# taz.de -- Angriffe auf Jesiden in Niedersachsen: Kein besseres Leben gefunden | |
> Im niedersächsischen Northeim sollen zwei Jesiden krankenhausfreif | |
> geschlagen und mit vorgehaltener Pistole mit dem Tod bedroht worden sein. | |
Bild: Vom Regen in die Traufe? Jesiden demonstrieren in Berlin | |
BREMEN taz | Viele Jesid*innen sind vor dem Völkermord aus dem Irak | |
geflohen. Sie sind geflohen vor der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS), | |
[1][die die religiöse Minderheit] dort im Namen Allahs versklavt, | |
vergewaltigt, gefoltert und getötet hat. Einige Jesid*innen erleiden nun in | |
Deutschland nach ihrer Flucht weiter Diskriminierungen und Übergriffe – | |
jüngst ist das offenbar in der südniedersächsischen Stadt Northeim | |
geschehen. | |
Der Zentralrat der Jesiden in Deutschland (ZED) machte Anfang der Woche per | |
Pressemitteilung bekannt, dass es in Northeim Übergriffe auf Jesid*innen | |
gegeben haben soll. Der ZED sprach von Angriffen von „fanatischen | |
Islamisten“ und Mitgliedern eines „aus dem Libanon stammenden arabischen | |
Clans“, die zwei Brüder jesidischen Glaubens zunächst krankenhausreif | |
geprügelt und später mit dem Tod bedroht haben sollen. | |
Die mutmaßlichen Täter hätten laut ZED den Jesiden vorgeworfen, sie seien | |
„Ungläubige“ und nähmen alkoholische Getränke zu sich. Daraufhin hätten… | |
die beiden Jesiden derart verprügelt, dass sie mit Kopfverletzungen und | |
Nasenbeinbrüchen eine Woche lang im Krankenhaus behandelt werden mussten. | |
Nach dem Angriff seien erneut zehn Männer zu ihnen gekommen, um sie mit | |
vorgehaltener Pistole zu bedrohen: Sie würden sie töten, wenn sie die | |
Polizei einschalteten. | |
Laut ZED hat eines der mutmaßlichen Opfer mittlerweile aus Angst seine | |
Arbeitsstelle aufgegeben und die Stadt Northeim verlassen. Auch der | |
Zentralrat habe den Opfern empfohlen, zu ihrer Sicherheit in eine andere | |
Stadt zu ziehen. „Uns ist es in erster Linie wichtig, dass das Opfer | |
geschützt ist und Anzeige erstattet, damit der Staat aktiv wird“, sagt der | |
Vorsitzende des jesidischen Zentralrats, Îrfan Ortac, der taz zu den | |
Übergriffen. Zum Schutz des Opfers habe man einen Umzug empfohlen. „Aber | |
natürlich kann es nicht auf Dauer die Lösung sein, dass man bei Problemen | |
wegzieht“, sagt Ortac. | |
## Die Polizei ermittelt auch gegen die Jesiden | |
Die Polizei bestätigte, dass es „in der jüngeren Vergangenheit | |
Auseinandersetzungen zwischen jesidischen und arabischen Personen in | |
Northeim gegeben hat“, so ein Pressesprecher. Dazu liefen mehrere | |
Strafverfahren, wohl auch gegen die Jesiden. Weswegen genau, wollte die | |
Polizeipressestelle aber nicht verraten. | |
Auf erneute Nachfrage bestätigte die Polizei der taz telefonisch weitgehend | |
die Vorgänge, die der Zentralrat der Jesiden geschildert hat. Weitere | |
Details gebe man im laufenden Ermittlungsverfahren allerdings nicht | |
bekannt. Das könnte für Ermittlungen wegen gefährlicher Körperverletzung – | |
gegen die Jesiden möglicherweise wegen versuchter Körperverletzung – | |
sprechen. | |
Ob die Auseinandersetzung in Northeim islamistisch motiviert war, ist der | |
Polizei gegenwärtig noch nicht bekannt. Zum Hintergrund des Übergriffs | |
werde in alle Richtungen ermittelt, heißt es. Auf Basis der bekannt | |
gewordenen Vorfälle habe die Polizei eine Gefährdungsbewertung vorgenommen, | |
den Beteiligten Verhaltenshinweise erteilt und Maßnahmen ergriffen, um | |
