| # taz.de -- Das Europäische Parlament vor der Wahl: Die angezählte Kandidatin | |
| > Ursula von der Leyen soll EU-Kommissionspräsidentin werden, so haben es | |
| > die Regierungschefs beschlossen. Doch das Parlament muckt auf. | |
| Bild: Mission mit unklarem Ausgang: Ursula von der Leyen mit Getreuen auf Vertr… | |
| Brüssel taz | Es geht um viel, sehr viel: Um die Leitung der Europäischen | |
| Kommission. Um die Frage, wie es mit der Demokratie in der EU bestellt ist | |
| – Stichwort Spitzenkandidaten. Um die Macht in Brüssel: Das Europäische | |
| Parlament und der Rat, die Vertretung der 28 Mitgliedstaaten, liefern sich | |
| einen Machtkampf. Und um die Macht in Berlin – [1][die Benennung der | |
| derzeitigen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU)] hat eine | |
| Krise in der Großen Koalition ausgelöst. | |
| Manch einem europäischen Abgeordneten geht es aber auch einfach nur darum, | |
| seinen Frust über den „Coup“ der Staats- und Regierungschefs abzulassen – | |
| und Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron | |
| einen Denkzettel zu verpassen. Beide hatten den Deal eingefädelt und die | |
| Spitzenkandidaten der Europawahl bewusst übergangen. | |
| Am Dienstag um 18 Uhr wird in Straßburg abgestimmt. Niemand weiß zu sagen, | |
| ob die Kandidatin durchkommt – oder durchfällt. | |
| Weil das Rennen so offen ist, wird Ursula von der Leyen mit immer neuen | |
| Forderungen konfrontiert. Die einen wollen Geld, die anderen Posten, wieder | |
| andere möchten durch die Hintertür ihr Wahlprogramm umsetzen. Man erwarte | |
| bis Montagabend eine verbindliche Antwort, heißt es bei Sozialdemokraten | |
| und Liberalen, andernfalls könne man die Kandidatin leider nicht wählen. | |
| Gleichzeitig bereiten sich einige Parlamentarier schon auf den Ernstfall | |
| vor: das Scheitern der Kandidatin. Die EU brauche einen „Plan B“, fordert | |
| der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold. Wenn von der Leyen durchfällt, | |
| sollte sich die EU eine Denkpause bis September gönnen. Das sei „kein | |
| Beinbruch“, so Giegold. 2009 habe es das auch schon gegeben. | |
| ## Gerüchte, Spindoctors und Diekmann als Berater | |
| Und wie immer in solchen Fällen machen wilde Gerüchte die Runde. Martin | |
| Selmayr, der deutsche Generalsekretär der EU-Kommission, betätige sich als | |
| Spindoctor, heißt es in Brüssel. Nachdem er eine Zeit lang für Kroatiens | |
| Premierminister Andrej Plenković geworben habe, versorge er nun die | |
| deutsche Kandidatin mit Insidertipps. | |
| Von der Leyen wird vorgehalten, mit den Medienkonzernen Bertelsmann und | |
| Springer unter einer Decke zu stecken. Sogar Ex-Bild-Chef Kai Diekmann soll | |
| sie angeheuert haben, um ihre Social-Media-Strategie auf Twitter zu | |
| managen. Offenbar mit Erfolg: Mittlerweile hat sie mehr als 60.000 | |
| Follower, vor zehn Tagen waren es: null. | |
| All das zeigt, wie hoch gepokert wird und wie knapp die Abstimmung am | |
| Dienstag werden könnte. Doch nicht nur die designierte Nachfolgerin von | |
| Kommissionschef Jean-Claude Juncker muss zittern – auch die Abgeordneten | |
| spielen mit hohem Einsatz und harten Bandagen. | |
| Am lautstärksten macht Manfred Weber seinem Unmut Luft. Der gescheiterte | |
| Spitzenkandidat der konservativen EVP, der seine Bewerbung mit Angela | |
| Merkel abgesprochen hatte und dann doch fallen gelassen wurde, sieht sich | |
| als Opfer einer Verschwörung. „Mächtige Kräfte wollten das Wahlergebnis | |
| nicht akzeptieren“, sagt er. Der Franzose Emmanuel Macron und Viktor Orbán | |
| aus Ungarn hätten sich abgesprochen. | |
| Schwere Vorwürfe macht der CSU-Politiker auch seinen Abgeordnetenkollegen. | |
