# taz.de -- Entführte Jesidinnen im Nordirak: Das Geschäft der Jesiden-Befrei… | |
> Im Nordirak befreien Jesiden die entführten Frauen und Kinder, die in der | |
> Gewalt des IS sind. Der Genozid ist noch gar nicht aufgearbeitet. | |
Bild: Viele warten noch auf Familienmitglieder: Menschen im Flüchtlingslager S… | |
Nordirak taz | Haji Hamid Tallu hat ein Poster gebastelt. Dutzende Fotos, | |
fein säuberlich nebeneinander geklebt, zeigen die Gesichter von Männern, | |
Frauen und Kindern. Es sind seine Angehörigen. Diejenigen, die der | |
„Islamische Staat“ (IS) getötet oder entführt hat. Vier Jahre ist es her. | |
Von vielen fehlt bis heute jede Spur. | |
Tallu stammt aus einem kleinen Dorf im nordirakischen Distrikt Sindschar. | |
Am 3. August 2014 fiel der IS in der Region ein. Er tötete Tausende Männer | |
und entführte über 6.000 Frauen und Kinder. Darunter: 77 von Tallus | |
Verwandten. | |
Viele der Frauen wurden als Sklavinnen [1][verkauft und vergewaltigt]. | |
Buben ab acht Jahren wurden in Trainingslager gesteckt und zu Kämpfern | |
ausgebildet. Der UNO-Menschenrechtsrat [2][verurteilte die Verbrechen] des | |
IS an den Jesiden später als Völkermord. | |
Heute, mehr als vier Jahre später, gilt der IS im Irak offiziell als | |
besiegt. Doch für die Jesiden bedeutet dieser Sieg wenig. Die Massengräber | |
in Sindschar, in denen Tausende Männer begraben liegen, wurden bis heute | |
nicht systematisch untersucht. Viele können daher nur vermuten, dass ihre | |
vermissten männlichen Angehörigen tot sind. Von den Frauen und Kindern, die | |
2014 entführt wurden, [3][befindet sich über die Hälfte bis heute in | |
Gefangenschaft des IS]. Seit August 2017 bezeichnet der | |
UNO-Menschenrechtsrat den Genozid daher als „andauernd“. | |
In Tallus Familie sind 42 Mitglieder noch immer verschollen. Zwölf | |
Angehörige kaufte Tallu mit Hilfe von Schleppern frei. Insgesamt 35 kehrten | |
im Laufe der vergangenen vier Jahre zurück. Einigen war die Flucht | |
gelungen. Darunter auch seiner Tochter Aschwaq, die nach ihrer Flucht aus | |
den Fängen des IS als Flüchtling nach Deutschland kam und im vergangenen | |
Sommer für Schlagzeilen sorgte, weil sie in Schwäbisch Gmünd nach eigenen | |
Aussagen ihrem Peiniger vom IS begegnet war. Sie kehrte zwischenzeitlich | |
freiwillig in den Irak zurück. Anderen Jesidinnen in Deutschland droht | |
dagegen die Abschiebung. | |
Die Frauen und Kinder, die sich bis heute in Gefangenschaft befinden, | |
werden in Syrien vermutet, an dem letzten Flecken des Bürgerkriegslands, | |
der noch in den Händen des IS ist. Einige könnten auch in der Türkei sein, | |
weil ihre Peiniger vom IS dorthin geflohen sind und „ihre“ Jesiden | |
mitgenommen haben. Und es kursieren Gerüchte, dass ein Teil der Jesiden | |
zusammen mit IS-Familien als Flüchtlinge getarnt in den | |
Unterbringungslagern rund um Mossul und in Nordsyrien ausharren. Doch dafür | |
gibt es keine Belege. | |
Bei der Suche nach ihren Vermissten sind die Verwandten fast gänzlich auf | |
sich allein gestellt. Um sie ausfindig zu machen und zu befreien, sind die | |
Familien auf Schlepper angewiesen. Einer von ihnen ist Abdullah Shrim. Er | |
ist selbst Jeside aus Sindschar und musste 2014 vor dem IS fliehen. Früher | |
hat Shrim als Imker gearbeitet, eine Zeit lang auch als Händler in Aleppo. | |
Doch als der IS Sindschar überrannte, habe sich sein Leben fundamental | |
geändert, erzählt er, während er auf einer Matratze in einem Haus außerhalb | |
der kurdischen Stadt Dohuk sitzt, wo er momentan mit seiner Familie | |
lebt.Ins Geschäft der Jesiden-Befreiung rutschte er zufällig. Auch Shrim | |
hat Angehörige, die sich in Gefangenschaft des IS befinden. Seine Nichte | |
Marwa rief ihn im November 2014 an und bat um Hilfe. Sie war zu dem | |
Zeitpunkt bei einem IS-Kämpfer in der syrischen Stadt Rakka gefangen. | |
Zusammen mit Bekannten aus seinem früheren Leben in Aleppo gelang es Shrim, | |
sie zu befreien. „Ich habe gemerkt, dass ich ein Flair für diese Arbeit | |
habe“, sagt er. Also machte er weiter.Mittlerweile habe er fast 400 Jesiden | |
befreit, „so viele wie niemand sonst“, sagt er stolz. Die meisten davon aus | |
Syrien. Um die Frauen herauszuschmuggeln, arbeitet Shrim mit einem Netzwerk | |
an Leuten zusammen, die sich im IS-Gebiet selbst befinden oder auf dem Weg | |
in den Irak. Denn selbst, wenn ein Kämpfer beschließt, „seine“ Jesidin f�… | |