weitere Auseinandersetzungen zu verhindern. Unter anderem fahre man an | |
Wohnsitzen und Treffpunkten der Beteiligten regelmäßig Streife und führe | |
Kontrollen durch. | |
Nach Einschätzungen des ZED leben in Deutschland bis zu 200.000 Jesid*innen | |
– viele von ihnen in norddeutschen Städten. 13.000 sollen in Hannover und | |
Celle leben, in Oldenburg, Bremen und Delmenhorst noch mal bis zu 8.000 | |
Menschen. Ähnliche Fälle – Angriffe auf Jesid*innen, aber auch | |
Auseinandersetzungen zwischen Jesid*innen und Muslim*innen – sind [2][aus | |
dem Norden], aber auch [3][aus anderen Bundesländern bekannt]. Mehrfach gab | |
es [4][Schlägereien und Bedrohungen in Unterkünften für Geflüchtete]. | |
Im niedersächsischen Innenministerium hat man von all dem offenbar wenig | |
mitbekommen oder will es nicht wissen: Es habe in jüngerer Vergangenheit | |
zwar einen Konflikt zwischen „Personen mit jesidischem und arabischem | |
Hintergrund“ gegeben. Die Bedrohung im konkreten Fall mittels vorgehaltener | |
Pistole oder ein islamistischer Hintergrund von Übergriffen seien jedoch | |
auch nach Rücksprache mit der örtlichen Polizei nicht bekannt, teilt das | |
Innenministerium zwei Tage nach der taz-Anfrage im Widerspruch zur den | |
Auskünften der lokalen Polizei in Northeim mit. Die Vorwürfe des | |
Zentralrates stehen also offen im Raum. | |
Aussagen über Gewalt gegen Jesiden in der Vergangenheit könne die Behörde | |
nicht treffen: Bei der Erfassung von Hasskriminalität antijesidische | |
Straftaten nicht gesondert registriert. Dem Landeskriminalamt Niedersachsen | |
lägen zudem keine konkreten Erkenntnisse vor, „die eine generelle | |
Erforderlichkeit erhöhter Schutzmaßnahmen für Jesiden in Niedersachsen | |
begründen“, heißt es aus dem Innenministerium von Boris Pistorius (SPD) . | |
## Jesiden werden retraumatisiert | |
Nach Erkenntnissen des Zentralrats handelt es sich bei den Betroffenen in | |
Northeim um Jesiden aus dem Nordirak, die vor vier Jahren vor dem | |
Völkermord durch den IS nach Deutschland geflohen sind. „Viele Jesiden, die | |
im Irak verfolgt wurden und hier erneut Gewalt erleben, werden | |
retraumatisiert“, sagt Ortac. „Eines der Opfer in Northeim soll gesagt | |
haben: ‚Wir sind aus religiösen Gründen verfolgt worden und geflüchtet. Und | |
jetzt kommen wir nach Deutschland in der Hoffnung auf religiöse Freiheit | |
und werden auch hier verfolgt.‘“ | |
Um wirksam gegen dieses Problem anzugehen, müsse man Rassismus und | |
Extremismus auf verschiedenen Ebenen bekämpfen. „Rassismus kommt nicht nur | |
aus einer Richtung, hat verschiedene Gesichter und Auswirkungen“, sagt | |
Ortac. Man müsse aufklären und gleichzeitig Vielfalt betonen. „Aber man | |
darf auch keine Toleranz für Intoleranz zeigen“, so Ortac mit Blick auf die | |
mutmaßlich islamistischen Täter*innen. Bei dem komplexen Problem gebe es | |
keine Masterlösung. Aber sowohl die Politik als auch die Zivilgesellschaft | |
müsse auf allen Ebenen dazu beisteuern und Vielfalt stärker leben. | |
16 Nov 2018 | |
## LINKS | |
[1] http://www.hamburg.de/contentblob/6271994/21807c33b23c0f8e930ad75a1da7753c/… | |
[2] /!5035695 | |
[3] https://www.waz.de/archiv-daten/wurden-jesiden-aus-herne-vertrieben-id20946… | |
[4] https://www.welt.de/politik/deutschland/article155573005/Massenschlaegerei-… | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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