| „Die Tatsache, dass Sozialdemokraten und Liberale im Europaparlament nicht | |
| den Führungsanspruch der stärksten Partei, nämlich der EVP, akzeptiert | |
| haben, hat das Parlament geschwächt“, sagt Weber. | |
| ## Auch bei den Konservativen grummelt es | |
| Derweil versucht sein Parteifreund Daniel Caspary, Webers Wahlprogramm | |
| wiederzubeleben. Von der Leyen müsse es umsetzen, meint er. Ein | |
| gesetzliches Initiativrecht für das Europaparlament, ein neues europäisches | |
| Asylrecht und mehr Schutz der Außengrenzen – darunter will es der | |
| CDU-Politiker nicht machen. | |
| Und natürlich soll das System der Spitzenkandidaten „stabilisiert“ werden … | |
| aber ohne europaweite Wahllisten, wie sie etwa Macron fordert. | |
| Doch von der Leyen denkt gar nicht daran, Webers Programm zu übernehmen. | |
| Die CDU-Politikerin setzt lieber auf Bewährtes – und redet mit den | |
| Abgeordneten, als sei sie die verständnisvolle Obermutter. „Ich bin in | |
| Brüssel geboren und freue mich, europäische Luft zu atmen“, lautet ihre | |
| Standardformel. Danach sagt sie jedem, was er oder sie hören will, ohne | |
| sich dabei festzulegen. | |
| Zunächst sieht es so aus, als könne sie damit durchkommen. Von der Leyen | |
| könne sich inhaltlich nicht weit aus dem Fenster lehnen, räumt | |
| SPD-Europapolitikerin Katarina Barley ein, die nach dem Wechsel aus dem | |
| Justizministerium in Berlin zur Vizepräsidentin des EU-Parlaments gewählt | |
| wurde. „Sie muss irgendwo im Vagen bleiben.“ | |
| ## Die Stimmung schlägt um, Leyen ist angezählt | |
| Doch letzte Woche am Mittwochabend schlägt die Stimmung um. Das Signal | |
| kommt von den Grünen. Nach einer viel beachteten Anhörung, die via Internet | |
| öffentlich gemacht wird, schlagen sie die Tür zu. „Entscheidung der grünen | |
| Fraktion! Wir werden gegen von der Leyen stimmen“, kündigt Sven Giegold an. | |
| Seitdem überschlagen sich die Ereignisse. Auch bei den Konservativen gebe | |
| es Unzufriedene, die mit Nein stimmen könnten, heißt es plötzlich. Von den | |
| 182 Abgeordneten der EVP könnte ein Dutzend ausscheren, sagt ein Insider. | |
| Was die Angelegenheit noch unberechenbarer macht: Die Wahl ist geheim, | |
| einen Fraktionszwang gibt es am Dienstagabend nicht. Sicher scheint bisher | |
| lediglich, dass die Fraktionen der Linken, der Grünen und der | |
| Rechtsradikalen die Kandidatin ablehnen werden. | |
| Die Liberalen dagegen zählen zu den Unentschlossenen, aber es grummelt | |
| vernehmlich unter ihnen. Sie schicken einen Brief an die Kandidatin. Darin | |
| fordern sie einen verbindlichen Mechanismus zur Sicherung der | |
| Rechtsstaatlichkeit samt Strafen – sowie die Zusage, eine große | |
| Reform-Konferenz abzuhalten, um die Demokratie zu stärken. | |
| Das ist für von der Leyen heikel. Denn bei einem Treffen mit der | |
| rechtskonservativen EKR-Fraktion, in der die Polen den Ton angeben, hatte | |
| von der Leyen durchblicken lassen, dass sie es mit der Durchsetzung des | |
| Rechtsstaats nicht so eilig hat. Das könne man den Gerichten überlassen, | |
| wird sie zitiert. Auch die Reformkonferenz ist nicht ihr Ding – die Idee | |
| stammt von Macron, steuern könnte sie den Prozess ohnehin nicht. | |
| ## Forderungen von allen Seiten | |
| Und was soll man von der Forderung halten, die liberale EU-Kommissarin | |
| Margrethe Vestager künftig auf eine Stufe mit dem Sozialdemokraten Frans | |
| Timmermans zu stellen? Das ist eine hinterlistige Bedingung der Liberalen. | |
| Denn Timmermans hat bei der Europawahl mehr Stimmen geholt als Vestager; | |
| außerdem kann es nicht zwei „erste“ Vizepräsidenten geben. Von der Leyen | |
| steckt in der Klemme. | |
| Dass die Sozialdemokraten auch noch einen saftigen Wunschkatalog | |