ein paar Tausend Dollar zu verkaufen, muss sie noch an den Checkpoints des | |
IS vorbei. „Die meisten, die mit mir an vorderster Front in den IS-Gebieten | |
arbeiten, sind Frauen“, sagt Shrim. Ansonsten will er keine Details über | |
seine Arbeit preisgeben. | |
Viele Jesiden fühlen sich im Stich gelassen. Sie haben das Gefühl, dass | |
sich die Welt nicht mehr für ihr Schicksal interessiert. Haji Hamid Tallu | |
ließ im vergangenen Dezember sogar einen Brief ins Englischeübersetzen und | |
schickte ihn an verschiedenen Hilfsorganisationen. Darin bittet er um | |
finanzielle Unterstützung, um seine übrigen Verwandten aus der | |
Gefangenschaft befreien zu können. | |
Die einzige staatliche Einrichtung, die sich für die Befreiung der Jesiden | |
einsetzt, ist ein Büro der kurdischen Regionalregierung in Dohuk. Es wurde | |
2014 ins Leben gerufen und übernimmt in der Regel die Bezahlung des | |
Lösegelds – meist mehrere Tausend Dollar. Allerdings beklagen sowohl Tallu | |
als auch andere, dass sie die Kosten für die Befreiung ihrer Verwandten am | |
Ende häufig doch selbst tragen müssen – weil das Büro kein Geld mehr hatte. | |
Dafür verschuldeten sie sich bei Freunden und Verwandten. | |
Aber auch der Vorsitzende des Büros, Hussein Qaidi, klagt: „Niemand | |
unterstützt uns“, sagt er. „Weder die UNO noch irgendeine Regierung.“ Er | |
wünscht sich mehr Aufmerksamkeit für das Schicksal der vermissten Jesiden. | |
„Für Haider Al-Abadi (ehem. irakischer Ministerpräsident) mag der IS im | |
Irak besiegt sein. Für all jene, die noch in Gefangenschaft sind, ist er es | |
nicht.“ | |
Konkurrenz zwischen Bagdad und Erbil | |
Eigentlich sei die irakische Regierung verantwortlich, das Leben der Bürger | |
zu schützen, und somit indirekt auch verpflichtet, sich um den Verbleib der | |
Vermissten zu kümmern, sagt Belkis Wille, Verantwortliche für den Irak bei | |
Human Rights Watch. „In einem ersten Schritt müssten die Massengräber | |
untersucht werden.“ Die sterblichen Überreste müssten geborgen und die | |
Toten identifiziert werden. Erst wenn klar sei, wie viele Jesiden tot sind, | |
könnte die Regierung in Bagdad Ermittlungen über den Verbleib aller anderen | |
veranlassen. | |
Doch die Verantwortung für die Untersuchung der Massengräber teilen sich | |
die Behörden der irakischen Zentralregierung in Bagdad mit der kurdischen | |
Autonomieregierung in Erbil. Das entsprechende Gesetz Nummer fünf über die | |
Sicherung von Massengräbern stammt aus dem Jahr 2006. Es ist zugeschnitten | |
auf die Aufarbeitung der Verbrechen des Saddam-Regimes. Ein Großteil der | |
Opfer der Diktatur waren Kurden, weshalb die gemeinsame Zuständigkeit | |
gesetzlich festgehalten wurde. | |
Dies erweist sich nun, da es sich bei den Opfern um die Minderheit der | |
Jesiden handelt, als Hindernis. Bis heute konnten sich Bagdad und Erbil | |
nicht auf ein Vorgehen einigen. Die über 60 Massengräber in Sindschar sind | |
bis heute unberührt und ungesichert. Die politischen Rivalitäten führten | |
dazu, dass sich beide Regierungen gegenseitig blockierten. Keiner will dem | |
anderen die Führung in den Untersuchungen überlassen – weil dies einer | |
Anerkennung des Anspruchs auf den Distrikt Sindschar gleichkommen könnte, | |
auf die beide Parteien Anspruch erheben. | |
Für Angehörige wie Hajji Hamid Tallu, die weiter mit der Ungewissheit | |
leben, ob ihre Vermissten irgendwann noch zurückkommen, ist das zermürbend. | |
Und auch für die Aufarbeitung des Völkermords an den Jesiden durch den IS | |
kann dies Folgen haben: Je länger die Massengräber unberührt bleiben, desto | |
schwieriger wird es, mögliche Kriegsverbrechen nachzuweisen. | |
[4][Nadia Murad, jesidische Aktivistin], IS-Überlebende und seit | |
vergangenem Jahr Friedensnobelpreisträgerin, forderte jüngst bei einem | |
Treffen mit dem irakischen Präsidenten ein Sonderteam. Dieses solle das | |
Schicksal der verschleppten Jesidinnen aufklären. Geschehen ist seither | |
nichts. | |
8 Jan 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Kriegsverbrechen-des-IS-im-Irak/!5030931 | |
[2] /UN-Bericht-ueber-Gewalt-im-Irak/!5016020 | |
[3] https://news.un.org/en/story/2017/08/562772-isils-genocide-against-yazidis-… | |
[4] /Friedensnobelpreistraegerin-Nadia-Murad/!5541794 | |
## AUTOREN | |
Meret Michel | |
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