# taz.de -- Europas Blick auf von der Leyen: Weite Teile der EU brüskiert | |
> Was denkt eigentlich der Rest der EU über die Nominierung von der Leyens? | |
> Unsere KorrespondentInnen berichten über Diskussionen in Presse und | |
> Politik. | |
Bild: Sieht zwar aus wie ein Bewerbungsgespräch, Ursula von der Leyen brauchte… | |
BERLIN/WARSCHAU/STOCKHOLM/PARIS/MADRID/BUDAPEST taz | Undemokratisches | |
Personalgeschacher oder ein guter Kompromiss? Seit die Staats- und | |
RegierungschefInnen der EU in der vergangenen Woche ihr Personal-Tableau | |
für die EU-Kommission vorgestellt haben, reißt die Diskussion nicht ab. | |
Denn der Europäische Rat hat sich darauf geeinigt, [1][dass die deutsche | |
Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) die Kommissionschefin in | |
Brüssel werden soll] – und damit weite Teile des EU-Parlaments brüskiert. | |
Das hatte darauf gepocht, dass nur KommissionschefIn werden solle, wer sich | |
zuvor als SpitzenkandidatIn zur Wahl gestellt habe. In Deutschland sorgt | |
das auch in der Regierungskoalition für Unmut – die SPD hat die Nominierung | |
von der Leyens harsch kritisiert. | |
Wie wird das in den anderen Mitgliedsländern gesehen? Fünf | |
KorrespondentInnen aus der EU über die Diskussion in ihren | |
Berichtsgebieten. | |
## Polen: Spitzen? Wer hat die ausgesucht? | |
[2][Polens regierende Nationalpopulisten] von der Partei Recht und | |
Gerechtigkeit (PiS) finden das „Spitzenkandidaten“-Prinzip allein schon | |
schlecht, weil es angeblich von den Deutschen aufoktroyiert wurde. Ein Wort | |
wie „Spitzenkandidat“ gibt es im Polnischen nicht. Man muss es umschreiben, | |
also wird der Einfachheit halber das deutsche Wort benutzt. Dann war ja | |
ausgerechnet der Spitzenkandidat der größten, konservativen Fraktion im | |
Europäischen Parlament ein Deutscher – Manfred Weber. | |
Der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, Frans Timmermans, ist zwar | |
Niederländer, spricht aber so gut Deutsch, dass viele Polen ihn als | |
„Quasi-Deutschen“ wahrnahmen. | |
Eine breite Diskussion darüber, ob die im Europaparlament vertretenen | |
Parteien je einen Spitzenkandidaten für den Kommissionsvorsitz benennen | |
sollten oder ob ihn die 27 Staats- und Regierungschefs der EU auswählen | |
sollten, gibt es in Polen nicht. Auch, weil kaum jemand versteht, wer diese | |
seltsamen „Spitzenkandidaten“ eigentlich ausgesucht hat. | |
Debattiert wurde lediglich über die Frage, ob es gut oder schlecht war, | |
dass die vier Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn von | |
Anfang an mit ihrem Veto gegen Timmermans drohten, ohne einen eigenen | |
Kandidaten präsentieren zu können. Timmermans hatte als | |
Vize-Kommissionspräsident immer wieder Verstöße gegen die | |
Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn angeprangert. Er ist daher für die | |
dort regierenden Nationalpopulisten „völlig inakzeptabel“, wie es Polens | |
Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in Brüssel ausdrückte. | |
[3][Gabriele Lesser], Warschau | |
*** | |
## Finnland: Erfolg für die Großen – und die Rechten | |
„Mehr Macht für die Bürger in der Europawahl war das Ziel, Teilung der | |
Spitzenposten zwischen Deutschland und Frankreich ist das Ergebnis“, heißt | |