| aufgestellt haben, macht die Sache nicht besser. Sie fordern auf fünf eng | |
| bedruckten Seiten eine umfassende „Agenda for Change“. Zu den Forderungen | |
| gehört ein Plan für Investitionen im Wert von einer Billion Euro bis 2024, | |
| mehr Flexibilität bei der Auslegung der strikten europäischen | |
| Haushaltsregeln, die Einführung von Mindeststeuersätzen und eine | |
| Agrarreform. | |
| Zu den sozialdemokratischen Kernanliegen kommen auch einige grün anmutende | |
| Forderungen. So soll die künftige EU-Kommission zusagen, die Treibhausgase | |
| bis 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken. Derzeit | |
| liegt das EU-Ziel bei 40 Prozent. Von der Leyen hat bei den Anhörungen 50 | |
| Prozent ins Spiel gebracht – doch schon das ist manchen in CDU und CSU zu | |
| viel. | |
| Am Klimaschutz war schon die „Große Koalition plus“ gescheitert, die die | |
| EVP, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne nach der Europawahl schließen | |
| wollten. Und nun soll von der Leyen die Probleme mit einem Federstrich | |
| lösen? Das kann eigentlich nur schiefgehen: Sie sei auf einer „Mission | |
| impossible“, sagt ein Europaabgeordneter. | |
| ## Wie die SPD sich selbst ein Bein stellt | |
| Doch nicht nur die deutsche Kandidatin steht unter Druck. Auch die | |
| deutschen Sozialdemokraten sind in die Defensive geraten. Stein des | |
| Anstoßes ist ein zweiseitiges Papier, das sie an ihre Genossen aus den | |
| anderen EU-Ländern verteilt haben. Darin werden die Affären und Skandale | |
| der deutschen Verteidigungsministerin akribisch aufgelistet. | |
| Was als Argumentationshilfe für die interne Meinungsbildung gedacht war, | |
| wird von CDU und CSU sofort als Schmutzkampagne wahrgenommen. Sogar | |
| Kanzlerin Angela Merkel (CDU) schaltet sich ein – und warnt aus dem fernen | |
| Berlin vor einer Belastung der Großen Koalition. Am Ende wird der Gegenwind | |
| zu stark. Jens Geier, Chef der SPD-Gruppe im Europaparlament, tritt den | |
| Rückzug an. | |
| „Wir sehen aus vielen Reaktionen, dass die Zusammenstellung in dieser | |
| Zuspitzung missverständlich als Versuch der öffentlichen persönlichen | |
| Beschädigung verstanden wird“, räumt Geier ein. „Das war nicht | |
| beabsichtigt.“ | |
| Nicht beabsichtigt war, dass der Eindruck entsteht, die deutschen | |
| Sozialdemokraten seien im Kreis ihrer europäischen Genossen isoliert. | |
| Während die 16 SPD-Abgeordneten am Dienstag geschlossen mit Nein stimmen | |
| wollen, halten sich ihre Parteifreunde aus anderen EU-Ländern weiterhin | |
| alles offen. Vor allem die spanische PSOE, die mit 20 Abgeordneten | |
| neuerdings den Ton in der Fraktion angibt, fasst von der Leyen mit | |
| Samthandschuhen an. | |
| „Wir sind weniger angriffslustig als die Deutschen, wenn es um von der | |
| Leyen geht“, heißt es aus den Reihen der PSOE. Die Spanier wollten Europa | |
| „nicht blockieren“ und dafür sorgen, „dass die Institutionen als bald wie | |
| möglich ihre Arbeit aufnehmen können“. | |
| Den spanischen Sozialdemokraten geht es um Programmatisches. „Klimawandel, | |
| Frauenrechte und soziale Maßnahmen“ stünden ganz oben auf der Liste. Der | |
| scheidende EU-Kommissionschef Juncker habe dies verstanden. Die Programme | |
| gegen Jugendarbeitslosigkeit seien ein Beispiel. | |
| Sicher helfe auch, dass mit Josep Borrell ein Spanier für das Amt des | |
| EU-Außenbeauftragten vorgesehen ist. Es sei deshalb „wenig wahrscheinlich“, | |
| dass die Spanier nicht für von der Leyen stimmen würden, heißt es – auch | |
| wenn die endgültige Entscheidung erst kurz vor Dienstagabend fallen werde. | |
| ## Zustimmung für Leyen von der falschen Seite | |
| Erst kurz vor Toresschluss – am Montagabend – wollen sich auch die | |
