichen, die Sie ansprechen. | |
Man kann das EU-Recht schon durchsetzen. Und die EU könnte etwa Vorgaben | |
für die öffentliche Beschaffung machen. Sie kann mit der | |
Öko-Design-Richtlinie den Energieverbrauch bei Produkten verringern und mit | |
Hilfsprogrammen die Gebäudesanierung voranbringen. In dem Bereich ist | |
unglaublich viel zu erreichen. Dazu kommt: Selbst in den Ländern, die | |
bisher bremsen, ändert sich etwas. Die Luftqualität ist in den | |
Kohleregionen ein echtes Thema. | |
Wir reden hier immer nur über die Peitsche. Was ist mit dem Zuckerbrot? Wie | |
sollen die Milliardenhilfen im Rahmen des [4][Green Deal] den Klimazielen | |
helfen? | |
Es ist zentral, die Debatte über den EU-Haushalt mit der Finanzierung des | |
Green Deal zu verknüpfen. Wie das im Detail funktionieren könnte, | |
verhandelt Finanzminister Olaf Scholz gerade. Denn wir haben in der EU ja | |
die Länder, die weniger zahlen und mehr fürs Klima tun wollen, und andere, | |
die mehr Geld erwarten, aber weniger für das Klima tun wollen. Ich hoffe, | |
dass wir das zusammenbringen können. Den Sparsamen kann man sagen: Mehr | |
Klimaschutz bekommen wir nur, wenn wir mehr Geld in die Hand nehmen, etwa | |
bei der Gebäudesanierung, die auch für Jobs und Steuereinnahmen sorgt. Und | |
den schwächeren Ländern muss man sagen: Es gibt Geld, aber das ist | |
gekoppelt an Maßnahmen zur CO2-Reduktion. | |
Der Deal würde also heißen: Die Sparsamen sollen mehr zahlen mit Blick auf | |
die Klimaziele. Und die Armen sollen im Gegenzug für Hilfen zustimmen, dass | |
in Brüssel die Richtlinien verschärft werden? | |
Wir können das Geld aus Brüssel nur einmal ausgegeben. Deshalb müssen die | |
zusätzlichen Gelder mehr Klimaschutz bringen. Bisher sieht der Haushalt | |
vor, dass 25 Prozent für den Klimaschutz ausgegeben wird. Das Gleiche | |
diskutieren wir für das Recovery Package, mindestens ein solcher Anteil | |
wäre da ebenfalls nötig. Das ist ein gewaltiges Puzzle und neu in der | |
Diskussion, deshalb ist das auch noch nicht durchgerechnet worden. Aber wir | |
haben schon Institute beauftragt, die Ergebnisse sollten in Kürze kommen. | |
Am Ende wird das EU-Klimaziel ja in der Runde der Chefs entschieden. Haben | |
Sie dafür die Rückendeckung der Regierung und der Kanzlerin? | |
Die Kanzlerin ist da sehr eindeutig. Sie hat sich ja selbst für 50 bis 55 | |
Prozent ausgesprochen, ebenso ihre Parteifreundin, die | |
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Ich nehme auch wahr, dass | |
es in der Unionsfraktion Skepsis gibt. Aber noch mal: Zu sagen, wir bleiben | |
bei den minus 40 Prozent und machen in den zwanzig Jahren nach 2030 minus | |
60 Prozent, das brächte wahnsinnige Belastungen für die Industrie. Ich habe | |
noch niemanden in der Union getroffen, der mir erklären konnte, wie unsere | |
Volkswirtschaft das hinkriegen soll. | |
29 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Malte Kreutzfeldt | |
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