es in einem Kommentar der auflagenstärksten Zeitung Finnlands, Helsingin | |
Sanomat. | |
Im Land, das gegenwärtig den EU-Ratsvorsitz innehat, wird nicht nur das | |
Prozedere kritisiert und dass keine Person für einen Topposten „östlich von | |
Hannover wohnt“ – sondern auch die Behandlung der kleinen Mitgliedsländer. | |
„Mal wieder“, ist weiter im Helsingin Sanomat zu lesen, hätten „die Gro�… | |
ihre Macht gezeigt und ihr Desinteresse für deren Teilung mit kleineren | |
Staaten“. | |
Auch Wissenschaftler Timo Miettinen vom Zentrum für Europastudien an der | |
Universität Helsinki konstatiert, eigentlich habe der Lissabon-Vertrag die | |
Stellung des Europaparlaments stärken wollen, aber das Gegenteil sei nun | |
der Fall: Die Macht des Rats und hier die Deutschlands und Frankreichs habe | |
sich verstärkt. | |
Die Kungelei um den Vorsitz sei ein „Geschenk für Rechtspopulisten“, heißt | |
es im öffentlich-rechtlichen Fernsehen YLE: „Davon hatten sie nicht einmal | |
zu träumen gewagt.“ Ähnliches schreibt die Zeitung Hufvudstadsbladet: Wie | |
das Beispiel Ungarn zeige, sei „der beste Weg für kleinere Mitgliedsländer, | |
an Einfluss zu kommen, die EU-Regeln zu obstruieren oder zu ignorieren“. | |
[4][Regierungschef Antti Rinne] jedenfalls machte aus seiner Frustration | |
über die Verhandlungen und den Umgang mit dem Spitzenkandidaten der | |
Sozialdemokraten, Frans Timmermans, keinen Hehl – kein Wunder, schließlich | |
ist Rinne selbst ein Sozialdemokrat. | |
[5][Reinhard Wolff], Stockholm | |
*** | |
## Frankreich: Gratulation rechts, Kritik links | |
Applaus für eine weibliche Spitze, Gratulationen von rechts und Kritik von | |
links: So lassen sich die Reaktionen in Frankreich auf das Vorgehen der | |
EU-Staats- und Regierungschefs bei der Postenvergabe zusammenfassen. | |
Am lautesten protestieren wie immer die Verlierer: „Was für ein mediokeres | |
Casting, welch pathetisches Arrangement zwischen Merkel, Macron und | |
Sanchez! Eine Niederlage für Europa und für die Demokratie“, twitterte | |
voller Empörung [6][Frankreichs Grünen-Parteichef und frisch gewählter | |
Europa-Abgeordneter, Yannik Jadot]. | |
Auch Frankreichs Sozialisten wollen sich nicht mit dem Trostpreis eines | |
Parlamentsvorsitzes für den italienischen Genossen David Sassoli begnügen. | |
„Diese Vergabe der Spitzenposten kehrt dem Willen zur sozialen und | |
ökologischen Wende total den Rücken“, gibt der Erste Parteisekretär der | |
Sozialisten, Olivier Faure, an. | |
Die französischen Medien heben zwar mehrheitlich in positiver Weise die | |
Nominierung von zwei Frauen auf Spitzenposten hervor – neben von der Leyen | |
als Kommissionspräsidentin soll die französische IWF-Chefin und | |
Ex-Ministerin Christine Lagarde EZB-Präsidentin werden. | |
Einige Journalisten und mehrere Stimmen aus der linken France insoumise | |
(LFI) lenken den Blick aber auch auf ihre Verurteilung durch ein Pariser | |
Gericht im Jahr 2016, durch fahrlässiges Handeln im Amt der | |
Finanzministerin eine Veruntreuung öffentlicher Gelder ermöglicht zu haben. | |
„Mit Christine Lagarde als Präsidenten der EZB herrscht eindeutig die | |
Straflosigkeit der Oligarchie im Herzen der EU“, erklärte der | |
LFI-Abgeordnete Bastien Lachaud. | |
[7][Rudolf Balmer], Paris | |