| Rechtskonservativen von der EKR-Fraktion festlegen. Allerdings neigen die | |
| vorwiegend osteuropäischen Abgeordneten, die nicht mit EU-Gegnern wie | |
| Marine Le Pen in einen Topf geworfen werden wollen, zu einem Ja. | |
| Wenn man Ursula von der Leyen ablehne, laufe man Gefahr, dass sich am Ende | |
| doch ein Sozialist durchsetzt, heißt es in der 62 Köpfe starken Fraktion. | |
| Beim EU-Gipfel hatten die Staats- und Regierungschefs aus Osteuropa den | |
| niederländischen Sozialdemokraten Timmermans aus dem Rennen geworfen. | |
| Mit Zustimmung darf Ursula von der Leyen aus Ungarn rechnen. Außenminister | |
| Péter Szijjártó sagte, die 13 EU-Abgeordneten der Regierungspartei Fidesz | |
| würden für die deutsche Kandidatin stimmen: „Wir werden sicherlich | |
| Diskussionen haben, das ist richtig, aber was ich auch weiß, ist: Ursula | |
| von der Leyen respektiert die Mitgliedstaaten.“ | |
| Das ist brisant, denn eigentlich sind die rechtspopulistischen | |
| Fidesz-Mitglieder mit einem Bann ihrer europäischen Parteifreunde belegt, | |
| weil Regierungschef Viktor Orbán zum Jahreswechsel eine Schmutzkampagne | |
| gegen Kommissionschef Juncker und die EU gefahren hatte. Die EVP hat Fidesz | |
| sogar aus ihrer Fraktion suspendiert. Wenn nun die EVP-Kandidatin mithilfe | |
| von Fidesz gewählt werden sollte, wäre das ein Wortbruch, die | |
| Glaubwürdigkeit wäre schwer erschüttert. | |
| Doch was soll von der Leyen machen? Soll sie sich öffentlich von Fidesz und | |
| von der italienischen Lega distanzieren, die ihr ebenfalls wichtige Stimmen | |
| geben könnten? | |
| Genau das verlangt Achim Post, der Generalsekretär der Sozialdemokraten in | |
| Europa. Er fordert die Kandidatin auf, unmissverständlich zu erklären, dass | |
| sie keinesfalls mit den Stimmen von Rechten und Rechtsnationalen aus Polen, | |
| Ungarn oder Italien gewählt werden wolle. | |
| Dabei ist der Sündenfall längst eingetreten. Bei der Nominierung durch den | |
| EU-Gipfel stimmten sowohl Orbán als auch die Staats- und Regierungschefs | |
| aus Polen und Ialien für von der Leyen als Kommisionspräsidentin. Orbán | |
| brüstete sich nach der Entscheidung: „Wir haben eine deutsche | |
| Familienmutter, die Mutter von sieben Kindern, an die Spitze der Kommission | |
| gewählt“, jubelte er. Das sei eine Wende. | |
| ## Entscheidend: von der Leyens Rede am Dienstag | |
| Entscheidend sein wird die Rede, die von der Leyen am Dienstagvormittag in | |
| Straßburg halten will. Darin kann sie sich von den Nationalisten und | |
| Autokraten abgrenzen – etwa mit einem klaren Bekenntnis zu den laufenden | |
| Rechtsstaatsverfahren gegen Polen und Ungarn. Sie kann versuchen, die | |
| fehlenden Stimmen bei den Sozialdemokraten zu holen – zum Beispiel mit | |
| Vorschlägen zu einem sozialen Europa. Als ehemaliger Arbeitsministerin | |
| sollte ihr das nicht allzu schwer fallen. | |
| Denkbar ist auch, dass sie den „Spitzenkandidaten-Prozess“, der im Mai so | |
| kläglich gescheitert war, wiederbelebt. „Mehr Demokratie wagen“ – das | |
| könnte manche Wunde heilen, die der Personalpoker der letzten Wochen | |
| gerissen hat. | |
| Von der Leyen kann aber auch weitermachen wie bisher und versuchen, sich | |
| mit wolkigen Versprechen aus der Affäre zu ziehen. Doch das dürfte, da sind | |
| sich ausnahmsweise einmal alle Europaabgeordneten einig, direkt in die | |
| Wahlniederlage führen – und damit zur nächsten Krise der Europäischen | |
| Union. | |
| Mitarbeit: Reiner Wandler, Madrid | |
| 15 Jul 2019 | |
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| [1] /Ursula-von-der-Leyen-und-die-EU/!5606629 | |
| ## AUTOREN | |
| Eric Bonse | |
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