# taz.de -- Kommentar von der Leyens Nominierung: Schmutzige Worte | |
> Hinterzimmer, Postengeschacher und Zank? Wer demokratische Vorgänge mit | |
> toxischer Sprache diskreditiert, hilft den Demokratieverächtern. | |
Bild: Wirbt gerade um eine Mehrheit: die designierte EU-Kommissionspräsidentin… | |
Die Grünen stellen Ansprüche, nicht nur an andere, nein, schon auch an | |
sich: Die neue Kraft in neuem Stil. Mit neuer Sprache. „Wie wir sprechen, | |
entscheidet darüber, wer wir sind – auch und gerade in der Politik“, so | |
lehrt es der Vorsitzende Robert Habeck. Der Satz steht in einem Buch, das | |
Habeck letztes Jahr herausbrachte. Es heißt „Wer wir sein könnten“. Dass | |
sich Habeck für den Konjunktiv entschieden hat, war gar nicht dumm. | |
Denn wer die Politik ist und wie sie spricht, das zeigt sich dieser Tage in | |
der Wirklichkeit. Im Streit über Ursula von der Leyen als Präsidentin der | |
EU-Kommission hat sich die Debatte in eine ungute Sprache hineingesteigert. | |
Nicht alle machen mit, aber doch auffallend viele. Man hört Vokabeln, die | |
eigentlich längst durchgenudelt waren. Aber diese schmutzigen Worte wirken | |
sehr wohl, sie setzen sich durch, sie hinterlassen Spuren. | |
Wer wir sein könnten: Für die Grünen in Brüssel hat das Ska Keller | |
beantwortet, gleich am Tag, als von der Leyen vom Europäischen Rat | |
nominiert wurde. Diese „Hinterzimmer-Lösung“ sei grotesk, sagte die | |
Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament. „Wir brauchen nicht den | |
kleinsten Nenner, der persönliche Interessen und politische Parteien | |
befriedigt.“ | |
Keller ist Profi, seit zehn Jahren sitzt sie im EU-Parlament, die Regeln | |
des Staatenbundes sind ihr vertraut. Sie weiß: Im Rat sitzen demokratisch | |
legitimierte Präsidenten und Regierungschefs, die das Recht haben, jemanden | |
für das Spitzenamt vorzuschlagen. So sieht es der Vertrag von Lissabon vor. | |
Sie weiß auch, dass die Personalie von der Leyen ein Kompromiss ist, weil | |
die Spitzenkandidaten der großen Parteien im EU-Parlament keine Mehrheit | |
hinter sich brachten. | |
## Versteckt, verschämt, verdruckst | |
Aber die Grüne kritisiert nicht Ursula von der Leyen selbst, deren | |
Kompetenzen und Positionen. Sie unterstellt lieber den Ratsmitgliedern | |
niedere Motive: Denen ging es nicht um die Sache, das ist ihre Botschaft, | |
nicht um Europa oder die Allgemeinheit, sondern um „politische Parteien“. | |
Als ob sie nicht selbst für den Erfolg einer Partei arbeitete. Als ob diese | |
nicht ein wichtiger Teil der Demokratie wären. | |
Und um „persönliche Interessen“ ging es den Ratsmitgliedern auch, sagt | |
Keller: um den eigenen Vorteil, um sich. Heraus kam etwas Mickriges, „der | |
kleinste Nenner“. Keller zielt auch auf das Wie, denn all das fand im | |
„Hinterzimmer“ statt, versteckt, verschämt, verdruckst. | |
Dass ein Ergebnis, das jemandem nicht passt, abwertend beschrieben wird, | |
ist politischer Alltag. Aber nach der Nominierung von der Leyens, [1][die | |
gerade um eine Mehrheit wirbt], wird semantisch diskreditiert wie selten. | |
Keller ist nur ein Beispiel. Der unterlegene CSU-Politiker Manfred Weber | |
schimpft über „Hinterzimmer-Gespräche“, der ehemalige SPD-Chef Sigmar | |
Gabriel moniert einen „Akt der politischen Trickserei“. Der Linke Gregor | |
Gysi sagt: „Das Personalgeschacher in Brüssel beweist, dass Schluss sein | |
muss mit den Hinterzimmergesprächen.“ Selbst die nüchterne | |
Nachrichtenagentur dpa gibt einem Bericht den Titel „EU-Postengeschacher | |
