# taz.de -- Im Nordirak festgehaltene ReporterInnen: Unbequeme Aufmerksamkeit | |
> Zwei europäische JournalistInnen wurden Mitte April im Nordirak | |
> festgenommen. Sie hatten zu der Lebenssituation der JesidInnen | |
> recherchiert. | |
Bild: Als die Terrormiliz IS die Region Shingal attackierte, flohen viele nach … | |
Berlin taz | Am 20. April werden die deutsche Aktivistin und Medienmacherin | |
Marlene F. und ihr slowenischer Kollege Matej K. an einem Checkpoint in | |
Shingal, einer historisch von JesidInnen bewohnten Region im autonomen, | |
kurdisch regierten Nordirak, festgenommen. Tagelang hört man nichts von | |
ihnen. Neun Tage nach ihrem Verschwinden wird schließlich bekannt, wo die | |
beiden festgehalten werden: in einem Geheimdienstgefängnis in Baghdad. | |
Die 29-jährige Marlene F. dokumentierte seit Dezember 2021 für ein | |
Filmprojekt des Berliner JournalistInnen-Kollektivs [1][Leftvision] die | |
Lebenssituation der JesidInnen im Nordirak und ihr eigenes politisches | |
Engagement. „Es begeisterte sie besonders, dass die Menschen im Shingal | |
nach 2014 begonnen haben, eine Selbstverwaltung aufzubauen“, erzählt Malte | |
B., ein Freund und Mitbewohner von Marlene. | |
Im August 2014 marschierte der selbsternannte Islamische Staat (IS) in den | |
Nordirak ein. In einer mehrwöchigen Kampagne ermordete er Tausende | |
JesidInnen, meist Männer und Jungen. Die Frauen und Mädchen von seinen | |
Anhängern entführt, versklavt und vergewaltigt. Die Armee der Autonomen | |
Region Kurdistan – die Peshmerga – floh. Ebenso die irakische Armee, die | |
den JesidInnen ihrem Schicksal überließ. Nachdem das Gebiet 2014 | |
zurückgewonnen wurde, [2][gruppierten sich Überlebende zur YBS] | |
(„Widerstandseinheiten Shengal“) – mit Unterstützung der PKK, einer als | |
Terrororganisation geltenden kurdischen Miliz, und der YPG, einer | |
kurdisch-syrischen Miliz. | |
„Eines fürchten die JesidInnen bis heute: Dass sie äußere Kräfte – wie … | |
irakische Armee oder die Peshmerga – wieder alleine lassen, so wie 2014“, | |
sagt [3][Meghan Bodette] vom Kurdish Peace Institute. Die YBS besteht daher | |
bis heute. | |
Trotz der angespannten Lage entschied sich Marlene für die Reise nach | |
Shingal. Ihre Mutter Lydia F. sagt: „Sie war schon immer ein sehr | |
engagierter Mensch“, als Kind habe sie dem US-Präsidenten einen Brief | |
geschickt mit der Bitte den Krieg im Irak einzustellen. Ihre Tochter sei | |
stark, betont sie. Um durchzusetzen, dass ein Mitglied der deutschen | |
Botschaft sie im Gefängnis besuchen dürfe, habe sie zwei Tage die | |
Nahrungsaufnahme verweigert. Lydia F. hofft nun, dass der Irak Marlene | |
einfach nach Deutschland abschiebt. | |
## Die Botschaft selbst schweigt | |
Das „Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit“, [4][Civaka Azad, | |
schreibt], dass Marlene wohl „Terrorunterstützung“ vorgeworfen wird. Doch | |
[5][Mohammed Koperly], ein von der deutschen Botschaft in Baghdad | |
vermittelter Anwalt, der Marlene gegenüber dem irakischen Staat vertritt, | |
dementiert das. Noch sei nicht bekannt, was genau ihr vorgeworfen wird, | |
betont er. Ob sich Lydias Hoffnung erfüllen könne, sei daher unklar. | |
Zu den Vorwürfen gegen ihren slowenischen Kollegen und Mit-Gefangenen Matej | |
K. gibt es bisher keine Angaben. Slowenien [6][unterhält keine | |
Auslandsvertretung im Irak], ein Antrag, dass die deutsche Botschaft ihn | |
mitrepräsentieren darf, läuft laut Lydia noch. Die Botschaft selbst wollte | |
sich auf Nachfrage der taz nicht dazu äußern. | |
Dass der irakische Staat mediale Aufmerksamkeit in Shingal, und damit auch | |
die Arbeit von Marlene F. und Matej K., fürchtet, ist für [7][Dastan | |
Jasim,] die über kurdische politische Bewegungen promoviert und derzeit in | |
der irakisch-kurdischen Großstadt Suleimanyah lebt, ganz logisch. Am 18. | |
April begann die Türkei eine neue Offensive im Nordirak und Nordsyrien, | |
nach eigener Aussage gegen die PKK. | |
Dastan sagt: „ZivilistInnen werden bombardiert, müssen ihre Dörfer räumen, | |
ihr Vieh mitnehmen.“ Jean-Nicolas Beuze, Repräsentant des UNHCR im Irak, | |
[8][twittert]: Seit Beginn der Kämpfe hätten 646 Familien die Region | |
verlassen. Dass es kaum Berichte davon gebe, habe damit zu tun, dass | |
Shingal journalistisches Niemandsland sei, so Dastan. Die Menschen hätten | |
Angst, dass sie wegen des Verbreitens von Informationen Probleme bekommen | |
könnten. | |
Aufmerksamkeit – vor allem internationale – ist das Gegenteil von dem, was | |
der türkische und der irakische Staat nun brauchen. Die Entführung zweier | |
europäischer Medienmachender ist nur die Spitze des Eisberges – aber sie | |
zwingt die internationale Öffentlichkeit, endlich hinzusehen. | |
4 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.leftvision.de | |
[2] https://www.rferl.org/a/islamic-state-yazidi-militias-kurdish-region/270667… | |
[3] https://twitter.com/_____mjb | |
[4] https://civaka-azad.org/irakischer-geheimdienst-haelt-deutsche-journalistin… | |
[5] https://twitter.com/mokoperly?lang=de | |
[6] https://www.gov.si/en/representations/ | |
[7] https://twitter.com/DastanJasim | |
[8] https://twitter.com/jnbeuze/status/1521376848374112257?s=20&t=-9HyiBEm3… | |
## AUTOREN | |
Lisa Schneider | |
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