*** | |
## Porugal: Hrsche Kritik vom Linksblock | |
Portugals Presse und Politik sind gespalten, wenn es darum geht, den | |
Nominierungsprozess für EU-Spitzenposten durch den Europäischen Rat zu | |
bewerten. „Die EU hat nach wie vor einen starken intergouvernementalen | |
Charakter“, stellt der sozialdemokratische portugiesische EU-Abgeordnete | |
Francisco Assis von der Partido Socialista fest. | |
Doch ein Problem sieht er darin nicht. Da das EU-Parlament die Vorschläge | |
der Regierungen bestätigen müsse, sei dies Teil eines Prozesses, der „zur | |
Herausbildung einer breiten Verständigung“ beitrage. | |
Der Linksblock, der in Lissabon die Regierung des [8][sozialdemokratischen | |
Ministerpräsidents António Costa (Partido Socialista)] unterstützt, sieht | |
das anders. „Der große Verlierer ist der ‚Prozess des Spitzenkandidaten‘, | |
denn alle, die am Wahlkampf teilnahmen, wurden jetzt zugunsten von Personen | |
übergangen, die nicht einmal für einen Abgeordnetensitz kandidiert haben“, | |
bewertet der EU-Parlamentsneuling José Gusmão die Debatte. | |
Der andere kleine Partner Costas in Lissabon, die Kommunistische Partei | |
Portugals, spricht gar von einem „Betrug des zentralen Blocks“ – und meint | |
damit die Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten. Die Entscheidung | |
für von der Leyen, Lagarde sowie den Spanier Josep Borrell für den Posten | |
des EU-Außenbeauftragten vertiefe die „neoliberale, militaristische und | |
sicherheitsorientierte Politik“. Das führe dazu, dass sich die Menschen | |
enttäuscht den rechtsextremen Gegnern Europas zuwenden würden. | |
[9][Reiner Wandler], Madrid | |
## Ungarn: O weh, Orbán hat gewissermaßen recht | |
Auch in Ungarn wird Regierungschef Viktor Orbán dafür angegriffen, den | |
europäischen Wählerwillen mit der Entscheidung für Ursula von der Leyen zu | |
missachten. Aber innenpolitisch ist das unbegründet. Orbán profitiert von | |
seinem eigenen strategischen Fehler. | |
Der umstrittene Ministerpräsident hatte bei der Wahl [10][auf den | |
Durchbruch der Populisten gesetzt]. Er erklärte ausgerechnet an der Seite | |
des inzwischen gestürzten österreichischen Vizekanzlers Heinz-Christian | |
Strache vor der Wahl: Manfred Weber sei unfähig, Europa zu führen, und | |
deshalb könne seine Fidesz-Partei trotz Mitgliedschaft in der EVP den | |
CSU-Mann nicht mittragen. | |
Diese verfrühte Festlegung sah schon am Wahlabend blöd aus, weil die | |
Populisten nicht wie von Orbán erhofft abschnitten. Aber er könnte jetzt | |
berechtigterweise sagen, dass die Ungarn den Kurs seiner Partei | |
demokratisch abgesegnet haben. Denn 52 Prozent sprachen sich für die | |
Konservativen und zugleich gegen Weber aus. Deshalb ist der Kompromiss mit | |
von der Leyen aus Budapester Sicht demokratisch. Ungarn wünscht sich eine | |
konservative Führung ohne Weber. | |
Die ungarische Kritik ist vielmehr, dass die Länder, die seit 2004 | |
EU-Mitglied wurden, bei der Postenvergabe leer ausgingen. Es wird schwer, | |
mehr Integrationswillen von Osteuropa zu fordern, wenn keine Geste zu | |
erkennen ist, die Neuen in die Verantwortung zunehmen. Was Orbán | |
mitverschuldet hat. | |
[11][Gergely Márton], Budapest | |
7 Jul 2019 | |
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