beendet“. | |
Die Begriffe sollen durchschlagen, den Gegner treffen. Hinterzimmer statt | |
Verhandlungsrunde. Zanken statt Konflikte austragen. Schachern statt | |
Kompromisse suchen. Posten statt Amt. Durch diese Wortwahl weht ein | |
undemokratischer Geist, und interessanterweise ist sie ebenso unter Rechten | |
beliebt wie unter Linken, die sich moralisch auf der richtigen Seite | |
wähnen. | |
## Direkt auf den Exerzierplatz | |
Das ist gefährlich, denn wer negativ konnotiert, läuft Gefahr, nachhaltig | |
zu kontaminieren. Schmutzige Worte setzen sich fest. Man kann das sehen am | |
Begriff der Quassel- oder Schwatzbude, mit dem bis heute das Parlament | |
verhöhnt wird. Das Wort ist sehr alt, über hundert Jahre, es wird Wilhelm | |
II. zugeschrieben und später den Nazis. | |
Wer toxische Vokabeln unwidersprochen passieren lässt, fördert das Ideal | |
jener, die von einer starken Hand träumen, die Schluss macht mit dem ganzen | |
Gerede. Schnelle Entscheidung. Klare Ansage. Zackige Umsetzung. So hätten | |
das Rechtspopulisten gerne. Aber diese Gedanken führen tatsächlich raus aus | |
dem Hinterzimmer. Direkt auf den Exerzierplatz. | |
Demokratie geht anders. Sie ist mühsam, vor allem in Brüssel, wo sie stets | |
aus Kleinarbeit und Nachtarbeit bestanden hat. Konflikt, Konsens, Konflikt, | |
Konsens. So wuchs Europa zusammen, so entstand der Euro, so kam Osteuropa | |
dazu. | |
Repräsentative Demokratie bedeutet, dass jemand ein Mandat mit in den | |
geschützten Raum nehmen darf. Wenn er oder sie herauskommt, muss gefragt, | |
geprüft und gegengehalten werden. Aber dazwischen muss gesprochen werden, | |
ohne Kameras. Im Hinterzimmer können die Beteiligten ihre Gesichter wahren, | |
können grübeln, testen, vorschlagen, verwerfen, fragen und rätseln. | |
## Groteske So-tun-als-ob-Kommunikation | |
Das kennt jeder und jede aus dem Alltag, wenn es darum geht, im Betrieb | |
Lösungen zu finden oder ein Sommerfest der Grundschule vorzubereiten. Was | |
im Kleinen gilt, gilt erst recht in einer Union aus 28 verschiedenen | |
Staaten. Es ist eine Sensation, dass es immer wieder gelingt, die | |
Interessen von 513 Millionen Menschen einigermaßen auszubalancieren. | |
Politikern vorzuhalten, dass sie Ämter wollen, ist absurd. Gerade Linke tun | |
so, als wäre Macht igitt. Dabei ist sie höchst notwendig, um Inhalte | |
durchzusetzen. Wer in Verhandlungen nicht auf Ämter dringt, kann sich seine | |
edlen Forderungen auf ein Taschentuch schreiben und dem abfahrenden Zug | |
hinterherwinken. | |
Posten, Posten – der Einsatz der schmutzigen Worte zwingt Politiker in eine | |
groteske So-tun-als-ob-Kommunikation. Sie stellen sich dumm, wenn sie | |
behaupten, ihnen gehe es allein um Inhalte – und nicht um Ämter. Dies lässt | |
sich im Moment wunderbar bei den Grünen beobachten, die darum kämpfen, ein | |
Amt in der EU-Kommission zu bekommen. Ein Kommissar, der hart für eine | |
faire CO2-Bepreisung kämpft, wäre gut für eine ökologischere EU. | |
Sagen darf das niemand. Spitzengrüne schildern die Gemengelage verschämt | |
vertraulich. Sie haben Angst. Die Dauerempörten lauern ja auf Twitter und | |
Facebook. Wenn die entscheiden, wie Politik spricht, was Politik ist, dann | |
wird sie eine andere. | |
10 Jul 2019 | |
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[1] /Designierte-EU-Kommissionschefin/!5611321 | |
## AUTOREN | |
Georg Löwisch | |
Ulrich Schulte | |
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